Notizbuch 1958-61

Inhalt: 87 Entwürfe zu 82 Gedichten (3 Endfassungen), Motiv-Notizen
Datierung: 18.6.1958 – 15.1.1961
Textträger: Schwarzes Notizbuch, karierte Seiten, Bleistift, S. 188 (V.4) - 189 blauer Stift
Umfang: 192 beschriebene Seiten
Publikation: GEDICHTE (28), Flussufer (18 Gedichte), Verstreutes (1)
Signatur: A-5-d/04 (Schachtel 29)
Spätere Stufen: Manuskripte 1958, 1959-60, 1961, Typoskripte 1958, 1959, 1960, 1961
Kommentar: Ab S. 192 Motiv-Notizen, von hinten her eingetragen
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften (ohne die Motive)
Der Duft wogt des Nachts in Schwaden aus dem Holunder,
der Duft wogt und betäubt mich des Nachts.
Aber die Schwaden erwecken die Funken.
Aus den Höhlen, aus dem Holunder
schwimmen und glimmen und glühen sie // 004
05 was mich betäubt, begeistert die Funken?
Ein Brüllen zerrüttet die Nacht.
Am Parkrand beginnt schon der Urwald:
Man hat den grossen Elefanten getötet.
Im Holunder stehn ringsum, ringsum die Funken.
10 Man hat ihn wahrhaftig getötet.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1958-61
- Besonderes: Mit weichem schwarzem Bleistift; Ortsangabe: München
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-d/04
- Seite / Blatt: 003, 004
Purpurne Spitze der Pyramide,
und der Leopard wacht.
Die Tänzerin dreht
auf der purpurnen Spitze der Pyramide.
05 Die Falter, müde vom Flug über die Gräser,
besuchen die Tänzerin oben,
lassen sich fangen ins Netz
der Tänzerin auf der purpurnen Spitze der Pyramide.
Der Leopard schläft, er kann warten.
10 Früh genug wacht er auf,
wenn das Gras neben ihm raschelt // 006
wenn aus dem Netz der Gestürzten die Falter,
eine gelbe Wolke, davon weht.
Der eine, der andere besucht
15 nochmals die nun violette Spitze der Pyramide.
Das Motorrad stört mit dem
plötzlichen Licht den Leoparden.
Er läuft mürrisch hinter die Pyramide
und lässt <sich> nicht stören.
Nun ist schon schwarz die Spitze der Pyramide,
und der Falter taumelt hinab ins Licht des // 007
Motorrads.
20 Dreht die Tänzerin hier?
Schwarze Spitze der Pyramide.
Falter, Wolken von Faltern verbrennen
im Licht des Motorrads.
Der Leopard schläft hinter der Pyramide.
Schwarze Spitze der Pyramide,
25 einzelne Gräser, und Schlaf und ein Traum:
die Tänzerin drehte
auf der purpurnen Spitze der Pyramide.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1958-61
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-d/04
- Seite / Blatt: 005, 006, 007
Söhne von Senatoren tanzen auf dem Gipfel der Insel,
sie tanzen mit syrischen und ägyptischen Sklaven.
Empört sind die Senatoren in Rom.
Aber Capri hat nur einen unzugänglichen Hafen.
05 Tiberius lässt ihn streng überwachen.
Herein kommen nur in der Nacht die Schiffe mit syrischen,
mit ägyptischen Sklaven.
Herein kommen nur die Galeeren mit Söhnen von Senatoren // 009
Es regnet dieses Jahr fast täglich auf Capri.
10 Und früher hatte es fast niemals geregnet.
Tiberius schläft schlecht und wacht aus dem Dösen
erst spät am Vormittag auf.
Und er bleibt den ganzen Tag düster.
Erst wenn es dunkel wird, wird er munter:
15 die Götter sind zwar schon fast alle gestorben,
die Inseln, die Flüsse, die Gebirge sind leer.
Aber was blieb von den Göttern, das liess // 010
er alles bringen nach Capri.
