Inhalt: 101 Typoskripte zu 101 Gedichten )
Datierung: 1979 (nur Mappe datiert)
Textträger: Einzelblätter (A4-Format)
Umfang: 209 Bll (A4)
Publikation: Reduktionen (101 Gedichte)
Signatur: A-5-g/03 (Schachtel 41)
Herkunft: Grüne Mappe G 79
Kommentar: Beschreibung; Gedichtliste
Wiedergabe: Edierte Texte; Raebers eigenhändige Blattnumerierung (1-101) wird unter der Rubrik "Textnr" (mit führenden Nullen) aufgeführt
Wenn sich in vielen meiner frühen Gedichte, deren letzte vor sechzehn Jahren veröffentlicht wurden, eine Menge von Weltstoff aufgehäuft hatte, so ist das hier alles wieder abgeräumt. Nichts mehr oder nur noch Spuren von dem Mobiliar der Historie, der Mythologie und der technischen Zivilisation. Nur noch die paar alten Bilder, die seit jeher in mir lagen und jetzt in diesem poetischen Sommer 1979 nach der glücklichen Vollendung einer grossen und schweren Arbeit wieder heraufdrangen. Und auch das grammatikalische Gerüst der früheren Gedichte ist nicht mehr da, die Sätze, soweit es sie überhaupt gibt, sind ganz einfach. Mehrenteils bestehen diese kurzen Stücke aus Substantiven und Verben in ihrer Grundform. Adjektive und Adverbien sind der einzige Luxus. Hinter dem Ganzen steht die Vorstellung einer Musik der Worte, der schwebenden Assoziationen.
Diese Gedichte, die ersten nach einer Pause von siebzehn Jahren, sind Reduktionen: Erfahrung der Natur, der Geschichte, des Mythos, von allem Beiwerk befreit, zurückgeführt auf jähe Gesichte und Klänge, wie sie der Augenblick gibt.
02 Diese Gedichte<,> die ersten nach einer Pause von 17 Jahren<,> sind, soweit sie nicht im Gedanklichen bleiben, Reduktionen: sie halten [sie] von den Gegenständen der Welt nur die Vision, den Klang eines Augenblicks der Begegnung fest. Natur, Mythos, Geschichte sind zurückgeführt auf ein paar Grundfiguren. In ihrer Kargheit mögen sie zuweilen an Rätselsprüche erinnern.
Erhaben und
beladen mit Schmuck mit
Geschmeide und Steinen
über der Wüste.
05 Und dann die Düne und nur
noch eine kleine Erhebung. Der Falter
winzig und weiss in den Gärten
jenseits des Flugsands.
Kraut des Vergessens. Und dann
noch eine bunte
Scherbe im Sand am
breiten Strand des Vergessens. Nebel
05 über dem Wasser und nirgends
ein anderes Ufer.
Führe ich an dich heran und
stiesse dich nieder und
zertrampelte dich und
zermalmte dich und zerstreute in alle
05 Winde den Staub:
Kaum höbe ich meinen Kopf wieder auf, siehe,
du stündest wiederum da, riesig,
und auf deinen Lippen die leise
Andeutung eines
10 belustigten Lächelns.
Am leeren Strand der Schläfer
ungestört vom Knirschen
der Kiesel am leeren
Strand und ungestört vom
05 weissen
Klirren des Lichts
der Schläfer am leeren…
Und in der Grotte der Donner
der Woge im Ohr
der Sarg aus Gold in der Grotte
im Ohr der Donner der Woge
05 im Ohr in der Grotte
der Sarg in der Woge
im Ohr.
Immer weisser
der Gletscher. Die Stille
glühend im Zenith.
Die Stille.
Die Wüste.
Das Echo des Lichts.
Der Wüste
05 Echo Gedröhn.
Unter der Glut
rasende Rosen.
Der Wind.
Schatten nur in den weissen
05 Zelten. In den Zelten
die Stille.
Abgeworfen der letzte
Ballast und blauer
die Schluchten.
Der Schwindel.
05 Heiss die Sonne.
Heisser.
Schneeweiss.
Und durch die Wälder
hinauf und durch die Matten
hinauf und durch das Geröll
hinauf und dann die Fläche
05 und dann der Schnee
und dann der eisige Wind und weit
in der Tiefe erstarrt
steinalt das Meer.
Und überhaupt
das Summen im Gras und
die Käfer und das
Brummen der Hummeln und
05 von den Flugzeugen nur das leise
Beben des Bodens
am Ohr.
