Notizbuch 1961-65

Inhalt: 118 Entwürfe zu 103 Gedichten (10 Endfassungen)
Datierung: 18.1.1961 – 27.9.1965
Textträger: Braunes Notizbuch, liniert; ab S. 98 (Gebüsch) perforierter Innenrand; Bleistift;
    S. 95 (Teich) - 142 (Treppen) violett, einzelne mit blauem Stift
Umfang: 186 beschriebene Seiten
Publikation: Flussufer (35 Gedichte), Verstreutes (18)
Signatur: A-5-e/06 (Schachtel 29)

Bilder: Ganzes Buch (pdf)
Spätere Stufen: Manuskripte 1961, 1962, 1963, 1964-65, Typoskripte 1961, 1962, 1963, 1965
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften

Mittwoch, 18 Januar 1961       )

Palme (A*)

Die Kohlenhalde wächst,
die Palmblätter sind schwarz.
Sie nehmen fächelnd Abschied vom Wind.
Die Kohlen rinnen zwischen den Blättern
05 hin und her. Nur noch die Spitzen
einiger weniger Blätter
stehen, staubige Dolche,
aus der Kohlenhalde.
Die Kohlenhalde wächst
10 immer herein in den Palmhain.
Die Kamele
scharen sich um die Stämme.
Eines klimmt auf die
Kohlenhalde. Nur die
15 Esel drehen das Schöpfrad
unermüdlich. Sie sehen
nicht, dass die // 004
Kohlenhalde den Kanal
verschüttet. Sie sind blind.
20 Die Kohlenhalde wächst.

Mittwoch, 18 Januar 1961       )

Palmen (B)

Die Kohlenhalde wächst.
Der Staub bestäubt
die Blätter der Palme, die
noch im Winde fächeln.
05 Nun sind sie nur noch schwarze
Dolche, die aus der
Kohlenhalde
stechen. Sie stiebt
den ganzen Palmhain ein. Die Hirten // 005
10 und die Kamele drängen
sich um die letzten Stämme.
Nur die Esel laufen
und drehn das Schöpfrad unermüdlich weiter:
Sie sind blind. Erst, wenn an ihre 
15 Hufe Kohlen rollen, merken
als letzte sie: die Kohlenhalde wächst.

Freitag, 20 Januar 1961       )

Regen

In die letzten
Winkel verkriechen
die Vögel, der helle
Sandschleier
05 lässt sie nicht sehen.
Ein Regen
rinnt nieder, zerreisst
den Schleier und klebt
die Körner an die
10 Erde. Die Vögel
sind überm Wind
wieder und wiegen
sich auf den Drähten,
den Blick frei ins bewölkte
15 Gelände, mit triefenden Flügeln.

Montag, 10 Juli 1961       )

Absoluter Himmel …*

Absoluter
Himmel,
eklatante
Bläue.
05 Aber wir alle
geduckt in unzugängliche
Winkel, ins Laub,
in feuchte
Halden. Der Mond
10 lässt seine Schleier
auf einmal
fallen. Wir winden
uns hoch aus dem
Dösen. Ab-
15 solute, ek-
latante

Montag, 17 Juli 1961       )

Nie mehr zurück

Nie mehr zurück
kommt der schwarze
Abend, das Schlagen
des Meers an den Felsen,
05 das ängstliche
Singen der Zikade im Baum.
Nie mehr zurück
kommt das Irren
der Taschenlampen über
10 den Weg, den der Sand
fast verwischt hat.

Nie mehr zurück
kommt das Rascheln des braunen
Katers im Weinlaub,
15 das schamlose Glimmen der Birne, // 009 // 010
die an der entschuppten
Schlange
schaukelt und züngelt. // 011

Nie mehr zurück
20 kommt im Kreischen
der Gittertüre der weisse
Tiger, bedrohlich das harte
Gold unter den schweren
Vorhängen, nie mehr
25 kommen die bleckenden Schneiden.
Nie mehr, nie mehr zurück.

Mittwoch, 11 Oktober 1961       )

(Gläserne Türme, durchsichtig)

Durchsichtig die Türme,
bis in die Spitzen voll Wasser.
Dennoch die Steppe
trocken ringsum:
05 Die Rohre sind alle verstopft.

Ein Schwan mit
Rosaflügeln. Die Federn
fallen ihm aus, sie schwimmen,
Seerosenblätter, im Teich.
10 Die weissen
Schwäne, wissend die Norm ihrer Schönheit,
vermeiden sie schaudernd. // 013

Ich habe meinen Mörder gefunden,
er lässt mir Zeit, mich zu fürchten,
15 zu flüchten, wie es sich schickt.
Er wird mich fassen
mit seinen Händen und würgen,
wenn es Zeit ist,
wie es sich schickt.

Mittwoch, 11 Oktober 1961       )

Warum …*

Warum
fürchte ich mich vor dem Sterben?
Antinoos konnte, owohl er
sich im brackigen Wasser
05 ertränkte, dem Freund
das Leben nicht einmal auf hundert Jahre verlängern.
Der Freund war der Kaiser der Welt.
Ich aber schaute nur immer die innere Landschaft.
Schon lange erlischt ihr Himmel, die Flüsse
10 stocken, vertrocknen. Kein Wind.
Warum
fürchte ich mich vor dem Sterben?

Dienstag, 03 April 1962       )

Bäume

Weise Bäume
vermeiden hinab
in den Himmel zu tauchen.
Sie ducken sich an die
05 spröde Erde. Ein Vogel
mag irre, ikarisch
stürzen und tauchen.
Ihn fängt das Goldnetz¿
auf und erwürgt ihn
10 zwischen brennenden Maschen.
Weise Bäume vermeiden.

Donnerstag, 05 April 1962       )

Flussufer

Schmutzig die goldene Platte,
darauf der Kopf
mit dem klaffenden Mund
und mit den blutigen Strähnen // 017
05 schwimmt mitten im alten Papier
und im gelben
Abschaum der Fabriken.

„Nescafé schmeckt besser“
Unterm von Wolkendünsten betäubten
10 Himmel verbieten
uns zornige Autos, zu winken, zu küssen.
Hör nicht, hör nicht
auf das Schreien der Wipfel am Flussrand, // 018
schau nicht,
15 schau nicht hinab auf den Strom,
wo der Kopf mit dem klaffenden Mund, 
der Kopf mit den blutigen Strähnen
schwimmt mitten im alten Papier
und im gelben
20 Abschaum der Fabriken,
„Nescafé schmeckt besser“

Unterm von Wolkendünsten betäubten
Himmel verbieten uns zornige
Autos, zu winken, zu küssen, // 019
25 schreien die Wipfel am Stromrand.

Donnerstag, 05 April 1962       )

Unter dem Gitter

Du kannst dich,
unter dem Gitter sitzend,
nicht wehren, wenn David
drüber hinweggeht mit schmutzigen Füssen
05 Du kannst dich nicht wehren
wenn aus
klebrigen Fingern
niederbaumelt Goliaths Haupt.
Du kannst unter dem Gitter,
10 du kannst dich nicht wehren:
wenn Goliaths Blut
dir heiss ins Gesicht tropft.

Freitag, 06 April 1962       )

Park

Einbrechen Schwärme
verwilderter Vögel,
bedecken
die geschnittenen Hecken mit Kot.
05 Seitwärts
duckt sich die Fontäne. Allein
ein höchster,
uralter Wipfel sucht
in seiner Erinnerung nach
10 einem vergleichbaren Ereignis.

