Inhalt: 24 Typoskripte zu 23 Gedichten (8 Endfassungen)
Datierung: 1955
Textträger: Einzelblätter (A4-Format)
Umfang: 24 Dossiers zu je einem Gedicht (außer der Doppelung Nr. 8/21)
Publikation: Die verwandelten Schiffe (12 Gedichte), GEDICHTE (1 Gedicht), Verstreutes (2 Gedichte)
Signatur: A-5-c/12 (Schachtel 36)
Herkunft: Rote Mappe 1955 G
Kommentar: Typoskript-Reinschriften (alle gleichartig) mit meist mehreren, z.T. bis 5 Durchschlägen
Texte i.d.R. identisch mit Druckfassung; alle unten mit Jahreszahl 1955 datiert
Wiedergabe: Edierte Texte
Der Flügelfrühling und die zerstreuten
Federblätter liegen unter dem schwarzen
Ameisenschnee ihres Winters,
der auch dies flache Bild auf dem Boden
05 – vom Herbstrad des Autos schnell
aus dem Stoff und der Farbe des Vorbilds gebildet –
noch schmölze: Wenn nicht das vom Rand
der Strasse ausgeworfene Blicknetz des Knaben
es zöge hinein in den Teich
10 der Augen, die jetzt noch blinzeln über
dem Schmatzen, dem Apfelkauen des Munds:
weit noch vom Traum und vom gewittrigen
Sommer, der das Bild vom Grund, wo es lange
bleibt, wenn es hin und her auf der Fläche
15 geschaukelt und endlich hinab
gesunken, künftig einmal von neuem
deutlich und schwarz überwimmelt heraufspült.
Auf dem leeren Kiesplatz
pisst der Torhund.
Die mürrischen Mönche
sassen den ganzen Tag auf dem
05 sorgfältig gekräuselten Kiesplatz
und sahn auf den Feldstein als auf die Welt,
die mitten im All schwimmt:
Doch jetzt pisst hier der Torhund.
Als es am Abend zu schneien begann,
10 drehte einer den Kopf und
rieb am Kragen den Hals,
sodass der Meister ihn mit dem Rohr schlug
auf den geschorenen Schädel:
Doch jetzt pisst hier der Torhund.
15 Inzwischen wards dunkel, und alle
schlurften über den Kiesplatz
mit steifem Genick und
rheumaschmerzenden Gliedern
zurück in die Zellen:
20 Und jetzt pisst hier der Torhund.
Am Feldstein auf dem
endlich von den mürrischen Mönchen geräumten
Kiesplatz verrichtet, würdig gesammelt,
sein grosses Geschäft und pisst jetzt der Torhund.
(Ein hölzernes Dekorationspferd, das auf der Orgel steht, spricht)
Aus der Mitte überm Orgelbrunnen,
wo die Töne in das Becken fallen,
staun ich an die Pferde, die am Rande laufen,
staun ich an die Brüder Pferde, die so eilig laufen,
05 eilig laufen fort und doch sind immer hier.
Immer laufen meine Brüder Pferde,
aber weiter fort ist schon die Brücke,
drauf der Mann mit den Ballonen geht.
Und auch der gelbe Vogel, den mit Schwirren
10 an der Schnur er um den Stab her schwingt,
damit ein Kind ihn noch vor Abend kaufe,
auch er kommt langsam, langsam weiter fort.
Doch ihr, ihr Brüder Pferde, schnaubt und lauft nur schneller,
ihr bleibt doch immer unterm Sturz
15 der Musik von meiner Orgelsäule,
die mit Schäumen füllt des runden Beckens
und mit Ueberschäumen füllt des Gartens Ohr.
Und die Zapfen von den Pinien fallen
ab von Zeit zu Zeit und würzen
20 die Wirbel meiner Wasser, und sie
würzen euren blinden Wirbel, Brüder Pferde,
um den runden, runden Brunnen Karussell.