Wenn es dunkel wird, wird Tiberius munter:
20 Söhne von Senatoren tanzen mit syrischen, mit ägyptischen Sklaven,
es ist schon dunkel, sie erwarten ihn auf der Spitze der Insel.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1958-61
- Details: V. 13 er] unsichere Lesung, ev.: es
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-d/04
- Seite / Blatt: 008, 009, 010
Da sind die inneren Spiegel,
die Wand besteht nur aus Spiegeln
Der Garten ist dunkel,
die Adler kämpfen hoch in der Luft
05 darüber und lassen Wollflocken des Lammes
fallen auf die Blumen, die schlafen.
Doch sie erwachen erst und heben
schreiend die Häupter, wenn Tropfen
Blut sie treffen.
10 Wer sieht das?: Ist es doch dunkel.
Und innen im Gartenhaus // 012
irre ich, sehe
nur immer mich selbst in den Spiegeln.
Ich meine, der Saal ist unendlich.
15 Er ist eine Zelle, aber die Wand
besteht nur aus Spiegeln.
Draussen der Garten ist dunkel.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1958-61
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-d/04
- Seite / Blatt: 011, 012
Seele, fallende Seele
durch die Schächte,
über Treppen
fallende Seelen:
05 ein Echo hallt entgegen
aus dem Schacht,
das sind nicht die Asseln,
das ist die, die vorher hinab
gefallene Seele,
10 fallende Seele:
da schliesst sich der Schacht.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1958-61
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung, Letzte Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-d/04
- Seite / Blatt: 013
Du sollst zu mir kommen, heut nacht,
in die Halle
unter den Schatten,
die Gedanken des Standbilds.
05 Im Ring seiner Hand
steht dein Name.
Der Gott liebt dich.
Du sollst zu mir kommen heut nacht.
Aber in Alexandrien haben sie
ein Grab geöffnet heut nacht.
10 Ein Duft weht über das Wasser,
weht über das Meer bei Cypern. // 015
Kommt der Duft aber nach Kreta,
öffnen sich die Gräber auch dort.
Springt dort das Grab auf des Gottes
15 Im Ring seiner Hand steht mein Name.
In Alexandrien haben sie ein Grab geöffnet,
Der Wind von Süden treibt den Duft über
die Dächer, die Pharen aufs Meer.
Schon weht er, ein unsichtbares
Beet hinüber nach Cypern,
20 schon weckt er den Hirten auf einem Wipfel
Kretas: ein Grab // 016
hat man in Alexandrien geöffnet.
Den Leichnam des heiligen Markus stahl man,
trug man zum Hafen.
25 Der Duft aber verriet ihn,
verriet ihn zu spät.
Der Duft, ein blühendes Segel,
verrät ihn den Inseln.
Dann schwillt er auf über dem neuen
30 Grab, tief in der Adriabeuge
und bleibt und bildet und wölbt
die Kuppeln Venedigs.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1958-61
- Details: V. 18 Emendation: Schon ist → Schon weht
- Besonderes: Text hier noch nicht als Zyklus-Teil (Miraculi Sti. Marci) gekennzeichnet.
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-d/04
- Seite / Blatt: 014, 015, 016
- Werke / Chronos: Dieses enorme Gedicht, 109-110
Nachtpilger, vorbei gehst du, wohin?
Durch deinen Schlaf geh ich am Rand,
am Saum deines Schlafs geh ich,
flieh ich vorüber hinaus aufs Wasser,
05 das festere Element,
hinaus aufs Wasser, die Insel in deinem Traum:
dort strandet eben ein Schiff am Tod,
dem schwarzen Felsen
und ruft mich.
10 So gib mir schnell herein, Nachtpilger,
die Hand ins Meer, ins Wasser,
in die Bewegung ins Vage, ins Moor Schlaf, // 018
ins grundlose Schwanken
gib mir deine Hand.
15 Ich gehe, ich muss schnell vorbei,
aber berühre im Vorüberfliehn
deine Brust¿.
Nur mit dem Finger hat er mich
angerührt und geht nun schnell schon übers Meer.
20 Aber ich steige geheilt in das Schiff, den Morgen, der
schnell fährt.
Und in den Hafen der Stadt läuft auch
schon mit Geschrei, // 019
unter dem Schreien der Kinder,
25 das Schiff, das der Pilger wegzog,
wegzog, mit seinem Finger vom Felsen,
der unweigerlich anzieht,
wegzog und heimstiess, ein liebes
Spielzeug, in den Hafen.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1958-61
- Details: V. 05 Emendation: Elemente → Element
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Zyklus: ja
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-d/04
- Seite / Blatt: 017, 018, 019
- Werke / Chronos: Dieses enorme Gedicht, 111
Die Lagunen sind verschlammt
und stinken unerträglich.