Samstag, 07 April 1962       )

Engel im Regen

Engel fahren im Regen
kläglich  mit nassen
Flügeln knapp nur über
den Hügeln. Bis einer,
05 April eine sonnige Stelle
findet, sich niederlässt.
Seine Federn,
flaumig schäumen sie auf. Mächtig
bewegt er das Haupt
10 und die Arme, getrocknet
plötzlich zu Kräften erwecktes
Rieseninsekt.
Engel fahren im Regen
kläglich mit nassen
15 Flügeln.

Sonntag, 08 April 1962       )

Sommerbaum

Der Baum trägt
einen ganzen
Sommer aus Bienen,
summende Last 
05 niederdrückend die Äste zur Erde.
Irrwald, worin sich dein Wagen
verfängt und festfährt. Und wenn du
die Scheibe niederdrehst und die Hand
hinausstreckst, um die ängstlich
10 gurrende
Taube zu greifen:
Lächerlich klein ist die Chance,
dass das Rauschen der Acqua Felice
von Lago di Santa Susanna
15 hereintönt bis in den summenden Dschungel // 024
am Baum, bis in den Irrwald, den Sommer aus Bienen.
Einzig die Taube, die hörst du
immer ängstlich gurren,
einzig und immer,
20 wenn du die Scheibe des Wagens
wieder hinaufdrehst und allein
bleibst im Wagen mit ihr
unterm Baum, im Irrwald, in einem
ganzen Sommer aus Bienen.

Sonntag, 08 April 1962       )

Die Katze

Im Kreis
läuft die Katze, samten,
schiebt Kiesel zur Seite.
Die glänzen und blenden
05 das Auge der Katze, sodass sie
fast über die tote Maus 
stolpert. Ängstlich
weicht zur Seite die Katze,
verstimmt, weil man sie hindert
10 zu laufen, mit blinzelnden Lidern, und nur
von Kieseln geblendet, samten,
samten zu laufen im Kreis.

Mittwoch, 11 April 1962       )

Steinbruch

Gäbe es singende Schlangen,
sie sässen
zutiefst
unten im alten
05 Steinbruch, erschreckten
Gäste, die zufällig kämen des Wegs
und in der leeren Arena auf einmal
sähen den Chor
schwankender grüner,
10 gelber Gewächse,
hörten das Lied über Klippen
über die weissen
Wände wiegen und wehen:
Gäbe es singende Schlangen.

Mittwoch, 11 April 1962       )

Labyrinth

Die Rolle
ist an der Tür
festgemacht. Theseus
wickelt den weissen
05 Faden ab und
zieht ihn um die
Spiegelecken.
Zieht ihn,
dass er, wär der Faden
10 nicht aus Nylon,
risse.
Den Theseus nämlich zieht stärker,
zieht unerbittlich das Bild // 028
des Minotauros, der innen
15 hinter den Spiegeln
und Spiegelecken
versteckt sich räkelt,
versteckt hinter saftigen Stengeln,
sich räkelt im Garten.

Donnerstag, 12 April 1962       )

Strassenbahnwagen (A)

Strassenbahnwagen,
leer und mit lahmen
Wimpeln,
blieb, wo die Schienen
05 rosten und enden
über dem Strandbruch.
Über dem Strandruch,
über der leeren
Grotte, der Strassenbahnwagen
10 mit lahmen // 030
Wimpeln, dort wo rosten
und enden die Schienen,
blieb einzig übrig vom Fest: 
Strassenbahnwagen, zum Bersten
15 voll und mit straffen
Wimpeln fuhr zu Ariadnes
Hochzeit in der Grotte
unter dem Strandbruch.
Strassenbahnwagen

Donnerstag, 12 April 1962       )

Strassenbahnwagen (B)

Strassenbahnwagen, 
leer und mit lahmen
Wimpeln, blieb, wo die Schienen
rosten und enden
05 über dem Strandbruch,
über der leeren
Grotte am Strandbruch
blieb der Strassenbahnwagen mit lahmen
Wimpeln einzig übrig vom Fest:
10 Zum Bersten voll und mit straffen
Wimpeln fuhr er zu Ariadnes
Hochzeit in der Grotte im Strandbruch
Strassenbahnwagen.

Donnerstag, 12 April 1962       )

Strassenbahnwagen (C)

Strassenbahnwagen
leer und mit lahmen
Wimpeln blieb, wo die Schienen
rosten und enden über dem weissen
05 Strandbruch,
über der leeren
Grotte am Strandbruch,
blieb der Strassenbahnwagen
einzig übrig. Zum Bersten
10 voll und mit straffen
Wimpeln fuhr zur grossen
Hochzeit in der Grotte im weissen
Strandbruch
Strassenbahnwagen.

Donnerstag, 12 April 1962       )

Strassenbahnwagen (D)

Strassenbahnwagen
über dem weissen
Strandbruch,
leer und mit lahmen
05 Wimpeln blieb, wo die Schienen
rosten und enden,
einzig übrig
leer und mit lahmen
Wimpeln ||
10 über der leeren Grotte am Strandbruch, 
Strassenbahnwagen
einzig übrig
von der längst vergangenen Hochzeit.

Montag, 16 April 1962       )

Ponte vecchio

Von der einen
Wolkenbank trägt
der Ponte vecchio
zur anderen
05 grauen,
durch gläserne Bläue
die brüchigen Häuser hinüber.
Du siehst die flusslose Brücke
gespannt von Wolke zu Wolken,
10 die alten Häuser darauf
sind alle schon brüchig.
Nur in der Mitte starrt eine
bronzene Büste
dich an am Morgen, wenn
15 der Dunst wegschmolz,
spielt Ewigkeit, aber sie kann
dich nicht täuschen

Dienstag, 17 April 1962       )

Sommer

Blumen, Blumen
auf Blechkarren geschoben
durchs Gedränge
durch den über über mit Blumen gefüllten,
05 auf diesem Platz
am Ende der Pappelallee
endlich geborstenen
Sommer, Sommer[,] voller
singender Kinder, auf
10 kreisenden Karussells
die kreischenden Kinder: Sie fürchten vom Holzpferd
hinein in Blumen, Blumen, 
auf Blechkarren geschoben
durch das Gedränge, zu stürzen<.> // 036
15 Keines fürchtet den Meteor,
so gross wie jener, der damals
die Hudson-Bay aufgrub,
den man schon bereithält, ihn
auf uns zu stürzen und ganz Europa
20 zu einem einzigen Golf
aufzureissen. Die Kinder
fürchten einzig, // 037
zu stürzen vom schnell,
schneller laufenden Holzpferd
25 hinab in die
Blumen, Blumen,
auf Blechkarren durchs Gedränge geschoben
hinein in den über und über
mit Blumen gefüllten
30 und auf diesem Platz
am Ende der Pappelalle
endlich geborstenen Sommer.

Mittwoch, 18 April 1962       )

Schlachten

Das Gewimmel der
Leiber, der Blicke, der Stimmen
unter dem lauen Nachtwind,
richten die Pappeln,
05 ruhig von oben, sie
richten die hastigen
Wagen. Ruhiger
fahren zuhöchst die
Zitronenboote und weichen
10 nur langsam den weissen
Gigantenbrocken, welche heran
rollen mit Donner und Blitzen, 
ungeheure
Schlachten zu schlagen.

