Donnerstag, 22 Januar 1953

22.1.53

Gedanken zu einem Brief an Walter Jens: Dichtung ist Repräsentation eines höchst Allgemeinen. Ihre Bildwelt ist archetypisch: d. h. sie erwächst aus Grundvorstellungen der Seele, die uns allen gemein sind (durch die wir teil haben an der höchsten, absoluten Realität). In diesem Sinn gibt es keine Verpflichtung auf irgendeine Aktualität. Das Gültige ist immer aktuell (definitione). Nun kommt es aber darauf an, freilich, alles immer mehr, immer unerbittlicher auf das Wesentliche zu versammeln. Denn die Gefahr dieser Methode ist ja, dass sie, wenn die Konzentration des Geistes auch nur ganz wenig nachlässt, statt Gestalten Kulissen errichtet, Leere mit Staffagen verdeckt. Sie verlangt die klarste Skepsis des Dichters ihm selber gegenüber. Damit er das heilige Bild errichten kann: // denn die Kunst ist eine Form der Liturgie: eine sinnenfällig gewordene Bewegung des Geistes auf ein Übersteigendes, Vollkommenes hin. Und diese Bewegung selbst, wie ihre Frucht, das Kunstwerk, ist eine Abbildung, ein Abglanz des Übersteigenden, Vollkommenen.

02 Denn das Wesentliche verändert sich nicht: es kann in der Veränderung der Konstellation der Weltelemente verändert erscheinen – darum gibt es immer wieder neue Kunstformen und Kunstmittel – aber die Kunst selbst, ihre Gesetze verändern sich nicht. Das Schwierige freilich besteht darin, das zuzeiten Verwirrende, dass wir diese Gesetze zwar erforschen müssen, dass uns die Verantwortung gegen uns selbst, die Notwendigkeit über unser Tun uns klar zu werden, uns immer wieder zu dieser Erforschung zwingt: dass wir aber nie damit zu Ende kommen werden, dass wir diese Gesetze nie ganz kennen werden, solange wir die Übersicht über das Ganze nicht haben, nicht selber gleichsam Gott geworden sind. So bleibt die Diskussion über die Regeln der Kunst immer offen.

Inhalt: Tagebuchauszüge zur Poetik und zu einzelnen Gedichten
Datierung: 1948 – 1991
Umfang: Ausgewählte Textstellen aus ca. 20 Tagebuch-Heften
Signatur: C-2-a/01 …, C-2-c/01 … (Schachtel 77-79)

Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

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