Woge golden heran und
golden heran und nochmals
heran und golden
die Scheibe des Fensters.
05 Lautloses Klirren.
Erloschen.
Fensterflügel. Erstarrte
Falter. Der Wind.
Die Erweckung.
Gib acht.
Tot der Vogel
auf dem Wasser und schwarz. Und schwarz
und tot der Hund auf dem Strand.
Doch der Felsen am Rand
05 silbern im Abend. Am Abend
tot der Weisheit
letzter Schluss im Wasser und tot
der Weisheit letzter Schluss
und schwarz auf dem Strand.
10 Doch silbern am Rand.
Aufgerissen die Stadt
von den Stufen der Treppe
aufgerissen die Mitte der Stadt
von oben bis unten
05 aufgerissen die Mitte der Stadt
von den Stufen der Treppe
von oben bis unten
aufgerissen ins Meer.
Wind im Winter. Des Sommers
Gedächtnis. Der Baum
eine Wolke und voll
von Düften. Doch jetzt
05 im Winter im Wind
ausgelaufen leer
gewendet nach innen.
Regenbäche.
Die gläserne Kugel.
Drinnen trocken
unverändert die Stille.
05 Unverändert
drinnen
das Licht.
Drinnen der Sommer und drinnen
der Schlaf auf dem Nachen.
Draussen der Winter und immer
im Winter draussen erwachen.
Wo nur da unten die Gärten
wo nur die Bäume gespiegelt
still in den Weihern?
Der Gang durch die Grotten das Knirschen
05 der Kiesel im Finstern. Wie lang schon
vergessen wie lang schon das leuchtet vergessen
das immer leuchtet
das Licht?
Boote von Grotten
angesogen. Doch unten im Grund
die Spiegelung schimmernd des Fischs
der vor Äonen
05 oben vorbeischwamm.
Unverändert die Wälder die Weiher.
Unverändert die schwimmenden Rosen.
Die schwimmenden Rosen
die Weiher
05 die Wälder
unverändert.
Verändert.
Die Totenstadt auf der Klippe.
Die jähe
Klinge des Leuchtturms.
Aber unten im Dunkel die sanfte
05 Brandung. Sanft
die Zikaden.
Das Licht oben am Kai.
Das Dunkel unter der Brücke.
Gewicht.
Die Spiegelung des Lichts
05 oben am Kai
auf dem Wasser
unter der Brücke.
Der Schatten des Dunkels
unter der Brücke
10 auf dem Pflaster
oben am Kai.
Gegengewicht.
Reglos liegen im seichten
reglosen Wasser reglos
in der unmerklich
wandernden Sonne.
05 Warten auf den Fisch mit der Münze im Bauch
auf die Taube mit der Botschaft im Schnabel.
Warten auf die Woge die fasst auf die
Woge die fortträgt.
Und liegen und warten.
Der Halle entlang
lange entlang und dann durch die helle
Tür und dann die Stufe
hinunter ins Wasser. Der Welle
05 entlang lange entlang. Den Trümmern der Boote
entlang und den Rudern und den Planken der Boote
entlang. Und dann den Fuss aus dem Sand
und dann den Fuss aus den Wirbeln.
Und dann das Felshaupt im Golf
10 riesig und baumlos entlang und lange
entlang und lange und lange.
Die lange Allee.
Der Platz
steinern und leer.
Der Steilhang
05 jählings zum Fluss.
Auf dem Strand der Kadaver
vom Wasser verlassen. Der Geier
auf der Klippe.
Mit steigender Hitze
05 wacher und wacher. Erwartung
des Mittags. Erwartung der mürbe
bereiteten Speise.
Das Haupt ins Wasser. Und dann
der Wald bis an den Strand. Die flachen
schläfrigen Wellen. Und in den Wipfeln die bunten
Schreie der Vögel.
05 Das Haupt aus dem Wasser. Und dann
wieder nur dieser Tümpel. Im dürren
Schilf das Geschnatter
der Ente. Der Strand die Wellen die Wipfel die bunten
Schreie vergessen.
10 Aber das Haupt…
Über den Bäumen geballt
Drohungen.
Aber gewendet
schon, aber schon
05 silbern die Blätter.
Königinnen
steinern auf ihren Gräbern.
Und in den Gängen die Scheu
unüberwindlich.
Lauschen auf
das Saitenspiel
das ein Liebendes spielt in fernen
Gärten oder ein einsamer
05 Mann lauschen
auf das Schattenbild unserer Erde
den Mond lauschen
auf die Fremdlingin unter den Menschen
die Nacht lauschen
10 die über Gebirges-
höhn und voll mit
Sternen traurig und prächtig…
und lauschen und lauschen.