Donnerstag, 19 April 1962       )

Mise au tombeau

Sie legten ihn in das Grab,
und davor einen Stein,
damit er die Pfeile
auffinge. Das aber tat bereits das graue Olivengewucher.
05 Ein einziger Vogel
sass versteckt in den Blättern und rief
drei Tage lang ohne Pause:
„Sesam, öffne dich!“

Mittwoch, 25 April 1962       )

Wind

Ein glücklicher Wind bläst
am Abend die starren
Städte aus den
Ästen der Bäume, die starren
05 Städte, die man im Winter
in die kahlen Äste der Bäume gebaut hat –
Sie bersten, sie brechen
sie stürzen, Mauern und Türme,
verkrustete Kuppeln
10 stürzen zu Boden. Schon wehen
die Frühlingsfische,
gleitende Blüten, // 041
herbei und fächeln mit Flossen
die Äste. Ein Wind,
15 ein glücklicher Wind bläst am Abend.

Freitag, 27 April 1962       )

Strasse

Eine Rose sprengt die Strassenmitte [,]
auf, die Hummel
erwacht und schiesst
an die Fensterscheibe,
05 stürzt
zurück aufs Sims.
Die Dornensperre sperrt schon hoch die Strasse,
sie fängt die Wagen, Fliegen in das Netz.
Inmitten // 043
10 voller Gier und allen unsichtbar
sitzt die Rose. Aber
oben über die betäubte Hummel weht
fad die Erinnerung davon an einen Duft
von einer Rose. Eine Rose
15 sprengt die Strasse in der Mitte auf.

Freitag, 04 Mai 1962       )

Flucht

Der goldene Golf
schon tief unten,
und höher
schlagen über dem Kopf
05 die Stacheln der
Wildgewächse zu-
sammen.
Höher und dichter bald,
o bald werden sie dich, ein
10 dunkles, undurchdringliches
Gelass für immer umschliessen, auf dass du
auf dass du, endlich befreiter Gefangner,
nie mehr siehst den goldenen
Golf und nie mehr, nie mehr
15 hörst das Lied der Matrosen.

Sonntag, 06 Mai 1962       )

Skarabaios (A)

Flut höher, und die
Pyramide bedroht:
„Der Hund
läuft mir einfach über die Strasse“,
05 die Strasse angstleer.
Flut höher, Flut
verebbt und versickert, der Hund
tot unter der Pyramide.
Nur Skarabaios
10 schüttelt den Nilschlaf ab,
Skarabaios, vielbeinig, 
kriecht über die Strasse, bekränzt
den Hund, der, starr
unter der Pyramide, die Beine // 046
15 von sich streckt. Flut höher,
Nilflut verebbt und versickert.

Sonntag, 06 Mai 1962       )

Skarabaios (B)

Höher die Flut,
schon die Pyramide beleckt. Und der Hund
läuft mir einfach über die Strasse.
Höher die Flut,
05 Flut verläuft und versickert.
Allein Skarabaios
schüttelt den Nilschlaf
ab, Skarabaios
vielbeinig, kriecht über die Strasse, kriecht
10 über den starren
Hund unter der Pyramide.
Nilflut höher,
Nilflut verlaufen, versickert.
Allein Skarabaios.

Dienstag, 08 Mai 1962       )

Zikade

Einst bleibt
von mir nur noch die Stimme.
Du wirst mich
in allen Zimmern
05 suchen, suchen
auf den Treppen, in den
langen Fluren, in den Gärten,
du wirst mich suchen im Keller,
du wirst mich suchen unter den Treppen.
10 Einst wirst du mich suchen.
Doch nur, doch überall wirst du
meine Stimme hören,
meine hoch monoton
singende Stimme. Überall wird
15 sie dich treffen, überall
wird sie dich foppen, in allen
Zimmern, auf den
Treppen, in den langen
Fluren, in den Gärten, im Keller, // 049
20 unter den Treppen. Doch nirgends
wirst du mich finden.
Einst bleibt
von mir nur noch die Stimme.

Dienstag, 08 Mai 1962       )

Gewitter

Noch steht es, noch hängt es, das schwere
schwarze Ei überm Flachdach,
wo sie nackt in der Sonne
liegen. Aber die Hand
05 wird es fassen, zerbrechen
Das Wasser wird prasseln
aufs Flachdach. Die Nackten
werden die Jacken packen und laufen
Das zerbrochene
10 Ei wird fahren, wird lassen
sein Wasser hinab in die Strassen,
wird erst wieder halten
über den heissen
Fürstengärten, sanft sie
15 nässen, die toten
Teiche beleben.
Bald steht es, bald hängt es das leichte, // 051
weisse Ei über den Winden der leeren
20 Gärten und schliesst sich.

Samstag, 09 Juni 1962       )

Halkyonische Tage

Sieben Tage, Schläfer, Meer,
schläfst du, ehe die neuen
Stürme dich
rütteln, eh sie das Eisvogelweibchen
05 vertreiben, das über deinen
Träumen unermüdlich
hin- und her irrt, in den Fängen
das tote Männchen<.>
Vielleicht erspäht es die Klippe, // 053
10 auf der ich sitze und vergeblich das Blatt,
     das bitter schmeckt,
weich zu kauen versuche.
Vielleicht erspäht es die Klippe,
aber die Stürme sind schneller,
15 reissen das Eisvogelweibchen
in den Gischt, in die Schäume, nach sieben
Tagen schrickst du, mein Schläfer,
weiss auf und verschlingst
das Eisvogelweibchen, das mit dem toten
20 Männchen hin- und her irrt, verschlingst
mit der Klippe auch mich, der ich,
dösend, das bittere Blatt
kaue. Nach sieben // 054
Tagen mein Schläfer, vergisst du,
25 wach und weiss gerüttelt, vergisst du
plötzlich die Träume.

Samstag, 09 Juni 1962       )

Grab

Auf dem Grab wird der Vogel
einen weissen
Schreistein auf den anderen setzen.
Die Begrabene, stumm,
05 wird sie nicht sehen,
die Schreisäule, auf der
am Ende der Vogel
sich niederlässt, weiss,
und seine Flügel
10 steif breitet, damit alle Winde
sie streifen, damit
alle Winde sie streifen und nie,
niemals bewegen.

Donnerstag, 14 Juni 1962       )

Bohrturm

Kannst du nicht schürfen,
aufbuddeln den
Schacht in der Wüste, dort wo der nächste
Palmengarten, der nächste
05 Brunnen weit,
weit weit weg ist? Dort wird dir
ins Gesicht
Öl entgegen springen, und auf dem
Bohrturm wird eine Flamme
10 Tag und Nacht
den langen, von Dünsten bedrängten
Horizont rot dir in Stücke zerbrechen?
Kannst du
nicht schürfen, kannst du,
15 kannst du nicht buddeln?

Samstag, 16 Juni 1962       )

Prozession

An der Strandstrasse kauerst du, kaust
das bittere Blatt, wenn die weissen
Schirme im Schrein und Gekreisch
vorüberziehn.
05 Nicht sehen wirst du, nicht hören,
bis dir mit der Woge
über die Böschung der Seehund
in den Nacken springt. Dann vergisst du // 058
zu kauen, dann
10 rennst du
verwirrst du, zerteilst du die weissen
Schirme. Die Woge
verläuft, das Schrein,
das Gekreisch verläuft sich. Verwundert
15 inmitten der leeren
Strasse sitzt und schnuppert der Seehund.

Donnerstag, 21 Juni 1962       )

Ikarus (A)

Ich fliege, ich spähe
über die Flügel zurück.
Von meinem Gefährten
nur noch ein paar
05 Federn verstreut auf dem Wasser
Höhnisch entgegen
krächzt mir auf der Insel das Rebhuhn,
höhnisch, höhnisch entgegen.

