Typoskripte 1955
Inhalt: 24 Typoskripte zu 23 Gedichten (8 Endfassungen)
Datierung: 1955
Textträger: Einzelblätter (A4-Format)
Umfang: 24 Dossiers zu je einem Gedicht (außer der Doppelung Nr. 8/21)
Publikation: Die verwandelten Schiffe (12 Gedichte), GEDICHTE (1 Gedicht), Verstreutes (2 Gedichte)
Signatur: A-5-c/12 (Schachtel 36)
Herkunft: Rote Mappe 1955 G
Kommentar: Typoskript-Reinschriften (alle gleichartig) mit meist mehreren, z.T. bis 5 Durchschlägen
Texte i.d.R. identisch mit Druckfassung; alle unten mit Jahreszahl 1955 datiert
Wiedergabe: Edierte Texte
Der Flügelfrühling und die zerstreuten
Federblätter liegen unter dem schwarzen
Ameisenschnee ihres Winters,
der auch dies flache Bild auf dem Boden
05 – vom Herbstrad des Autos schnell
aus dem Stoff und der Farbe des Vorbilds gebildet –
noch schmölze: Wenn nicht das vom Rand
der Strasse ausgeworfene Blicknetz des Knaben
es zöge hinein in den Teich
10 der Augen, die jetzt noch blinzeln über
dem Schmatzen, dem Apfelkauen des Munds:
weit noch vom Traum und vom gewittrigen
Sommer, der das Bild vom Grund, wo es lange
bleibt, wenn es hin und her auf der Fläche
15 geschaukelt und endlich hinab
gesunken, künftig einmal von neuem
deutlich und schwarz überwimmelt heraufspült.
- Details
- Konvolut: Typoskripte 1955
- Details: Abweichungen vom Druck: V. 11: Munds] Mundes
- Besonderes: Typoskript; Vorstufe: in V. 10 abgebrochen und durchgestrichen (A-5-c-11_007, Bl. 08v)
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: nur Jahr
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Schreibmaschine
- Signatur: A-5-c/12_001
- Seite / Blatt: 01
Auf dem leeren Kiesplatz
pisst der Torhund.
Die mürrischen Mönche
sassen den ganzen Tag auf dem
05 sorgfältig gekräuselten Kiesplatz
und sahn auf den Feldstein als auf die Welt,
die mitten im All schwimmt:
Doch jetzt pisst hier der Torhund.
Als es am Abend zu schneien begann,
10 drehte einer den Kopf und
rieb am Kragen den Hals,
sodass der Meister ihn mit dem Rohr schlug
auf den geschorenen Schädel:
Doch jetzt pisst hier der Torhund.
15 Inzwischen wards dunkel, und alle
schlurften über den Kiesplatz
mit steifem Genick und
rheumaschmerzenden Gliedern
zurück in die Zellen:
20 Und jetzt pisst hier der Torhund.
Am Feldstein auf dem
endlich von den mürrischen Mönchen geräumten
Kiesplatz verrichtet, würdig gesammelt,
sein grosses Geschäft und pisst jetzt der Torhund.
- Details
- Konvolut: Typoskripte 1955
- Besonderes: Typoskript
- Letzter Druck: Verstreutes
- Textart: Verse
- Datierung: nur Jahr
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Schreibmaschine
- Signatur: A-5-c/12_002
- Seite / Blatt: 01
- Identisch mit: Verstreutes
(Ein hölzernes Dekorationspferd, das auf der Orgel steht, spricht)
Aus der Mitte überm Orgelbrunnen,
wo die Töne in das Becken fallen,
staun ich an die Pferde, die am Rande laufen,
staun ich an die Brüder Pferde, die so eilig laufen,
05 eilig laufen fort und doch sind immer hier.
Immer laufen meine Brüder Pferde,
aber weiter fort ist schon die Brücke,
drauf der Mann mit den Ballonen geht.
Und auch der gelbe Vogel, den mit Schwirren
10 an der Schnur er um den Stab her schwingt,
damit ein Kind ihn noch vor Abend kaufe,
auch er kommt langsam, langsam weiter fort.