Unten tief im Brunnen sitzend
habe ich dich gleich erkannt:
als du mir, der ängstlich schwitzte,
ob er nackt und hungrig sitzen
05 bleiben müsse, warfst herab ein Festgewand.
Unten tief im Brunnen sitzend
habe ich dich gleich erkannt:
als du mir mit Seidenlitzen
und mit Steinen, die im Dunkel plötzlich blitzen,
10 warfst herab ein Festgewand.
Soll ich aus dem Schlamm und Sand
mit dem Festgewand dir steigen?
lass mich als mein Herr und Herrscher
hier im Brunnen unten bleiben:
15 Wenn ich aus dem Brunnen stiege,
wie dann bliebe, das du mir herabgesandt,
heil und ganz dein Festgewand?
Wirf mir lieber Brot und Schinken
in den Grund, wo gern ich sitze
20 und mich freu am seltnen Blinken
deiner Seide, deiner Steine –
doch seit Stunden hungrig sitze.
Unten tief im Brunnen sitzend
habe ich dich geich erkannt:
25 als du mir, der nackt vor Aengsten schwitzte,
warfst herab das Festgewand,
warfst herab dann auch die Speise
und zuletzt zur Kletterreise
warfst herab die leichte Leiter:
30 Aber diesen Aufwärtsleiter
will ich nicht. Nach eigner Weise
will ich Brunnenherrscher sein. // 01v
Unten tief im Brunnen sitzend
wink ich dir und lache dir:
35 Bleib allein im trocknen Land.
Schon am eitlen Festgewand
habe ich dich gleich erkannt.
"Die Aktienmärkte liegen behauptet"
im Wimperschatten des Vogelbaums,
unter dem Puder der Blüten,
die mit dem schmutzigen Bach das Trottoir
05 entlang in den Rinnstein fliessen: wo sie
nochmals, nochmals rötet das Blut.
Die Aktienmärkte liegen nur noch mühsam behauptet,
wenn von der Schneekuppe der Sturmwind
durch die wirren Stimmen des zur Unzeit erregten
10 Glockenspiels herabstürzt und in den
Regenbach, der das Trottoir
entlang in den Rinnstein fliesst, wischt die
von Wochen des Lächelns bräunlich ermüdeten
Blüten zusammen: aber vom Blut
15 sind sie jetzt nochmals gerötet, gerötet.
"Auch der Stahl steht im Markt"
und blinkt im Regen und blutet
aus den Märtyrerleibern, die man
vom Felsen herabwarf und die er
20 magnetisch anzog und auffing.
Der Stahl steht mitten im leeren
Markt, und der Regen wäscht ihm
das Blut der Märtyrer ab und
rötet die von Wochen des Lächelns bräunlich
25 ermüdeten Vogelbaumblüten
nochmals, nochmals im Rinnstein. // 02
Der glockenstimmige Sturm von der Kuppe
hat sie von den Wimpern der Zweige
des Vogels gewischt und die Flügel,
30 die abseits jetzt im Laub stehn,
an Gefieder und Flug plötzlich erinnert.
Aber der Schnabel, begraben,
bleibt aufgesperrt, von der Krume
gesättigt, gesättigt.
35 Und die vom entrollenden
Spielball lange gequälten
Augen betrügt nun der Erdschlaf.
"Und wer in den Schlaf sich stürzen will,
verletzt sich die Füsse an einer Rasiermesserschneide";
wer aus der düsteren Tür seines Wachens
auf den Lavamittag der Schwelle heraustritt,
05 den schneidet in den nackten Fuss seines Auges
das Messer der Flamme, die von der Kohle
züngelt und den Falter verbrennt:
Die Amselkohle steigt, gemehrt um des Wurms
verhinderten Flug; die Schnabelflamme
10 zittert, unersättlich, jetzt im Gesang
und schneidet nochmals, schneidet jetzt
in den anderen nackten Fuss, den Ohrfuss,
der sich aus der düsteren Tür seines Wachens
nachstürzen will in des brodelnden
15 Schlafmittags Lava.
Wenn sie sähn, wie die spanische Fahne als letzte die Dockwand
entlang schwebt,
ässen die Damen dann noch Kuchen zum Tee
und läse, den steifen Hut neben sich auf dem Sims, der Bucklige
die Illustrierte?