Freitag, 22 Juni 1962       )

Ikarus* (B)

Im Anflug auf die Insel, von wo
mir das Rebhuhn höhnisch entgegen
krächzt, späh ich // 060
über die Flügel zurück. Vom Gefährten
05 nur noch ein paar
Federn verstreut auf dem Wasser<.>
Im Anflug auf die Insel von ihm,
der fiel und versank und ertrank,
nur ein paar Federn. Höhnisch
10 krächzt mir das Rebhuhn,
höhnisch entgegen.

Freitag, 22 Juni 1962       )

Das Rebhuhn (C)

Höhnisch
krächzt im Anflug
auf die Insel das Rebhuhn,
höhnisch,
05 wenn vom Gefährten
nur noch ein paar
Federn
weit verstreut schwimmen.
Höhnisch
10 krächzt, wenn es zurückschaut, // 061
das Rebhuhn,
wenn von dem gestürzten,
von dem versunknen, ertrunknen Gefährten,
höhnisch,
15 wenn nur noch ein paar
Federn,
weit verstreut, schwimmen,
höhnisch
beim Anflug zur Insel,
20 krächzt höhnisch, krächzt höhnisch das Rebhuhn.

Samstag, 23 Juni 1962       )

Das Rebhuhn* (D)

Höhnisch
krächzt im Anflug zur Insel
höhnisch,
wenn vom Gefährten
05 nur noch ein paar
Federn
weit verstreut schwimmen, // 062
höhnisch
krächzt, im Zurückschaun, das Rebhuhn,
10 wenn von dem gestürzten versunknen,
ertrunknen Gefährten,
höhnisch,
wenn nur noch ein paar
Federn
15 weit verstreut schwimmen,
höhnisch,
im Anflug zur Insel
krächzt höhnisch das Rebhuhn.

Samstag, 23 Juni 1962       )

Abstieg

Wir sind immer, 
immer sind wir im Abstieg zum Sommer,
immer auf dieser steilen
Leiter, voller Vorsicht und Umsicht und ängstlich.
05 Voraus zwar mit weissen
Mützen und blauen
Hemden flitzen Radfahrer,
aber sie kommen nicht vor uns
an unten in der
10 Mittelkammer des Sommers,
wo du auf dem Hocker,
dessen Lack abblättert,
wo du ganz unten
im Scharlachumhang
15 dich kämmst und
deine Lider schwärzest.
Nicht vor uns
kommen sie an in der Mittelkammer des Sommers, // 064
wo du sie alle,
20 wo du uns gleichgültig anschaust,
deine Lider vorm Spiegel
sorgfältig schwärzend,
gleichgültige Pharaonin,
unten am Grund,
25 in der Mittelkammer des Sommers.
Immer sind wir,
immer auf dieser steilen
Leiter, wir sind
immer im Abstieg zum Sommer.

Montag, 09 Juli 1962       )

Morgen

Bei Frühlicht dring ich bezecht
ein in den Garten, der starr
blickt aus tausend Tropfen auf bleichen
Blättern. Die Schildkröten bloss
05 regen sich und bereden,
im nassen Rasen versammelt,
die Gesichte der Nacht.
Sie zögen mich, wär ich bei Sinnen,
in ihr Vertrauen. Ich taumle
10 vorüber zum letzten
erhellten Fenster, als könnt ich
es retten vorm Sterben: Man hat // 066
hinter dem Horizont schon den
Sonnendolch Morgen geschliffen.

1962 * (nicht datiert)       )

Bienen (A)

Nicht lange mehr wirst du,
nicht lange
mehr zuckst <du> zusammen
unter dem Hall deiner Schritte
05 in den steinernen Fluren.
Nicht lang mehr, nicht lange,
und du schreckst die Bienen im Winkel
auf, und sie steigen
in Schwärmen, sie summen, sie stechen,
10 lautes, lautes Gebrumm und der Duft
heimlich gesammelten Honigs.

Donnerstag, 12 Juli 1962       )

Bienen (B)

Nicht lang mehr, nicht lange
zuckst du im steinernen Flur
unter dem Hall deiner Schritte zusammen.
Nicht lang mehr, nicht lange, du trittst
05 im Winkel des steinernen Flurs auf die Bienen, sie steigen.
In deinen Ohren Gedröhn.
Stiche.
Gold in den Augen.
In der Nase der Duft // 069
10 heimlich und lange und böse
im Winkel des steinernen Flurs
gesammelten Honigs.
Stiche.
Nicht lang mehr, nicht lange.

Donnerstag, 12 Juli 1962       )

Unter den Riffen gefunden (A*)

An dieser Insel steig ich
heute an Land. An jener
Insel steig ich morgen
an Land. Am Strand
05 schüttle ich mich und verteile die Muscheln<,> 
Warnungen, unten
unter den Riffen gefunden.
Hin und Her
schwimme ich zwischen den Inseln,
10 ich finde, ich hebe, verteile
Muscheln. Warnungen, unten
gefunden. Aber ich kaue
das Kraut,
unten gefunden, ich schweige. // 071
15 Ich schwimme, ich schwimme, ich hebe,
ich steige an Land, ich verteile
Warnungen Muscheln, ich schüttle
mich trocken, ich kaue
das Kraut, unten gefunden.
20 Ich schweige.
An dieser Insel, an jener.

Donnerstag, 12 Juli 1962       )

Unter den Riffen gefunden* (B)

An dieser
Insel, an jener, steig ich an Land. Am Strand
schüttle ich mich trocken, verteile
die Warnungen, Muscheln, unten
05 unter den Riffen gefunden.
Ich schwimme, ich schwimme, // 072
ich finde, ich hebe,
ich steige an Land, schüttle mich trocken, verteile.
Ich kaue
10 das Kraut, unten, unter den Riffen gefunden.
Ich schwimme, ich schwimme, ich schweige, 
an dieser
Insel, an jener.

Freitag, 13 Juli 1962       )

Warten

Kannst du nicht warten, bis dass dir
von selbst das Grab überm Kopf
einstürzt. Was klopfst du, was schreist du?
Kannst du nicht warten, bis dass dir
05 der Flieder weht in den Schlaf,
bis dass dir der Ball hart gegen die Brust
stösst? Was klopfst du, was schreist du?
Kannst du nicht warten, bis dass dir
das Kind erstaunt mit dem schmutzigen Finger
10 übers Kinn streicht? Was klopfst du, was schreist du? // 074
Kannst du nicht warten aufs feuchte
Frühjahr, auf Kinder, auf Spiele,
die dich zufällig
befreien? Was klopfst du, was schreist du?
15 Kannst du nicht warten?

Sonntag, 15 Juli 1962       )

Musik

Weisser Wind
biegt die Zweige,
wirft dich in Schatten.
Du siehst
05 die Kiesel nicht mehr,
die du von der Brüstung hinab auf den alten
Schlafstein wirfst.
Musik.
Du hörst die Kiesel
10 nur noch aufklirren im Finstern.
Musik. Die Viper
erwacht unterm alten // 076
Schlafstein. Du siehst
sie nicht, wenn sie auf deine Brüstung
15 heraufklimmt. Du hörst
nur das Klirren der Kiesel, Musik. 
Weisser Wind, weisser Wind.

Freitag, 23 November 1962       )

Rote Hänge

Über die roten
Hänge mit roten
Augen torkeln und stolpern
hinunter die Greise, die Füsse,
05 verfangen, verhangen
in Angeln, in Maulwurfslöchern.
Sie stürzen am Fuss der roten
Hänge mit (roten)
(Augen,) zerfetzten
10 Schuhn und hängen
in den Strom, mit den Händen
und Haaren den Dampfer // 078
zu fassen und zu erreichen,
der vorbei
15 tuckert und hält auf der Bergfahrt,
weil ihm die Puste
ausging, aber zu weit,
unerreichbar draussen im grauen
Nil, im breiten, im grauen.