Doch ihr, ihr Brüder Pferde, schnaubt und lauft nur schneller,
ihr bleibt doch immer unterm Sturz
15 der Musik von meiner Orgelsäule,
die mit Schäumen füllt des runden Beckens
und mit Ueberschäumen füllt des Gartens Ohr.
Und die Zapfen von den Pinien fallen
ab von Zeit zu Zeit und würzen
20 die Wirbel meiner Wasser, und sie
würzen euren blinden Wirbel, Brüder Pferde,
um den runden, runden Brunnen Karussell.
- Details
- Konvolut: Typoskripte 1955
- Details: V. 14 Korrektur: unter dem Geriesel¿ → unterm Sturz
- Besonderes: Typoskript + Durchschlag mit Tintenkorrektur
- Letzter Druck: Die verwandelten Schiffe 1957
- Textart: Verse
- Datierung: nur Jahr
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Schreibmaschine
- Signatur: A-5-c/12_003
- Seite / Blatt: 01
- Identisch mit: Die verwandelten Schiffe
Unten tief im Brunnen sitzend
habe ich dich gleich erkannt:
als du mir, der ängstlich schwitzte,
ob er nackt und hungrig sitzen
05 bleiben müsse, warfst herab ein Festgewand.
Unten tief im Brunnen sitzend
habe ich dich gleich erkannt:
als du mir mit Seidenlitzen
und mit Steinen, die im Dunkel plötzlich blitzen,
10 warfst herab ein Festgewand.
Soll ich aus dem Schlamm und Sand
mit dem Festgewand dir steigen?
lass mich als mein Herr und Herrscher
hier im Brunnen unten bleiben:
15 Wenn ich aus dem Brunnen stiege,
wie dann bliebe, das du mir herabgesandt,
heil und ganz dein Festgewand?
Wirf mir lieber Brot und Schinken
in den Grund, wo gern ich sitze
20 und mich freu am seltnen Blinken
deiner Seide, deiner Steine –
doch seit Stunden hungrig sitze.
Unten tief im Brunnen sitzend
habe ich dich geich erkannt:
25 als du mir, der nackt vor Aengsten schwitzte,
warfst herab das Festgewand,
warfst herab dann auch die Speise
und zuletzt zur Kletterreise
warfst herab die leichte Leiter:
30 Aber diesen Aufwärtsleiter
will ich nicht. Nach eigner Weise
will ich Brunnenherrscher sein. // 01v
Unten tief im Brunnen sitzend
wink ich dir und lache dir:
35 Bleib allein im trocknen Land.
Schon am eitlen Festgewand
habe ich dich gleich erkannt.
- Details
- Konvolut: Typoskripte 1955
- Besonderes: Durchschlag, doppelseitig beschrieben
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: nur Jahr
- Fassung: Letzte Fassung
- Schreibzeug: Schreibmaschine
- Signatur: A-5-c/12_004
- Seite / Blatt: 01r/v
"Die Aktienmärkte liegen behauptet"
im Wimperschatten des Vogelbaums,
unter dem Puder der Blüten,
die mit dem schmutzigen Bach das Trottoir
05 entlang in den Rinnstein fliessen: wo sie
nochmals, nochmals rötet das Blut.
Die Aktienmärkte liegen nur noch mühsam behauptet,
wenn von der Schneekuppe der Sturmwind
durch die wirren Stimmen des zur Unzeit erregten
10 Glockenspiels herabstürzt und in den
Regenbach, der das Trottoir
entlang in den Rinnstein fliesst, wischt die
von Wochen des Lächelns bräunlich ermüdeten
Blüten zusammen: aber vom Blut
15 sind sie jetzt nochmals gerötet, gerötet.
"Auch der Stahl steht im Markt"
und blinkt im Regen und blutet
aus den Märtyrerleibern, die man
vom Felsen herabwarf und die er
20 magnetisch anzog und auffing.