Als ob nicht die Schiffe die Stadt ins Meer zu tragen begonnen
hätten:
05 Und nur solang man aus den Werften das Schwatzen und Rascheln
laut überhämmert,
um auch das letzte Schiff fertig zu machen,
ist für Kuchen und Tee und fürs Blättern in Illustrierten noch Zeit.
Doch wenn sie die spanische Fahne als letzte die Dockwand
entlang schweben sähen,
rüsteten sie sich schnell zur Abfahrt wie deine Augen, die mich
schon liessen,
10 die der schwarzen Dockwand entlang schwimmen im mittleren
Feld der spanischen Fahne.
Einmal wird die Mittagskrise so gross sein, dass wir sie nicht
mehr überstehen:
am Tag, wo wir uns nicht mehr am Boden zu halten vermögen
und uns die knisternde klare Allluft ganz wegträgt.
Dann liegt der kleine Spielball für einen Augenblick still,
05 doch nur, um gleich in die Kaminglut zu rollen,
wo er alsbald in Asche zerfällt und aufwirbelt und um das Haupt fliegt,
vor dem wir uns heute mittag schon fürchten,
obwohl es, noch jovial, die Drohung hinter dem lauten Lachschild verbirgt.
Dann endlich lächelt es still, weil es das Spiel bravurös zu Ende
gebracht hat,
10 und sammelt die Bälle zum nächsten Auftritt, der der Allluft den
Atem beraubt.
Dies aber erst nach der Krise, die wir nicht mehr, glaub mir,
nicht mehr gerade noch, wie diesen schon schrecklichen Mittag,
knapp heil überstehen.
Wir wenden uns von der Kasse, wo "Erwachsene achtzig, Kinder vierzig
Pfennige" steht,
den Kranen zu, welche die für einen Augenblick entblösste Sonne benützen,
uns den Hafen als glänzendes Wasser mit zur Lichtfahrt bereiten
Kähnen zu zeigen.
Aber die nächste Wolke verrät schnell den Bauernfang.
05 Und an der Treppe stehn am Sonntag so viele,
und der Aufzug kostet achtzig Pfennige,
was jetzt, am Monatsende, zu viel ist:
Auch wenn der Turm über die holzblinden Fenster der Kirche mit den
geborstenen Simsen
unbeirrt in den Regen, kupferner Baum, grünt. –
10 Wir wollen hier weggehn.
Wenn er die Orange zerteilt, achtet er darauf,
dass ihm der Saft nicht den weissen Kragen und die Manschetten, die
er ohnehin jeden Tag wechselt, bespritzt.
Denn er ist nervöser als sonst schon,
weil er die Stadt so plötzlich verlassen und in dieses Kloster
herausziehen musste,
05 wo es nur Mönche gibt, die mit Blicken seine Seele zu retten
versuchen.
Aber das ist doch besser, als in dem feuchten Palast zu bleiben
und sich wie Pastetenfleisch von der Jammertunke von fünfzig Frauen
immer neu übergiessen und ganz durchtränken zu lassen.
Hier ist es wenigstens trocken,
10 und niemand verlangt von ihm Trauer um das Mädchen, das er nur
förmlich gekannt hat.
(Im Bett braucht man gottseidank nicht zu sprechen.)
Hier kann er, wenn die Sonne hinter den baumlos erstarrten Wogen
unterging, zuschaun,
wie man das einzige Rosenbeet mitten im Kohlplatz wässert,
und kann dann, damit man sein Gähnen nicht sieht, hineingehen
und genau darauf achten,
15 daß ihm beim Zerteilen der Orange der Saft nicht den Kragen und
die Manschetten bespritzt,
die er ohnehin jeden Tag wechselt.