Samstag, 24 November 1962       )

Aber man könnte …

Wenn nur der Schnee schon
weit und breit auf den Wegen
läge, wenn schon die Hühner
kreischten und die Körner 
05 aus den vereisten
Rinnen der Schlitten
kratzten, könnte man leicht,
könnte man schnell über die Wiesen
flitzen, es sei denn, man hätte
10 Gummisohlen, man glitte
flugs die gehärteten Hänge
hinab und, ohne ihn zu bemerken,
hinüber über den Nil und erreichte // 080
ohne Mühe die zu weissen Festen bereite
15 Sphinx und die im Rauhreif
unerbittliche Pyramide des Cheops.
Wenn nur der Schnee schon ....

Sonntag, 25 November 1962       )

Aufrecht

Aufrecht wirst du sitzen
hinten auf dem steinernen
Sitz und erblicken
den ehernen Hahn zerbrochen, verrostet,
05 die Augen rollen weg über das Pflaster,
zerschellen in scharfe, farbige Splitter.
Wieder wie ehemals aber wird herein durch die Tür
die letzte Grille
singen, die sich vor dem Erfrieren | nicht fürchtet:
10 Und siehe da, draussen schiebt einer pfeifend
ein neues Fahrrad vorüber.

Dienstag, 27 November 1962       )

Planke

Nur wer die schmale
Planke erklettert, erkennt
die ausgestorbene Stadt in den Farnen,
nur wer die schmale Planke entlang der
05 nie  vollendeten Pyramide
erklimmt und erklettert, erkennt
die ausgestorbene Stadt mit den
vertrockneten Toten, von deren
Knien die Katzen
10 äugen und hüpfen.
Nur wer die schmale
Planke erklimmt und erklettert, erkennt
zwischen den stinkenden, toten
Armen des Nils, die
15 ausgestorbene Stadt, die das Farnkraut // 083
vor dem riesigen Flugzeug
verbirgt.
Nur wer die schmale
Planke erklimmt und erklettert,
20 der schwankt und taumelt und springt
in die ausgestorbene Stadt und
füttert die hungrigen Katzen.

Dienstag, 27 November 1962       )

Flugzeug

Dröhnen schreckt dich hoch
aus dem Schlaf, ein grosser
Schatten begräbt dich.
Doch vom Sims glänzt
05 gelb und glättet die Federn
und zittert und singt dir
ein winziger Vogel.

Samstag, 01 Dezember 1962       )

Gärten

Wir hätten die Gärten geplündert,
die verdorrten Blumen auf Karren
geladen und hoch
aufgeschüttet am Hauptplatz,
05 wir hätten sie angezündet,
wir wollten
Doch da fuhr auf einmal ein warmer
Wind, unverhofft, in den Winter,
wir rissen
10 die Blumen herunter vom Haufen
wir beluden
von neuem die Karren und fuhren
sie zurück in die Gärten und legten
sie auf die Beete.
15 Wir stehen am Zaun, und wir warten, // 086
bis der warme Wind sie zum Leben
erweckt, der warme Wind mitten im Winter.
Wir hatten die Gärten geplündert.

Sonntag, 02 Dezember 1962       )

Terrassen (A*)

Von der Hochterrrasse
schweben und schaukeln die Federn
hinab zur Tiefterrasse.
Dort gackern die Hühner,
05 picken Körner
aus den Kieseln, gebückt,
sehn nicht zurück, nicht
hinauf zur
Hochterrasse: Dort rupft die
10 Köchin Fasane. Denn // 088
morgen ist Weihnacht, ein Fest,
zu hoch für Hühnerbraten. Die Federn
der toten Weihnachtsfasane
schweben und schaukeln.

Sonntag, 02 Dezember 1962       )

Terrassen* (B)

Die Federn schweben und schaukeln
zur Tiefterrasse hinab. Dort
picken die Hühner Körner
aus den Kieseln und blicken 
05 nicht zur Hochterrasse zurück, 
wo die Köchin zum Fest,
das für Hühnerbraten zu hoch ist,
rupft auf dem Geländer die toten
Weihnachtsfasane.

Sonntag, 02 Dezember 1962       )

Strauss (C*)

Der Strauss stapft durch den
Sand gravitätisch, ein Spiegel
liegt und blendet und hält ihn, er
sieht sich, erkennt: ich bin ja kein Pfau. Er tritt
05 in den Spiegel, er schreit, er
fällt in die Scherben.

Montag, 03 Dezember 1962       )

Käfer (A*)

Wenige Käfer beleben
die Blätter, ein Rücken
der Schultern genügt
eine Bewegung unsrer Hände,
05 dass sie sich wenden, ersterben:
Bleib still!

Montag, 03 Dezember 1962       )

Käfer (B)

Einige wenige Käfer
kriechen, beleben die Blätter,
die zu erfrieren beginnen im Schein
der nahenden Lampe. Ein Rücken
05 der Schultern, ein Zittern
deines Fingers reicht, dass die Blätter
sich wenden, ersterben:
Bleib still!

Montag, 03 Dezember 1962       )

Mäuse

Im Tor
ist nur ein winziges
Pförtchen geöffnet.
Wir tragen die Halme
05 alle einzeln hinein.
Die Enkel erst werden,
blind zwischen stiebenden Haufen
unsere Tänze
hüpfen, bis sie in der dunklen,
10 stockdunklen Höhle ersticken.

Samstag, 08 Dezember 1962       )

Fegen

Mit dem Besen feg ich die Fliesen
rein vom Schnee, bis mich das böse
Kreischen und Kreisen der Möwen
beängstigt, bis das Picken und Hacken
05 in mein Gesicht, meine Hände
vom See mich wegschreckt
die Wege hinauf, wo die Wagen
in weissen
Reihen, Käfer, welche die Zeit zum
10 Weiterkriechen erwarten,
leichenstill liegen. Hätten die Möwen // 094
nicht meine Augen vergessen, ich wäre blind
und ich sähe
nicht aus der Höhe das Geländer, die in der Ecke getürmten  
15 Tische und Stühle, säh nicht versinken
im Schnee den Besen, den ich liegen liess unterm
Kreisen und Kreischen,
unterm Picken und Hacken der Möwen.
Ich sähe nicht verschwinden die Fliesen.

Dienstag, 05 Februar 1963       )

Teich

Hüpfen die Steine über die
Fläche,
regen sich plötzlich die Züge
des längst erstarrten Gesichts.
05 Aber der Rauch steigt
auf am Horizont und verdüstert
grau das eben erwachte
zaghafte Lächeln.

Dienstag, 05 Februar 1963       )

Krokodile

In den gläsernen Häusern erfroren
die Krokodile. Wir sind der Reisen zum Nil
müde geworden. Wir holen uns lieber
die winterbeständigen Echsen
05 unter den Steinen am Bachrand
hervor, und wir lassen die Leichen
der Krokodile liegen, damit die Kinder
sie bestaunen und sich mit den Träumen
von Reisen zum Nil,
10 den wunderbaren Träumen begnügen.
Damit sie als die ersten
sich endlich begnügen

Dienstag, 05 Februar 1963       )

Reisen zum Nil

Wir haben die Reisen zum Nil
nicht wegen der Pyramiden und nicht wegen
der Felsengräber am Ufer
begonnen. Sondern nur wegen
05 der toten Arme voll
brackigen Wassers. Nicht aus Neugier
auf die Reste unerweckbar vergangner
Könige. Sondern nur wegen der toten
Arme brackigen Wassers.
10 Dennoch werden wir nie mehr eine Reise
zum Nil machen. Wir sahn ihn genauer
in unsern Träumen zuvor. Da war
das Wasser dunkler. Der Lehm
roch, und stundenlang lag
15 das Krokodil im Schilf mit
unbeweglichen Augen.

