Notizbuch 1979

Inhalt:145 Entwürfe zu 110 Gedichten (4 Endfassungen)
Datierung: 1.6.1979 – 19.8.1979
Textträger: Grünes Notizbuch, grau-schwarze Tinte
Umfang: 142 beschriebene Seiten (+ U2, U3)
Publikation: Reduktionen (101 Gedichte)
Signatur: A-5-g/01 (Schachtel 29)
Spätere Stufen: Manuskripte 1979, Typoskripte 1979
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften
Notizbuch mit grünem Einband; Eintragungen mit spitzer Feder, schwarze Tinte;
auch U2 beschrieben
Gedichte alle übertitelt, meist mit starken Korrekturen und z. T. mehreren Fassungen
Besonderes Merkmal: ab 12. Juli 1979 Tilgung aller aktiven Verbformen
Gedichte I.
01 Als ein schwarzer riesiger Leichnam ohne Kopf schwimmt die Sonne am Firmament.
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02 „ … denn was liegt der Wassertiefe unten an der Sicherung und grenzenlosen Dauer der aus ihr aufgeblühten Ichgestalt?“
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03 Das Gleichgewicht immer wieder nach allem Durcheinanderschütteln, auf einer neuen Ebene wiederhergestellt.
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04 „Quirlt man gesteigertes Leben, so quirlt man sich auch gesteigerten Tod.“
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- Details
- Konvolut: Notizbuch 1979
- Besonderes:
Zitate aus: Heinrich Zimmer: Maya der indische Mythos (1936), Gesammelte Werke, Bd. 2. Zürich 1952 (zit. nach gutenberg.spiegel.de)
zu 01: vgl. Kap. 5 Der Löwenmannda ersteht die Maya eines Weltunterganges, der Mond steht still, die Sterne taumeln durcheinander, die Sonne schwimmt als Leichnam ohne Kopf am Himmel – es ist keine Zeit mehr, und die Welt vergeht.
zu 02: vgl. Kap. 4 Die Quirlung des Milchmeers
Aber ein Trieb, sich grenzenlos zu sichern, stellt sich der tieferen Einsicht, wie brüchig alle Möglichkeit der Sicherung sei, mit kreaturhafter Kraft entgegen. […] Erfahrungsweisheit und Erziehung, das ganze Reich des Bewußtseins und des kausalen Denkens dient dieser Selbstbehauptung, diesem Dauernwollen durch Sicherungen. Aber der Mythos als Organ des Unbewußten steht diesem Zug zur Sicherung, sosehr das Unbewußte ihn auch kennt und fördert, mit tiefer Ironie gegenüber, denn was liegt der Wassertiefe unten an der Sicherung und grenzenlosen Dauer der aus ihr aufgeblühten Ichgestalt?
zu 04: ebd.
Einzig Schiva ist imstand, das Todesgift zu trinken. Es war im kreisenden Meere des Lebens rings verteilt, so verteilt wie sein Gegenteil, denn Leben ist Sterben und Sterben Leben, mit jedem Pulsschlag ineinander fließend – es war verteilt, aber quirlend haben Götter und Dämonen seine Quintessenz zusammengebracht. Quirlt man gesteigertes Leben, so quirlt man sich auch gesteigerten Tod – wie könnte das anders sein? Denn Gleichgewicht, das sich bei allem Schwanken der Schalen und im Wechsel ihrer Gewichte immer wieder einstellt, und der Übergang von Gegensätzen, die sich aufgerissen haben, zu ihrer völligen Einebnung bezeichnen den Wandelgang des Alls. - Letzter Druck: Reduktionen 1981
- Textart: Prosanotat
- Datierung: fehlt
- Fassung: Zwischenfassung
- Signatur: A-5-g/01
- Seite / Blatt: U2
Unten
zuunterst im Brunnen
plötzlich die gleissende Weite.
Segel gleiten neben den Schwänen,
05 über die Fläche aus Silber.
Doch herauf durch die Ritzen
dampft das Blut des
geschlachteten Opfers.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1979
- Details: V. 05: Emendation: Fläche. → Fläche
- Letzter Druck: Reduktionen 1981
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: A-5-g/01
- Seite / Blatt: 001
War doch da nur eine Wolke.
Aber der Mond stürzt
schwarz und donnernd hindurch.
Wo, wo, wenn er nach seiner Ankunft
05 da liegt geborsten und farblos,
blieb der lämmerweidende Schimmer?