Gefühlswälder sind süss zu durchwandern,
weil sie die Tageszeit nie genau erkennen lassen,
sondern die Ränder mit dem Dämmerlappen immer sorgsam
verwischen,
und weil nachts in den Mondlichtungen uns immer das gleiche Reh
05 aus grossen nassen Augen ansieht und rührt.
Durch die Höhle, die Tapeten umwelken, wühlt er sich,
bis er, um in der plötzlichen Hitze unterm Daunengebirge nicht zu
verdursten,
die Früchte isst, die er aus dem Laub der Kleider geraubt hat:
Die Blätter, ringsum auf dem Boden verstreut,
05 sähen eifersüchtig auf den Arm,
der den Ast an ihrer Stelle umfängt,
auf die Brust, die den Stamm an ihrer Stelle bedeckt,
wenn nicht der Vorhang Arm und Brust vor der Strassenlampe,
die mit der Windleiter immer anrennt, beschützte.
10 Doch das Treppenhaus rächt sie,
indem es durchs Schlüsselloch sein rostiges Licht in das vergessene
Auge hereinsticht.
Ich hänge, die Flügel im Netz, mit schmerzenden Schultern
zwischen Fenster und Strasse,
indes Noah die Frau aus der Angstarche des Autos hervorzieht:
Vergeblich hatte er mit den Scheinwerfern die Nachtflut
um die Bäume und bitteren Büsche für Sekunden getrocknet.
05 "Hier genau war es, dass er nach meiner Handtasche griff",
zittert die Frau, und schon trinken beide Trost
und knabbern Beschwichtigungen auf dem Erkerararat gegenüber.
Sodass aus der erneuerten Flut hinter den bitteren Blättern der
Strolch taucht
und mir, der ich auf den Schrei zu Hilfe lief und hilflos ins Netz
fiel, zuwinkt:
10 mir mit zwinkerndem Einverständnis durch Strähnen zuwinkt, die
triefen von Nachtflut.
Als ein Handleser in der Galeria Colonna ihm
sagte, er käme durch einen Autounfall ums Leben,
machte er sich damals, vor Jahren, nicht viel daraus.
Erst heute zieht es sein Auge, das er an das Moos und die
Schnecken des Hangs mit Anstrengung immer geheftet,
in die Schlucht unwiderstehlich, wo die Schlange, zuweilen auf-
schimmernd, sich ringelt.
05 Erst jetzt, wo seine Mutter zum Tod ächzt, fing er zuerst an zu
glauben, die Krankheit besässe auch ihn schon;
doch der Arzt, zu dem er ging mit angstumränderten Augen,
damit er das längst bekannte Urteil, der Form zu genügen, bestätige,
erklärte ihn für gänzlich gesund.
Und seither muss er in der Nacht, wenn der Herzvogel seiner Mutter,
wild flatternd, den Atem verschlägt,
10 immer an den Handleser von der Galeria Colonna denken,
der vor Jahren ihm sagte, er käme durch einen Autounfall ums
Leben.
Als ein Handleser in der Galleria Colonna ihm sagte, er käme durch
einen Autounfall ums Leben,
machte er sich damals, vor Jahren, nicht viel daraus.
Erst heute zieht es sein Auge, das er mit Anstrengung an das Moos
und die Schnecken des Hangs geheftet,
in die Schlucht unwiderstehlich, wo die Schlange, zuweilen auf-
schimmernd, sich ringelt.
05 Erst jetzt, wo seine Mutter zum Tod ächzt, fing er zuerst an zu
glauben, die Krankheit besässe auch ihn schon;
doch der Arzt, zu dem er ging mit angstumränderten Augen,
damit er das längst bekannte Urteil, der Form zu genügen, bestätige,
erklärte ihn für gänzlich gesund.
Und seither muss er in der Nacht, wenn der Herzvogel seiner Mutter,
wild flatternd, den Atem verschlägt,
10 immer an den Handleser von der Galleria Colonna denken,
der vor Jahren ihm sagte, er käme durch einen Autounfall ums Leben.