Mittwoch, 06 Februar 1963       )

Gebüsch

Man kann auf und abgehn am Ufer,
man kann nirgends den Fussbrand
löschen. Der Nil
führt fast kein Wasser. Doch in die
05 Binsen kann man sich setzen. Da ists
zuweilen noch feucht, obwohl auch hier
die kleinen Enten schon liegen
wie tot und langsam verdursten.
Trotzdem, trotzdem
10 soll man dort bleiben und warten,
soll man die heissen
Augen offen halten. Denn plötzlich // 099
zeigt dir die Sonne an
der sonst immer finsteren Rückwand der Höhle
15 über dem Fluss
des Pharaos Lächeln.

Donnerstag, 07 Februar 1963       )

Türen

Schlage die Türe nicht zu, wenn draussen
die Milch allmählich über den Himmel
herabrinnt. Habt ihr
je gehört, dass der Milchschaum schon einmal
05 in den Kanal floss und dass er
weiss überquoll und ins Haus drang?
Bis dahin ists noch eine Weile
Ein Windstoss müsste voraus // 101
fahren und von eurem Tisch
10 wischen die grosssprecherischen weissen
Blätter.
Bis dahin ists noch eine Weile.

Samstag, 09 Februar 1963       )

Feuerstelle

Von der im Dickicht versteckten
Feuerstelle mögen tausend
Vögel im Rauch über die
Winterwipfel steigen.
05 Durch die Dünste verwirrt, verlieren sie schnell
an Höhe über den Kaminen der Vorstadt.
Das laute Summen der Autos
verstört sie. Verwirrt und vergiftet
sacken sie ab, wenn die Feuerwehrwagen
10 an den in bösem
Summen erstarrten // 103
Autos rot vorüberheulen.
Die Vögel stürzen auf den
Hauptplatz in der Sekunde,
15 in der er gelähmt leer liegt:
Ein schwärzlicher Haufen; man holt
aus der ganzen
Stadt die Besen zusammen, die ihn aufkehren und mit den …
Der Schuttabladeplatz ist nicht weit
20 von der im Dickicht versteckten Feuerstelle,
er ist ganz nah von den Winterwipfeln.
Der Rauch ist weggeweht.
Wenn man die Luft
tief einzieht, kann man ihn eben
25 noch riechen.

Freitag, 12 April 1963       )

Kinderschreie …*

Kinderschreie verirrten
sich in den Tagschlaf,
sie waren abgeprallt an den Fenstern
des Zugs, der vorbeifuhr
05 und der sich nur immer
weiter, weiter entfernt

Sonntag, 02 Februar 1964       )

Neun Hasen / 1

Ich teile die Zweige
nicht mit Geweihen,
mein Schritt knackt nicht und
bricht nichts. Mein Ohr
05 beugt sich unter dem kleinsten
Ästchen, ich schreite nicht,
geh nicht und komme
nicht an. Ich bin
nur ein Knistern, ein Rascheln,
10 ich bin ein Zittern im Gras
ein Wippen der Zweige, nein,
nicht hier bin ich, nicht
dort, ich bin überall.

Sonntag, 02 Februar 1964       )

Neun Hasen* / 2

Ich warte im Schnee,
bis du kommst, bis du mir
entgegen-
hüpfst, Häsin, du
05 frorst ja schon lang, und ich habe
ein Nest
in den kahlen, bereiften
Weinbergen gerichtet, ein Heim
uns zu hegen.  Woher
10 weisst dus? – Ich sah
deine Ohren sich leise,
Liebe winkend bewegen.

Montag, 03 Februar 1964       )

Neun Hasen* / 3

Nun sitz ich, Hase, 
zwischen Federfächern,
man trägt mich,
Sphinxe, links und rechts, zum Grab
05 die Weihe zu empfangen von dem
grossen Pharaonen,
und der Priester flüstert:
Halt steif die Ohren, Hase,
du bist erst am Anfang,
10 bewähre dich,
du Herrscher-Hase, Hase-Pharao.
Die Ohren hebe ich, die Fühlerhaare
steif gestellt und stolz die Augen
gesenkt. Du weisst nicht, Priester,
15 dass ich an dem Grab,
wo man mir jetzt die Mumie eröffnet,
dass auf dem Tragthron zwischen Federfächern // 108
noch immer träume von dem Gras, dem Klee,
den Raschelbüschen und den Reben
20 des Dreiländerschläferwinkels<,>
am Grab des grossen Pharaos
auf dem Tragthron zwischen Federwischen
vergisst der Hase nicht den ersten
sauren Wein

Samstag, 29 Februar 1964       )

Neun Hasen* / 4

Streunt nicht, böse,
verwerfliche Häschen, hier in den Büschen,
hier im Gehölz:
da liegen begraben die alten
05 Hasen aus den wilden
Zeiten, bevor es hier Reben
gab, bevor hier das Haus
stand. Lasst sie in Ruhe, den Beeren
ist es gestattet, den überreifen,
10 zu tropfen auf die in Büschen und im Gehölz
versteckten Gräber:
Haltet ein mit den Spielen, dem Gappen
am Zaun, richtet die Ohren
auf, lieber, und lauscht dem
15 Tuten der Schiffe vom Strom
herüber, lasst schlafen die alten, // 110
die wilden Hasen, nur die
sachte tropfenden Beeren,
die schwarzen
20 Brombeeren mögen sie stören,
dass sie sich drehen und gähnen
im Grab. Streunt nicht<,> böse,
verwerfliche Häschen, hier in den Büschen,
hier im Gehölz.

Montag, 02 März 1964       )

Neun Hasen* / 5

Wippt nur, ihr weissen, ihr kleinen
Häschen auf den Ästen,
springt und hüpft,
Akrobaten und Tänzer
05 von einem Zweiglein zum andern:
hinunter springt und hinauf,
dass der Schnee von der Rinde
fällt und ihr allein
weiss dasitzt:
10 Ja, bald dasitzt mit hoch
aufgerichteten Ohren,
weil über den Weg kommt herüber,
naht und euch anschaut,
der, den ihr fürchtet, der grosse und braune,
15 uralte heilige Hase – Seid still!

Mittwoch, 04 März 1964       )

Neun Hasen* / 6

Du wirst mir gestatten,
dir für deine Einladung zu danken,
nicht zu dir in den Fluss hinabzu-
steigen, nicht zu wohnen mit dir,
05 Flusshase zwischen den Steinen,
nicht auf- und abzuschweben
im Wasser, die Ohren
als Flossen benutzend:
Du wist mir gestatten, Landhase,
10 Dorfhase zu bleiben wie bisher
und Wache zu halten zwischen den Reben
den Hecken dem
Gedächtnis der heiligen Ahnen,
der uralten neun hier begrabenen Hasen.
15 Verzeih, du musst mir gestatten.

