Notizbuch 1954-55

Inhalt: 57 Entwürfe zu 42 Gedichten, Notate zu szenischen Texten, Motiv-Notizen
Datierung: 14.1.1954 – 3.10.1955
Textträger: Hellbraunes Notizbuch, liniert, Bleistift
Umfang: 130 beschriebene Seiten (S. 94-114 fetter schwarzer Bleistift)
Publikation: Die verwandelten Schiffe (19 Gedichte), GEDICHTE (1 Gedicht), Verstreutes (4 Gedichte)
Signatur: A-5-c/07 (Schachtel 29)
Spätere Stufen: Manuskripte 1954, 1955, Typoskripte 1954, 1955
Kommentar: S. 120-122 Motive zu Gedichten
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften (keine Umschriften bei Prosanotaten)
Kämst nach dem langen Zug
du durch die Wüste zum Meer,
schautest mit geröteten Augen
unter den Freunden umher,
05 deren der eine[,] stürzte mit dem Mund
zum salzigen Wasser: das bittre brennt
mehr noch als der schon gewohnte Durst.
Da hörst du ein Glucksen im Kies,
dein Fuss ist schon nass, du scharrst
und legst in die Feuchte
10 die Hand, und höher steigt der Quell,
du rufst den Gefährten,
die müde drüben wandern lang-
sam gesellt den Wolken am Himmel:
ihnen springt hoch, springt ins Antlitz
15 das befreite Wasser, und alle
trinken nach Lust am Rand von Wüste
und Himmel und Meer.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1954-55
- Details: V. 09 Emendation: und und → und
- Besonderes: Übergang in rhythmische Prosa; Ortsangabe: Tübingen
- Letzter Druck: Verstreutes
- Textart: Prosagedicht
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-c/07
- Seite / Blatt: 003
Floh ich bei Nacht, hab ich
voll Angst die Gassen nochmals
erkannt, die nun ich nimmer mehr sehe,
für diesen Hof mit dem Brunnen,
05 die ganze Stadt gab ich
für den Hof mit dem Brunnen.
Nur so ist es inmitten der Stadt,
inmitten der Gassen so einsam,
der Hof mit dem Brunnen,
10 dafür ich die ganze Stadt gab,
die nun nimmer ich sehe,
davor ich zuschlug die Tür,
als ich voll Angst die Gassen
nochmals erkannte, fliehend bei Nacht.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1954-55
- Letzter Druck: Die verwandelten Schiffe 1957
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-c/07
- Seite / Blatt: 004
Floh ich bei Nacht durch die Gassen,
die nun nimmer ich sehe, voll Angst,
die ganze Stadt gab ich für diesen Hof mit dem Brunnen
mitten in Blumen: denn hier nur ists einsam.
05 Aber schon wartet am Rand des Brunnens
mitten in Blumen der Greis mit dem dunkel verschleierten Antlitz.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1954-55
- Letzter Druck: Die verwandelten Schiffe 1957
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-c/07
- Seite / Blatt: 005
Schwebst du, Biene, hinein
in die Blüte, wo dir aus den Bättern entgegen
weit schlägt der Duft, verkündigend
duftend den Stempel,
05 den unter den Blättern der Blüte verborgnen,
den nur der Duft aus den Blättern dir anzeigt:
Fährst du, Schiffer, hinein in die vorhingeworfenen Inseln,
leuchten dir zu von weitem ins
Meer die Flammen aus den höchsten Grotten des Berges:
Bienenschiff tauchst du hinein in die Blütenränder
des Vorlands,
10 schlagen dir weit in die Luftsee die Flammendüfte des Stempels,
aus den Grotten der Höhe die nächtlichen Flammen entgegen.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1954-55
- Details: V. 02 Emendation: d. → den
- Besonderes: Notiz (S. 130): Der Blumenstempel, der, in den Blättern verborgen, sich nur im Duft zu erkennen gibt.