Zu lange setzte sich die Wespe auf dem Tassenrand der Versuchung
des Dufts aus,
als dass sie nicht schliesslich hätte darin umkommen,
hinabstürzen und mit Beinen und Flügeln die Kaffeenacht umrühren
müssen.
Auf dem Mund der Coca-Cola-Flasche – die ich eben bestellte,
05 weil ich die zuckende Agonie nicht einmal ansehen kann,
ohne auch schon den Zweifel, ob ich nicht retten müsste, zu trinken –
zittert die andre Wespe zwischen Lockung und Warnung.
So auch hockt dem Motorschiff, das ganz allein draussen im gläsernen
Sturm blasiert lustfährt,
hinten das Flugzeug gelb auf und weiss noch nicht,
10 ob es sich in die Sonnenmilch stürzen soll:
sie tropft in die Meerenge herab und füllt sie mit Schaum,
sodass das Wasser die Klippen hinaufflieht, Odysseus,
und dann schnell mit zerschundenen Knien zurücksinkt;
nur die Bojendame harrt aus und zeigt dem Schiff,
15 obwohl es sie nicht zu brauchen vorgibt, den Weg durch die Riffe.
Doch im Gliederzucken der einen,
im zitternden Zwiespalt der andern Wespe schaut Platon
– denn ich sitze direkt am Sklavenmarkt, wo man ihn feilhält –
im weissen Schiffwindspiel des attischen Reeders, // 01v
20 das seine Wespe durch den Sturmschaum davonträgt,
schaut Platon immer die reine Idee an;
und mitten im Feilschen, wenn ein Bauer ihm fern aussen die Leib-
wand befühlt,
kostet er nochmals die Tafelgespräche in Syrakus
und die Nachtspaziergänge mit Dion, unverfaulte Orangen.
25 Sodass, wenn Amnikeris kommt und ihn freikauft,
er traumtaumelnd in den neuen Rolls Royce steigt
und sein 'Wunderbar' nur gibt, weil jener es ihm mit allen Mienen
entreisst.
Aber schon fast in der Stadt brennt ihn plötzlich das Bild wach,
das ihm bei der Abfahrt ins Auge hereinglitt und jetzt in der Hirn-
halle ankommt:
30 Wie die Wespe reglos im Kaffee liegt,
indes die Schwester, zum langen Leben entschlossen,
vom Mund der Flasche in die Sonnenmilch wegschwimmt.
"Das inwendige Licht, das Gott selbst in uns anzündet,
kann durch die sinnliche Erfahrung der Welt geweckt werden",
geweckt durch den Lampenladen an der Ladenstrasse der Vorstadt,
der mir schon von weitem entgegenbleckt auf den Weg durch die Gärten:
05 diese grellste Goldfüllung in der Reihe der vielen,
die ins Gebiss aus altmodischen Villen unten eingesetzt sind,
vermag das summende Bienenkorblicht der alten Gaslampe zu wecken.
Das hindert mich nicht, die Verkäuferin anzubrummen,
weil sie mir für meine Wandlampe keine hohen roten Schirme verkaufen
kann,
10 sondern nur niedrige aus gelbem Oelpapier mit grünen Zierstreifen
und Goldrand,
wie sie nachgerade auch Hinz und Kunz haben.
Ihre Entschuldigung erstickt unter der Donnerlawine der Hochbahn,
die mich, wäre es nicht schon sechs Uhr, ins Zentrum brächte,
wo man alle Arten von Schirmen findet,
15 sogar solche, aus denen das inwendige Licht durch wohlverteilte
Sternlöcher leuchtet.
Dafür zertrümmert mein Löffel,
wenn ich resigniert im Bahnhofbuffet die Milch umrühre,
zugleich mit der Haut aus Versehen das Glasdach des Bahnsteigs,
wo eben Tamino die Katzen und Hunde mit ihren blinden Greisen
20 von den Treppen und aus den Pissoirs anlockt
und mit den Funken der Flöte allen ihr inwendig dösendes Licht weckt.