Samstag, 07 März 1964       )

Neun Hasen* / 7

Obwohl nur Hasen,
Hasenherzen seid ihr nicht, ihr kleinen,
ihr springt mit euren flinken Beinen
über den kahlen Wasen,
05 wisst ihr doch genau,
jetzt, da die Tage grau,
da schleichen
die Jäger aus der Stadt heran,
die bösen, bleichen,
10 mit den reisserischen Hunden.
Nun, wenn es einem mal nicht glückt,
und er geduckt, gebückt
unter federndes und bräunliches Geäst
der Häscherschnauze todesknapp entrinnt, // 114
15 dann ganz zuletzt und haargenau
[er] unters Retterdach er flüchtet
dort streichelt, kost mir fort bis auf den letzten Rest,
bevor die Sonne hoch die Morgendünste lichtet,
die atemschnelle Angst der Hasen liebe Frau.

Alternativ-Ansatz zu V. 17-19:

und hab gefunden,
die mich streichelt
und fort mir kost bis auf den letzten Rest,
bevor die Sonne auf die Morgendünste lichtet,
die atemschelle Angst: der Hasen liebe Frau.

Sonntag, 08 März 1964       )

Neun Hasen* / 8

Ich lausche, laure, äuge an der Mauer,
und fange
Musik in meine hohen Ohren,
die aus deinem
05 Glashaus fliesst, Schneewittchen,
wo du auf deinem Schlafturm
durch die Nacht
schwankst: Blaue Musik
fliesst heraus durch alle Ritzen,
10 füllt den Graben, netzt
meine Läufe, schon
steht sie blau mir an die Ohren,
blau steht sie rings Musik,
ich schwimm in Bläue,
15 oben drüber schwankst du // 116
auf dem Schlafturm, mein Schneewittchen:
wenn du wüsstest, dass dein Hase
in der blauen Tiefe wacht,
bis du ihn suchst ....

Montag, 09 März 1964       )

Neun Hasen* / 9

Von dir zu mir ists nur ein Hasensprung,
ich warte nur bis die Strasse frei,
dann komm ich rüber in die Brombeerhecke,
und bring dir Kohl, den ich auf dieser Seite fand:
05 die eine Seite mir, die andre dir,
die süssen Beeren und der würzige Kohl,
wir träumen, wenn die Nebelhörner tönen
vom Fluss herauf, als ob noch alles
Gebüsch und Gras und Reben wäre,
10 ein Rascheln und Hüpfen, Zweigebrechen // 118
nur zwischen uns. Doch heute ist,
der Tag erweists:
Von mir zu dir ists heut ein Hasensprung.

1964 * (nicht datiert)       )

Neun Hasen* / 9 b

[ Mit meinen langen Hasenohren
will ich den Dünkeldunst durchbohren,
mit meinen Ohren, scharfgespitzt,
der Thron, auf dem du eitel sitzt,
05 sei aufgespiesst,
dass an du schweisst,
dein Hintrer lang noch Löcher weist.
So ist die Kränkung all gerochen,
dein Lügenparavent zerbrochen:
10 mein Hasentum ist nicht geringer
als]

Freitag, 01 Mai 1964       )

Historia Sti. Viti / 1

Schirme unter dem Regen,
Schirme unter der Sonne,
Schirme offen, geschlossen
fahren vorüber im Wind
05 an klatschenden Fahnen. Die Hand
klatscht auf deine Wange und ruft Sturm,
die Schirme fliegen weg, und die Masten
krachen. Die Hand
verdorrt, und der Richter
10 flüchtet über die leergefegten
Treppen im Regen. Aber
Dein spöttisches Lächeln
holt ihn ein und heilt ihn.
Er spürt es und sieht es, beschleunigt // 121
15 sein Flüchten. Ein Kind
spielt mit ihm und schlägt ihn und heilt ihn,
den nicht einmal die vielen
Schirme bedecken, beschützen.

Freitag, 01 Mai 1964       )

Historia Sti. Viti* / 2

Späh nicht durch die Türe, durchs Loch
ohne Schlüssel. Das Licht
trifft dich ins Auge. Die Sieben
Engel stehn drinnen im Kreis und haben die Flügel
05 aus den Futteralen genommen, das Kind zu vergnügen. // 122
Was kümmern die Schlüssellochspäher, die nur
Regengräue gewohnt sind?

Freitag, 01 Mai 1964       )

Historia Sti. Viti* / 3

Und ein Adler bringt dir Brot aufs Schiff.
Es stürmt, du brichst, kannst nicht essen.
Doch ein Adler, ungerührt, fährt vergnügt
übers Wasser, lässt von der Gischt
05 sich die Flügel
bespritzen, bringt dir Brot aufs Schiff,
Ist er doch, auch wenn der Magen
sich dir umdreht, wenn du brichst, // 123
weils die Legende will, verpflichtet, dich zu nähren:
10 Aber geh zurück, mein heiliger Vitus,
in die Kajüte, sei getrost, es gibt
keine Adler mehr, man hat
dich nur geneckt. Doch tröste dich, in der Kajüte
steht die Tüte schon bereit.

Freitag, 01 Mai 1964       )

Historia Sti. Viti* / 4

Nicht dass der Löwe mich reisst, fürchte ich, heiliger Vitus,
nicht ihn sollst du blenden, schlagen und zähmen,
nicht das Eisen [fürchte], womit man mich schlägt
worin man mich im Keller
einschliesst und beschwert, fürchte ich heiliger Vitus,
05 nicht davon sollst du mich lösen<,> befreien. // 125
Nicht vor dem Hunger auf vieltägig wütender See
sollst du mich, heiliger Vitus, bewahren,
nicht sollst du den Adler mir mit dem
Brot schicken, heiliger Vitus,
nicht sollst du mich vor der Folter,
10 wo man mich zwickt, nicht vor dem Ofen,
worin man mich brännte, heiliger Vitus bewahren.
Nicht von den stürzenden Massen
der Tempel sollst du mich, heiliger Vitus wegrücken,
nicht dem krachenden Beben
15 der Erde entheben: heiliger Vitus: 
den Löwen, die Folter, das Beben, den
Hunger, die Stürme
kann ich ertragen. // 126
Nur dieses, dass mir das Licht der Sieben,
die dich umstehen,
dass mich das höhnische Gleissen der
20 Flügel blende und mir verbrenne
dein Bild, erspare mir heiliger Vitus.
Dass ich ohne dein Winken und Nicken,
womit den Weg du mir zeigst, flattre und tappe, 
erspare mir heiliger Vitus, // 127
25 vor dem Spotten und Kichern der Engel
dem Tappen und Stochern und Flattern,
bewahre mich heiliger Vitus.
Bleib über mir und nicke und winke,
leite mich, heiliger Vitus.

Samstag, 02 Mai 1964       )

Historia Sti. Viti* / 5

Wenn das Haus von dem letzten Autobus zittert,
dröhnend fährt er oben vorbei,
fallen dir unten, heiliger Vitus, im Keller
die Ketten ab und du liegst
05 für den Rest der Nacht in dem Licht, // 128
das keiner anknipste. Die Wächter
suchen und schimpfen und raten: waren
die Schalter doch wohl verschlossen.
Dir weht, heiliger Vitus,
10 der Wind vom Meer und von den Flügeln der Adler
durch die helle Zelle.
Der letzte
Autobus fährt oben vorüber. Das Haus
zittert. O lass mir
15 auch in der Nacht
immer ein Licht, das kein Wächter
löscht und lass mir, heiliger Vitus,
durch den Kellerkerker
immer den Wind vom Meer
20 und immer den Flügelwind
ziehn der spielenden Adler. // 129
Darum, heiliger Vitus, bitte und flehe ich dich
wenn der letzte Autobus oben
vorbeifährt und die Scheiben
25 im Kerkerkeller erschüttert.