Der Stahl steht mitten im leeren
Markt, und der Regen wäscht ihm
das Blut der Märtyrer ab und
rötet die von Wochen des Lächelns bräunlich
25 ermüdeten Vogelbaumblüten
nochmals, nochmals im Rinnstein. // 02
Der glockenstimmige Sturm von der Kuppe
hat sie von den Wimpern der Zweige
des Vogels gewischt und die Flügel,
30 die abseits jetzt im Laub stehn,
an Gefieder und Flug plötzlich erinnert.
Aber der Schnabel, begraben,
bleibt aufgesperrt, von der Krume
gesättigt, gesättigt.
35 Und die vom entrollenden
Spielball lange gequälten
Augen betrügt nun der Erdschlaf.
- Details
- Konvolut: Typoskripte 1955
- Details: Titeländerung: der heilige Mauritius und seine Gefährten → Die Zehntausend Märtyrer
- Besonderes: Typoskript + 2 Durchschläge (je 2 Bll)
- Letzter Druck: Die verwandelten Schiffe 1957
- Textart: Verse
- Datierung: nur Jahr
- Fassung: Zwischenfassung
- Zyklus: ja
- Schreibzeug: Schreibmaschine
- Signatur: A-5-c/12_005
- Seite / Blatt: 01, 02
- Identisch mit: Die verwandelten Schiffe 1957
„Und wer in den Schlaf sich stürzen will,
verletzt sich die Füsse an einer Rasiermesserschneide“;
wer aus der düsteren Tür seines Wachens
auf den Lavamittag der Schwelle heraustritt,
05 den schneidet in den nackten Fuss seines Auges
das Messer der Flamme, die von der Kohle
züngelt und den Falter verbrennt:
Die Amselkohle steigt, gemehrt um des Wurms
verhinderten Flug; die Schnabelflamme
10 zittert, unersättlich, jetzt im Gesang
und schneidet nochmals, schneidet jetzt
in den anderen nackten Fuss, den Ohrfuss,
der sich aus der düsteren Tür seines Wachens
nachstürzen will in des brodelnden
15 Schlafmittags Lava.
- Details
- Konvolut: Typoskripte 1955
- Details: V. 08 Direktkorrektur: Winters → Wurms
- Besonderes:
Typoskript + 2 Durchschläge
Zu den Motiven vgl. Raebers Notizbuch-Notate zu Lorca und Musil (NB 1954-55) - Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: nur Jahr
- Fassung: Letzte Fassung
- Schreibzeug: Schreibmaschine
- Signatur: A-5-c/12_006
- Seite / Blatt: 01
- Werke / Chronos: Bd.7, 73 / Dieses enorme Gedicht, 72
Wenn sie sähn, wie die spanische Fahne als letzte die Dockwand
entlang schwebt,
ässen die Damen dann noch Kuchen zum Tee
und läse, den steifen Hut neben sich auf dem Sims, der Bucklige
die Illustrierte?
Als ob nicht die Schiffe die Stadt ins Meer zu tragen begonnen
hätten:
05 Und nur solang man aus den Werften das Schwatzen und Rascheln
laut überhämmert,
um auch das letzte Schiff fertig zu machen,
ist für Kuchen und Tee und fürs Blättern in Illustrierten noch Zeit.
Doch wenn sie die spanische Fahne als letzte die Dockwand
entlang schweben sähen,
rüsteten sie sich schnell zur Abfahrt wie deine Augen, die mich
schon liessen,
10 die der schwarzen Dockwand entlang schwimmen im mittleren
Feld der spanischen Fahne.
- Details
- Konvolut: Typoskripte 1955
- Details:
V. 08 Korrektur (1,2): Aber → Doch
V. 09/10 Korrektur (2): liessen / und → liessen, / die (Korrektur ev. in Druck übersehen) - Besonderes: (1) Typoskript mit Korektur(2) Durchschlag; Bleistiftkreuz vor dem TitelEdierter Text folgt (2)
- Letzter Druck: Die verwandelten Schiffe 1957
- Textart: Verse
- Datierung: nur Jahr
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Schreibmaschine
- Signatur: A-5-c/12_007
- Seite / Blatt: 01
- Identisch mit: Verstreutes
Einmal wird die Mittagskrise so gross sein, dass wir sie nicht
mehr überstehen:
am Tag, wo wir uns nicht mehr am Boden zu halten vermögen
und uns die knisternde klare Allluft ganz wegträgt.