Ich kann doch das Mädchen,
das am Haustor im grasgrünen Pijama auf den Postboten wartet und gähnt,
nicht fragen –
ich kann doch den Pförtner,
05 der in seinem Verschlag Tischlampen lötet und mir die Zeitung herausreicht,
nicht fragen:
Nicht fragen, ob sie die Perle gesehen hätten,
die ich beim Erwachen heute früh in der Hand hielt.
Ich kann nach der Perle nicht fragen:
10 Irgendwo fiel sie hinab,
zum Beispiel im Gespräch mit der Fürsorgerin
unter das Bild und die Karteikarte des Mathematikstudenten,
der Cello spielt und von der Strudlhofgasse in Wien kommt;
vielleicht fiel sie dort in ein Kanalloch,
15 bis hinab, wo ich allein, höchstens, sie finde,
wenn ich das Pflaster aufkratze und tief in den Abwasserkanal krieche.
Den Kopf würden das Mädchen und der Pförtner und die Fürsorgerin schütteln,
wenn ich plötzlich nach einer Perle fragte,
die mir beim Erwachen heute früh in der Hand lag:
20 Sie war mir von der Muschel, die die Ebbe wegtrug, geblieben.
Du sollst nicht, mein Lamm, als wolltest du weg
und den Zickzackweg durch Felsen und Eis hinauf auf den Berg Gauri Sankar,
du sollst nicht ziehen am Band, mein Lamm.
Denn die Schlange oben im See ist sicher eingefroren seit langem,
05 sodass wir nicht mehr spielen können mit ihr
und bald auch, glaub mir, alle beide erfrören.
Und vor allem, was dächte die Expedition aus Kioto,
die, bepackt mit Messinstrumenten und genau abgezählten Kalorien,
den Zickzackweg da vorn ernsthaft hinaufsteigt,
10 wenn sie ein Knäblein, splitternackt, springen sähe mit einem Lamm
zwischen Felsen und Eis?
Denn diese Leute sind ja bestenfalls Shintoisten oder Buddhisten,
vielleicht aber auch ganz und gar ungläubig
und würden überhaupt nichts verstehen.
Lass darum lose und bleib bei mir auf den Knien der Mutter,
15 lose das Band, und den Berg Gauri Sankar,
lass ihn, mein Lamm, der ernsthaft bepackten Expedition aus Kioto.
Die Pappel im Fenster flieht vor dem Vorhang,
der, aufgestachelt vom Wind, sie verfolgt,
indes das Auge die Partitur des Balletts von weitem zu lesen versucht.
Das Auge schickt den Flugzeugdrachen aus
05 und hält ihn fest an der Leine seines Wunsches,
dass er um ein Uhr nachts das dröhnende Paket Erinnerung in einen
Schlaf werfe.
Dem Auge am nächsten kommt,
der in Cinemascope den Honig seines Blicks vom Riesenrad herab-
träufelt:
Den schickt es nach Paso Robles, um ihn nicht mehr zu sehen.
10 Und richtig, Achilleus findet immer und überall sein Troja,
auch wenn man die Tafel an der Autobahn übermalt hat:
Wieder tropft der Honig in den ausgepressten Saft der immer nach-
wachsenden Traube.
Die Trümmer des Wagens rauchen, und es stinkt nach verbranntem Gummi,
sodass man keinen Holzstoss mehr zu errichten braucht.
Nur der Schirm schwebt rot im Regen ohne Schmetterling über den Rasen
und sucht ihn und flieht vor den hastigen Schirmen der Einkäuferinnen
unter die Bäume,
die von Erinnerung an die Tage tropfen, wo die Blumen den Kindern
gehörten.
Der Lieferwagen wischt mit der Aufschrift "Winterhuder Malzbier" den
Schirm weg,
05 und die beiden Männer vorn unter den Mützen tun jeder einen starken
Schluck aus der Flasche:
strengt es doch an, nicht zu wissen von seiner Macht über so vieler
Augen empfindliche Paradiese.