Die Kanalisation funktioniert nicht mehr,
jeder Wellenschlag schwemmt wieder Kot bis
05 an die Stufen von Santa Maria della Salute:
Die Leute im Motorboot halten sich die Nasen zu.
Aber sie freuen sich, dass die Paläste
da und dort schon einzustürzen beginnen. // 021
Denn nur so besteht eine Hoffnung,
10 dass man den Leib des heiligen Markus wieder findet.
Die Kanoniker, die ihn bewahrten,
sind alle gestorben.
Und wer hätte das Geld, neue anzustellen,
denen sie ihr Geheimnis hätten weitergeben können?
15 Die Arbeitslosen an den Kanälen,
auf den zerböckelnden Brücken,
fragen einander nicht nach dem Leichnam;
denn jeder fürchtet, der andre
glaube, der Frager // 022
20 meine, er habe den heiligen Leichnam gestohlen.
Und jeder fürchtet sich vor dem Tod in der Jauche,
die fast schon still steht, des Kanals.
Sie sitzen und schaun sich nicht an und angeln Konservenbüchsen,
rostige, leere heraus.
25 Solche gibt es noch viele von damals, als hier
noch Fremde herkamen.
Aber inzwischen ging der Leib des heiligen Markus verloren.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1958-61
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-d/04
- Seite / Blatt: 020, 021, 022
- Werke / Chronos: Dieses enorme Gedicht, 112
Der Balken fängt den Maurer auf,
der vom Turm fällt. Die Tauben
steigen vom Platz auf und gurren
und wundern sich lang und mit wirrem
05 flügelndem Grau; disputieren,
warum ein Maurer, der
nicht einmal Flügel
hat, nicht bleibt auf dem Platz
und uns Tauben füttert, steigt
10 auf Türme, baut Türme,
Lustplätze für uns Tauben. – // 024
Sie bedenken nicht und sie wissen
nicht, dass nur Maurer die Hand
des heiligen Markus auffängt.
15 Nur Maurer, die stürzen können,
fasst am Schopf die Hand des Luftgängers,
des heiligen Markus, und legt sie
sacht auf den Balken. Das wissen
die Tauben nicht, sie haben ja Flügel.
20 Für Maurer
lohnt es sich, Türme zu bauen,
Fehltritte zu tun und zu stürzen.
Sie rettet und hält die Hand des heiligen Markus. // 025
Der Schopf schmerzt zwar nachher noch lang
25 von seinem Zugriff.
Und die Tauben gurren und wundern
sich mit wirrem flügelndem Grau.
Sie sehen den Luftgänger nicht, den heiligen Markus.
Der Maurer sieht ihn auch nicht. Er hält
30 sich am Balken und ist glücklich:
Sein Schopf schmerzt.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1958-61
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Zyklus: ja
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-d/04
- Seite / Blatt: 023, 024, 025
- Werke / Chronos: Dieses enorme Gedicht, 113
Du kommst dir aus dem Spiegel entgegen,
du siehst dich an<,> Löwe, und siehst deine Flügel. –
Einer wirft einen Stein in den Spiegel.
Er bricht, und du liegst nur noch, ein Henker
05 bohrt dir das Holz in die Augen,
aber es splittert.
Er will dir die Glieder abhhacken.
Aber das Eisen ist Brei.
Du brauchst nicht nochmals zurück
10 nach Venedig zu fahren.
Du bist der Löwe mit Flügeln geblieben. // 027
Zwar warf einer den Stein in den Spiegel.
Aber das Holz, das Eisen haben ihn trotzdem erkannt.
Venedig ist nur ein Spiegel.
15 Die Säule mit dem geflügelten Löwen ist hoch.
Und keine Flut reicht an die Pranken,
reicht an das Buch, reicht an die mächtigen Flügel.
– Sieh dich an, Löwe, im Spiegel, erschrick nicht ob deiner Flügel.
Ein Stein trifft den Spiegel.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1958-61
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Zyklus: ja
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-d/04
- Seite / Blatt: 026, 027
- Werke / Chronos: Dieses enorme Gedicht, 114