Dann liegt der kleine Spielball für einen Augenblick still,
05 doch nur, um gleich in die Kaminglut zu rollen,
wo er alsbald in Asche zerfällt und aufwirbelt und um das Haupt fliegt,
vor dem wir uns heute mittag schon fürchten,
obwohl es, noch jovial, die Drohung hinter dem lauten Lachschild verbirgt.
Dann endlich lächelt es still, weil es das Spiel bravurös zu Ende
gebracht hat,
10 und sammelt die Bälle zum nächsten Auftritt, der der Allluft den
Atem beraubt.
Dies aber erst nach der Krise, die wir nicht mehr, glaub mir,
nicht mehr gerade noch, wie diesen schon schrecklichen Mittag,
knapp heil überstehen.
- Details
- Konvolut: Typoskripte 1955
- Besonderes: Typoskript + 5 Durchschläge (4 davon unter Nr. 21); Langzeilengedicht
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: nur Jahr
- Fassung: Letzte Fassung
- Schreibzeug: Schreibmaschine
- Signatur: A-5-c/12_008
- Seite / Blatt: 01
Wir wenden uns von der Kasse, wo "Erwachsene achtzig, Kinder vierzig
Pfennige" steht,
den Kranen zu, welche die für einen Augenblick entblösste Sonne benützen,
uns den Hafen als glänzendes Wasser mit zur Lichtfahrt bereiten
Kähnen zu zeigen.
Aber die nächste Wolke verrät schnell den Bauernfang.
05 Und an der Treppe stehn am Sonntag so viele,
und der Aufzug kostet achtzig Pfennige,
was jetzt, am Monatsende, zu viel ist:
Auch wenn der Turm über die holzblinden Fenster der Kirche mit den
geborstenen Simsen
unbeirrt in den Regen, kupferner Baum, grünt. –
10 Wir wollen hier weggehn.
- Details
- Konvolut: Typoskripte 1955
- Besonderes: Typoskript + 6 Durchschläge (4 davon unter Nr. 21)
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: nur Jahr
- Fassung: Letzte Fassung
- Schreibzeug: Schreibmaschine
- Signatur: A-5-c/12_009
- Seite / Blatt: 01
Wenn er die Orange zerteilt, achtet er darauf,
dass ihm der Saft nicht den weissen Kragen und die Manschetten, die
er ohnehin jeden Tag wechselt, bespritzt.
Denn er ist nervöser als sonst schon,
weil er die Stadt so plötzlich verlassen und in dieses Kloster
herausziehen musste,
05 wo es nur Mönche gibt, die mit Blicken seine Seele zu retten
versuchen.
Aber das ist doch besser, als in dem feuchten Palast zu bleiben
und sich wie Pastetenfleisch von der Jammertunke von fünfzig Frauen
immer neu übergiessen und ganz durchtränken zu lassen.
Hier ist es wenigstens trocken,
10 und niemand verlangt von ihm Trauer um das Mädchen, das er nur
förmlich gekannt hat.
(Im Bett braucht man gottseidank nicht zu sprechen.)
Hier kann er, wenn die Sonne hinter den baumlos erstarrten Wogen
unterging, zuschaun,
wie man das einzige Rosenbeet mitten im Kohlplatz wässert,
und kann dann, damit man sein Gähnen nicht sieht, hineingehen
und genau darauf achten,
15 daß ihm beim Zerteilen der Orange der Saft nicht den Kragen und
die Manschetten bespritzt,
die er ohnehin jeden Tag wechselt.
- Details
- Konvolut: Typoskripte 1955
- Besonderes: Typoskript + Durchschlag; Langzeilen
- Letzter Druck: Die verwandelten Schiffe 1957
- Textart: Verse
- Datierung: nur Jahr
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Schreibmaschine
- Signatur: A-5-c/12_010
- Seite / Blatt: 01
- Identisch mit: Die verwandelten Schiffe