Nur eine Wolke.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1979
- Letzter Druck: Reduktionen 1981
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: A-5-g/01
- Seite / Blatt: 002
Durch die Zweige
schaut es hervor und senkt
langsam die Lider,
schwarz, voller Trauer. // 004
05 Aber das Licht, das von den Blättern
auf die Wimpern herabtropft,
ist wie ein Lächeln.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1979
- Letzter Druck: Reduktionen 1981
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: A-5-g/01
- Seite / Blatt: 003, 004 (oben)
- Werke / Chronos: Dieses enorme Gedicht, 38-43
Gefunden, verloren im Moos
unter den Blättern gefunden
unter dem feuchten
Boden verloren, unter
05 dem Laub, unter dem Gras, den // 005
verwelkten Blumen gefunden, in der
unzugänglichen, in der unerreichbaren
Höhle, dem Loch unter der Erde, dem
von der Ebene verlorenen Ort unter
10 dem Frühling, dem Sommer, dem Herbst
und dem Winter verloren, unter
dem Krieg und dem Frieden und unter
Leben und Tod und Diesseits und // 006
Jenseits gefunden, unter
15 Fastenzeit und Advent und Ostern
und Pfingsten verloren. Da unten
unzugänglich und unerreichbar und doch
unverrückbar und immer sicher und immer
ganz in der Mitte.
20 unter Gestein und Felsen und unter
Vulkanen und unter dem Meer // 007
und unter Strömen und unter
Städten irgendwo ungewiss und doch
mehr als alles andre gewiss und sicher und
25 immer da und immer abwesend und immer vorhanden
verloren, gefunden.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1979
- Besonderes: Letztes, auf freiem Platz eingetragenes, über 4 Seiten verteiltes Gedicht (am 20.8. Beginn der Manuskripte)
- Letzter Druck: Reduktionen 1981
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: A-5-g/01
- Seite / Blatt: 004, 005, 006, 007 (je unten)
Brechungen sind und Splitter
allüberall. Doch die Bäche am Ende
streichen
weich über seidige Kiesel.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1979
- Letzter Druck: Reduktionen 1981
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: A-5-g/01
- Seite / Blatt: 005 (oben)
Schliefe nicht unten ein Wort
und wartete, dass es erwachte,
was führen wir oben so lange
herum im tangigen Plankton?
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1979
- Letzter Druck: Reduktionen 1981
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: A-5-g/01
- Seite / Blatt: 006 (oben)
Und die schweren Gedächtnisse fallen
zu allen längst verlorenen andern
hinab in den Abgrund:
Aber die weissen leichtfertigen leichten
05 Wünsche steigen wie Tauben,
von den Schatten geweckt,
ihnen entgegen, vorbei
und bleiben allein
oben und kichern.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1979
- Letzter Druck: Reduktionen 1981
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: A-5-g/01
- Seite / Blatt: 007 (oben)
Wenn die erste verletzt
und wenn die zweite, die dritte
wieder verletzt,
so wirst du doch, ehe die letzte
05 tötet,
den Duft von der heissen
Mauer pflücken, alle die Blüten
wirst du pflücken in Eile,
ehe die letzte.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1979
- Letzter Druck: Reduktionen 1981
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: A-5-g/01
- Seite / Blatt: 008
Oder wenn die Schleusen
aufgehn auf einmal
und das Wasser
strömt und das Wasser
05 strömt, strömt,
dann fahren die Schiffe von selber,
und tragen dich auf dem Verdeck
stromabwärts und übers Meer,
wohin sie wollen, im Schlaf.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1979
- Letzter Druck: Reduktionen 1981
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: A-5-g/01
- Seite / Blatt: 009
Aus dem Offenen, Warmen
unvermerkt kommst du
in den schläfrigen, leeren
Hafen: der Deckel
05 schlägt zu, in der Falle
beginnt es zu regnen.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1979
- Letzter Druck: Reduktionen 1981
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Signatur: A-5-g/01
- Seite / Blatt: 010
Wolkenballen bewahren
ihre Gewitter.
Polster aus Gras
samten und voll von
05 Kindheitsnachmittagsschlaf.
O und der Dom
über der steinernen Brücke, darunter
das Wasser, das Wasser.
Aber es ist nur ein Tropfen, der fällt
10 und alles enthält.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1979
- Letzter Druck: Reduktionen 1981
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: A-5-g/01
- Seite / Blatt: 011