So wenden sich die Schüler wohl oder übel zurück in den Saal,
der ihnen die Nasen mit stickigem Zweifel füllt,
ob der Choral zum Harmonium nicht nur sei anstatt des Aechzens der
Orgel,
10 die der Mann ohne Beine dreht an der Treppe zur U-Bahn,
wo der Luftzug den Duft seines Danks zwischen triefenden Schirmen
hinabträgt.
Das Mädchen sitzt neben den Schwestern auf dem Sofa und schiebt die
Gardinen vom Fenster zurück
und sieht das Schiff auf dem See, das immer wächst, bis es anlegt,
und sieht sich selbst, die Frau, die auf den Steg tritt,
wo einer ihr winkt und sie an der Hand fasst:
05 "Nein" schreit sie lippenlos, tonlos und risse den Knaben mit sich
zurück,
wenn er ihr nicht ans Ufer entwischte.
So flüchtet sie allein in die Kabine und schaut nicht hin auf den
Spitz,
der vor ihr das Männchen macht und sich, weil man die Brücke weg-
zieht, ohne daß sie ihm sein Stück Zucker zuwarf,
verärgert fallen lässt und der Prozession in die Kirche nachläuft
und der Orgel ins Tantum Ergo hineinbellt.
10 Lieber fährt sie allein tiefer ins Gebirg;
und das Auge im Fenster folgt dem Dampfer zugleich mit dem Auge
des Knaben
vom Getümmel des Kais zur Enge, wo sich fast berühren die Felsen
und wo die Kellner ein Sonnendach spannen übers Deck, für die Dame,
die einzig noch da ist von der Sommergesellschaft:
15 Für den Fall, dass sie zur Teezeit herauskommt.
Die Rothaarige wirft die Haustür zu und ruft:
"Warum lässt du sie offen, du weisst doch, ich hasse den Durchzug?"
dem Mann nach, der eben im Auto davonfuhr.
Dafür erschreckt sie die Greisin,
05 die den ganzen Tag schon im Sand sitzt und schwer atmet,
weil, den Griff der Felsen von der Bucht zu lösen, dem Leuchtturm
nicht gelingt:
man erkennt die entlegene immer erst wieder am perlenen Knirschen
des Sands,
wenn der beharrliche Wurm endlich durch das Rauschen ins Ohr dringt.
Das Auge des Leuchtturms wegzudrehn und den Griff der Felsen, der
reglos die Bucht würgt, zu lösen:
10 jetzt erst gelingt es, wenn die Greisin aufschrickt
und der Sturm steigt und vom Meer her Heuschreckengewölk treibt.
Die Glut der Beete, im Garten geduldet, ist schon erstickt,
bevor der Flügel, den die Rothaarige zuwarf, im Nest nicht mehr
zittert.
Durch die Strassen zu fliehen,
wenn trotz aller Vorsicht das brennende Streichholz in die Holz-
wolle hinabfiel,
ist das vielleicht das Glück und das der Sinn deines Lebens?
Dich irgendwo unter fremde Menschen zu setzen, mit Vorsicht,
05 und durch die Scheiben den Aufgang der Strassenlampen zu sehen,
der dem Ampelalabaster des Schlafzimmers gegenüber eine bleiche
Halle bereitet,
der Grabesampel über dem Gruselbehagen der drei Freundinnen,
welche die Einsargung der vierten mit kuchenkauenden Mündern
beschwatzen:
besteht wahrhaftig darin das Glück und darin der Sinn deines Lebens?
10 Auf der Flucht durch fremde Viertel die Falter sorgfältig ins
Erinnerungsnetz zu fangen
und sie dann in irgendeinem Lokal, zu Versen getrocknet,
mit der Bleistiftnadel ins Album zu heften, wenn auch immer mit
Vorsicht,
damit dich der feiste Beamte nicht findet, weil die Falter geschützt
sind:
darin, wahrhaftig, allein besteht das Glück, besteht der Sinn deines
Lebens,
15 darin allein.