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-c/07
- Seite / Blatt: 006
Auf und nieder schaukle ich mit dem weissen
zottigen Hund,
bald ist oben der Hund, schaut auf mich
herab und schüttelt die Haare,
bald sieht er von unten herauf,
05 jaulend, und fährt wieder aufwärts
Auf und nieder schaukle ich mit dem zottigen Hund,
und du sitzest wie schauend dabei, blinde Greisin,
verhüllt auf dem Rande des Brunnens:
wenn er dich sieht, heult auf der zottige Hund:
sonst aber schaukelt er fröhlich auf
10 und nieder mit mir, schüttelt die Haare
und jault, wenn er mich ansieht von unten.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1954-55
- Letzter Druck: Die verwandelten Schiffe 1957
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-c/07
- Seite / Blatt: 007
Ihn zieht im Saal hinweg über
die Liegenden, die andern an den Wänden
hinabgeglittenen Tänzer das Fenster,
schon wenig erhellt, den ersten Schleier
05 vom schneller drehenden Wirbel,
vom nun in die Winkel mit
halbleeren Gläsern, mit gehäufter Asche und Stummeln
schnell leuchtenden Sprung,
der schnell aufhebt und weht die an den
10 Wänden hinabhängenden, sinkenden andern
Tänzer hinein in den Saal,
der tanzend fährt und ohne
zu achten in den ihn nun ganz, den verzückten,
entblössenden Morgen.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1954-55
- Details: 03 Emendation: Tänzern → Tänzer
- Besonderes: z. T. Schwanken zwischen Versen und rhythmischer Prosa
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-c/07
- Seite / Blatt: 008
Geh zuerst ich hinaus zur Grenze des Dorfes
am Strom in das äusserste Haus,
dass mir die Stimme des
Nachbarn nicht schrecke des Morgens weg
05 die schon im frühen Licht
blassere Taube,
Geh ich alsdann hinauf in das Grab jenseits
hoch überm Wasser im Felsen, dass mir die Stim-
me des Fährmanns nicht locke des
10 Mittags weg die vom einzigen Strahl der
durchs Dach tropft blassere Taube,
grab ich mich ein in den Boden jenseits des Tals,
dass mir die Grille hinweg nicht zirpe
des Abends die schon in der Milchspur des
15 Monds hoch am feuchten Gewölk blassere Taube.
Nun aber winseln am Tag, nun schrein in der Nacht
die Schakale,
von oben herab wo ich die Taube nicht finde in meine tief // 010
unter der Erde verschlossene Höhle.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1954-55
- Details: V. 15 Gewölk] ev. Gewölb
- Besonderes:
Schwanken zwischen Vers und rhythmischer Prosa
Wiedergabe: Zeilenumbruch folgt dem Textzeugen - Letzter Druck: Die verwandelten Schiffe 1957
- Textart: Prosagedicht
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-c/07
- Seite / Blatt: 009, 010 (oben)
Neugebornes Kindlein singt: Vogel Strauss
wirft hin ein Ei,
draus ein Lamm ein Löwe springt,
kosend liegen sie sich bei,
05 während schnell aufwuchs die Zeder,
auf dem Wipfel wippt die Feder
Vogel Strauss ob höchstem Berg
ruft und hell der Ruf gelingt:
Neugebornes Kindlein singt.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1954-55
- Letzter Druck: Verstreutes
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-c/07
- Seite / Blatt: 010
Dass aus den Quallen,
aus dem Wogenwühlen,
herangewühlt ans Land
der tote Fisch,
05 der dunkle Fisch,
nach langem Wandern durch die Ozeane
an dieser Insel Ufer
aus dem Maul entlässt verschlammt,
und ganz in Quallen fallend auf den Sand
10 den Knaben, den die Leute
zaghaft, nahetretend,
aus dem Gestank geborstnen Bauchs befrein.
Sie dachten, dass er in der Blume käme,
die still her schwämme in der hellen Nacht:
15 er sässe sinnend mitten in der Knospe,
die spränge über seinem Haupte auf.