Gewitter
in Wolkenballen verwahrt.
Polster aus Gras und voll von
Kindheitsnachmittagsschlaf.
05 Der Dom.
Die Steinerne Brücke.
Das Wasser.
Alles
in einem Tropfen.
Weisungen und
strenge Gebote des Winters
mitten im Sommer.
Auf dem warmen auf dem
05 wogenden Atem das Schiff
weiss unbeirrbar.
Hinab mit den Kränzen
in den ertrunkenen Stollen.
Neue
Wurzeln im Dunkeln.
05 Weder Sommer noch Winter.
Zurückzurufen den Berg den eisigen
Aufstieg aus den Oliven aus den
Orangen das Meer das grüne
Hin- und herwälzen im Gischtschaum.
05 Zurückzurufen den Tag und
zurückzurufen die Nacht und die heissen
steinernen Sitze den Mond
grösser und grösser am Himmel das Knistern
der Woge unten unsichtbar.
10 Zurück- und hereinzurufen und gleich
gespiegelt auf der Schale der Kugel
die Ferne die Nähe.
Alles an sich reissen und alles
auffressen und alles
verschlingen. Kein Wehen
im Hain mehr. Drinnen
05 der Hain und drinnen
das Wehen. Und draussen
nichts mehr.
Der Schimmer der Käfer. Die weissen
Schirme schwebend
Verschwendung der Blumen. Gewisper
der Erinnerungen. Die Stunde
05 zwischen drei und vier in der Frühe.
Und der Winter erst recht
eine Täuschung.
Ohne die Prozessionen die Wogen
hereinflutend in den
befestigten Hafen mit Kämmen
gebrochen und weiss
05 steigend und sinkend ohne
die Erinnerung und ohne die zehrende Sehnsucht
dieses Gewebe aus Träumen aus Worten
ohne das Bild
das kein Auge gesehen streng
10 bewacht in der Wüste: wie dann noch weiter
gehen und weiter und immer
weiter gehen
und immer…?
Lider gesenkt
bänglich
zwischen den Zweigen.
Doch von den Blättern
05 herab herab auf die Wimpern
ein Lächeln.
Kanten und Spitzen
überall. Aber bald
Gestreichel. Die Bäche
wie Seide
05 weich über Kiesel.
Und die Gedächtnisse schwarz
zu allen begrabenen andern
hinab. Aber die leichten
leichtfertigen Wünsche
05 weiss
ihnen entgegen hinauf.
Und dann oben allein
noch ein Kichern.
Gefunden verloren im Moos
unter den Blättern gefunden
unter dem Laub unter dem Gras den verdorrten
Blumen verloren in der
05 Höhle unter der Erde an dem verdeckten
verborgenen Ort unter
Geröll und unter
Felsen und unter
Liebe und Tod und
10 Diesseits und Jenseits
gefunden da unten
unzugänglich und unerreichbar
und ungewiss und doch mehr als alles
gewiss und unverrückbar und immer
15 sicher und immer
ganz in der Mitte
verloren gefunden.
Untergetaucht in der Wanne.
Aufgetaucht am Strand bei den Hütten.
Jahrelang das
Schlagen der Woge.
05 Untergetaucht am Strand bei den Hütten.
Aufgetaucht in der Wanne.
Auf dem Sims noch immer der gleiche
Vogel wie eben
aufgeregt pickend.
Entladen an der
Mole beladen. Die Vögel
von Planke zu Planke mit schweren
Flügeln. Der Duft
05 des Heus von den Wiesen
herüber. Beladen
entladen. Herüber
die Nacht von den Wiesen.
Unter dem kalten
Mond immer weiter. Die schwarzen
Nischen im Laub. Und dann das Knistern
das Feuer
05 rot nach der Biegung des Hohlwegs.
Erschlagen im Krater der Hirt.
Die Herde erwürgt
in den steinigen Meeren. Der Hass
unersättlich.
Reglose Bäume
gespiegelt im Weiher
reglos. Immer ein warmer
Nachmittag im Oktober.
05 Versuchung des Todes.
Woher die Furcht von der Kuppel zu reden
der weissen
über dem Grossen Kanal?
Eine Spiegelung nur im gekräuselten grauen
05 Wasser. Mit Namen
nicht zu benennen.
Über die Kronen
Glockengetön. Und der Staub
der Dämmer des frühen
Zimmers
05 drinnen im Mittag.