Und nun erschreckt sies,
dass er in dem Fisch,
dem grossen Leichnam, den die Stürme bringen,
20 herankommt,
ganz im Stank und Schleim des Magens [der], // 012
der lächelt nun und geht
voran zur Stadt zurück,
als ihn die Weiber wuschen.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1954-55
- Besonderes:
Notiz (S. 130):
Der Knabe steigt aus einem toten Fisch, der ans Land geschwemmt wird, oder aus einer Blume, die sich auf dem Wasser schwimmend öffnet. Oder: Der Fisch trägt einen Toten ans Land. - Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-c/07
- Seite / Blatt: 011, 012 (oben)
Der efeubekränzte Jüngling kommt trunken in eine Felsenhalle tief im Meer. Er grüsst. Die Najaden, berauscht, geraten in Verzückung und beginnen vor ihm einen Tanz. In dessen Verlauf sie eine Blume vom Gewölbe pflücken und ihm übergeben. Die Blume zieht ihn aufwärts. – Die Halle und das Meer versinken, er, ernüchtert, still, steht auf dem Platz der Stadt und, sein Gesicht in die Blüte senkend, wird erfasst von neuem Wahnsinn, lässt die Blume fallen und eilt hinauf auf einen Felsvorsprung am Rand der Stadt, springt hinab. Die Meermädchen, aufgetaucht, grüssen ihn als den Vogel, als der er, verwandelt, // 013 über sie wegfliegt. – Unterdessen hat das Mädchen die Blume aufgelesen und in einem Korb davongetragen, geht damit durch einen unterirdischen Gang, tritt hinaus in den Hain: wie sie den Korb öffnet, fällt auch sie vom Duft in Wahnsinn, stürzt weg, schon brennend, bis sie der Faun ergreift und davonträgt, denn der Duft ist Flamme geworden und lässt den Hain rot brennen, während der Rest der Bühne allmählich dunkel wird, Chor der Najaden, wechselnd mit dem darüber hinfliegenden Vogel.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1954-55
- Besonderes: Vgl. Notizbuch 1952-54, "Die Blume"
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Prosanotat
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung, Letzte Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-c/07
- Seite / Blatt: 012, 013
- Textverweis: Die Blume
Wenn die Uferwohner öffnen
der grossen, angeschwemmten
Blume Blätter,
die des Morgens liegt im Sand
05 zwischen ihren Booten,
so finden sie ganz mitten drin
den toten Knaben.
Und aus dem Bauch des toten[,]
Fisches, der am Morgen auf dem Sand
10 zwischen ihren Booten liegt,
wenn sie ihn öffnen, steigt der lichte Knabe,
aus dem Gestank des Fisches,
duftend steigt der Knabe.
In der Nacht schwimmt still
15 heran die grosse Knospe:
und ihre Blätter brechen auf
und breiten langsam hin sich auf
das Wasser, // 015
sodass der Knabe, der inmitten
20 schlafend sitzt, erwacht
und aufhebt das Aug,
den Strand sieht mit den Hütten
und die erstaunten Schiffer.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1954-55
- Details: Ortsangabe: Luzern
- Besonderes: Vgl. die Vorstufe Der Knabe im Fisch
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-c/07
- Seite / Blatt: 014, 015
- Textverweis: Der Knabe im Fisch (a*)
Dein Schreien, Mädchen,
ertrinkt, erlischt,
übertönt vom lauten,
lauter rasenden Singen
05 der Tänzer, die dich
umkreisen und drängen,
kreisend, kreisend hinein
in die Grube inmitten der Lichtung,
wo du endlich
10 am Schluss des Festes,
wenn die Helle schon kommt,
stürzest unter dem lautesten Lied
selber versinkend, verstummst,
und über dir der nun auf einmal
15 gestillten Tänzer schwärmend,
in den Morgen schwärmend Gewimmel.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1954-55
- Besonderes:
Ortsangabe: Tübingen
Notiz (S. 130):
Das Mädchen steht in der Mitte der tanzend Kreisenden und wird im sich verengenden Reigen allmählich in die tiefe Grube gedrängt. Sein Schreien übertönt der Gesang der Tänzer. - Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-c/07
- Seite / Blatt: 016