Sonntag, 03 Mai 1964       )

Historia Sti. Viti* / 6

Du hast immer nur Pilze gefunden,
auch unter der Mauer am Goldenen Horn,
unter den Brombeersträuchern und unter
den wilden Rosen, hast du, heiliger Vitus,
05 immer nur Pilze gefunden.
Dir bewahren die langen Regen im Winter, // 130
die langen Regen im Herbst die weichen, würzigen Pilze.
Den andern fielen Stachelbeeren zu und trockene Sommer-
heckenrosen. Dir immer die Pilze
10 Und auch jetzt zuletzt an der grossen thrakischen Mauer,
als dich die Gendarmen des Krösus schon erspähten
und mit den Taschenlampen dir
nachleuchteten, krochst du in den
leeren Sarkophag. Der Boden war feucht
15 und weich und roch würzig: 
Ein Polster von Pilzen.
Die Gendarmen liefen und kamen und holten
dich hervor aus den Pilzen. Du fandest, // 131
heiliger Vitus, dein Lebtag immer nur Pilze.
20 Segne uns, heiliger Vitus, den langen Regen mit Pilzen.

Montag, 04 Mai 1964       )

Historia Sti. Viti* / 7

Auf der Zinne der thrakischen Mauer
picken die Adler einander und streiten
sich um das Brot, das sie dem heiligen Vitus
bringen sollten. Zerbeissen es, und es fällt in
05 Krümeln den Wachen auf die Nase.
Indessen treibt der heilige Vitus
flüchtig im Marmarameer // 132
mit knurrendem Magen. Unverlässlich sind selbst
die vorher verkündeten Adler.
10 Unwürdig ihrer mythischen Rolle,
zanken sie dort um ein Stück Brot
auf der thrakischen Mauer, vergessen
des armen heiligen Vitus.

Dienstag, 05 Mai 1964       )

Historia Sti. Viti* / 8

Dass ich stumm würde, heiliger Vitus,
könnt ich mir denken,
dass ich stumm würde und auf immer zu reden verlernte:
es bräuchte kein Gefängnis dazu
05 und kein Verhör, keine Folter,
worin man mir die Zunge
ausrisse. Auch so, könnt ich mir denken,
dass ich stumm würde, von einem Tag auf den andern
Aber auch so, und erst recht
10 will ich dann zu dir beten, heiliger Vitus,
nicht dass du mir öffnest die Ketten und Kerker, // 134
nicht dass du die Adler mir schickst auf das Schiff,
mich zu nähren,
Nein, stumm will ich dann zu dir beten[.]
15  und nur um eines, dich heiliger Vitus, dann bitten<,>
lass mich stumm, lass mich nie wieder reden.
Darum nur bitt ich dich, heiliger Vitus.

Dienstag, 05 Mai 1964       )

Historia Sti. Viti* / 9

Die sich zurück wandten alle
stürzten unter den stürzenden Tempeln,
den stürzenden Bildern der Götter.
Nur jenen, die schnell genug flohen, gelang
05 es, der Stadt zu entkommen
und den Engeln zu folgen,
die dich, heiliger Vitus, hinaus
trugen, dich legten ans Ufer
des Flusses. Da fanden im Schilf,
10 sie dich tot und nach allen
Foltern unverletzt, bereit zum Begräbnis.
Nur wenige warens, wenige, die flohen, entrannen,
die es erfuhren, dies wussten und für immer bewahrten.

Mittwoch, 06 Mai 1964       )

Historia Sti. Viti* / 10

Was wäre, wenn dir auf das Schiff die Adler
<nicht> täglich dein Brot gebracht,
was wäre, wenn die Folterknechte nicht
von Blitz und Donner, von Sturm und stürzendem Gemäuer
05 erschlagen worden, wenn die sieben Engel
dich in dem zugesperrten Zimmer nicht getröstet,
sag, O heiliger Vitus, auch, was wäre dann?
Wenn die Adler deinen Leichnam
 nicht im Schilf am Fluss bewahrten,
mit bösem Picken die Gaffer dir vertrieben hätten? // 137
10 Sage, heiliger Vitus, was wäre dann, wer wüsste,
ohne Wunderzeichen,
ohne Adler, Engel, Beben, Blitz und kuschenden Löwen, dass du
nicht bloss ein kleiner Quengler, dass du der heilige Vitus bist?

Dienstag, 12 Mai 1964       )

See

Hätte der Wind, als die Wolkenwand sich heranschob,
nicht auf einmal innegehalten, schwämmen die Blätter
jetzt nicht so ruhig, hingen
die Zweige nicht so, reglose Angeln, über dem See.

Freitag, 15 Mai 1964       )

An der Tür

Die gesprenkelten Vögel picken die Stunden,
die aus unseren gähnenden
Mündern fallen: wir halten
an der Türe von Morgen bis Abend
05 Wache und werfen ein paar Krümel
zuweilen
zwischen die Stunden. Die Vögel
wanken und zögern, eh sie // 140
auch diese picken, die Stunden
10 aus unsern
gähnenden Mündern
nähren sie besser,
die gesprenkelten Vögel, die
an der Tür
15 um unsere Füsse
flattern und kreischen.

Mittwoch, 20 Mai 1964       )

Treppen

Willst du alle die Treppen
hinunter laufen,
die Stufen
hinunter, rennen und laufen 
05 du könntest
stolpern und stürzen.
Unten
warten die Löwen, die Tiger,
warten die Nesseln,
10 Löwenzahn wartet,
es wartet ein erster  ein blauer Admiral,
riecht¿ und fängt dich,
zieht dich ein,
verschlingt dich:
15 gelb, gelb.
Nun bleibe, nun warte.
Bis man darunter 
die neuen Treppen 
gebaut hat:
20 Dann wirst du weiter
laufen, rennen, stolpern und stürzen, // 142
dann Löwenzahn wieder
und Nesseln.
Gelb wieder, brennend.
25 Warten und ruhen ….
ein Admiral ein zweiter,
ein blauer.

Samstag, 25 Juli 1964       )

Anziehung und Widerstand

Wenn es hinabtropft,
wenn es hinabtropft in die offene Grotte
das Wasser:
sammeln in der steigenden Stauung
05 sich die Vögel,
flattern, drängen sich, trinken.

Aber nach kurzem
werden sie fliegen und steigen,
werden sie fliehen aus der geschlossenen Grotte
10 ins Freie:
die weissen, die ängstlichen Flügel.

Samstag, 29 August 1964       )

Nachmittag am Meer (A*)

Hoch oben zwitschern die Vögel ins Leere,
und wenn sie stürzen, sind sie
schon zur Hälfte verwest 
In die Scharnieren der Maschine, die rostet,
05 sind die Früchte vom Baum
herunter gefallen. Wir hätten
sie gepflückt, wenn das Meer,
seine geschliffenen Messer
unermüdlich hin und her wendend,
10 uns nicht geblendet.
Und jetzt das Zwitschern. …

Samstag, 29 August 1964       )

Nachmittag am Meer (B)

Die Vögel kreischen in leeren
Höhen, und wenn sie im Sturz
unten anlangen, dann sind sie
schon zur Hälfte verwest.
05 In die Scharnieren der
Maschine, die rostet, sind vom Baum
die Früchte heruntergefallen.
Wir hätten
sie gepflückt, wenn das Meer,
10 seine Messer unermüdlich schleifend und wendend, 
uns nicht geblendet, verscheucht<.> 
Und jetzt dieses Kreischen …

Sonntag, 30 August 1964       )

Concerto I

Die Zweige wippen hin und wieder
und trügen die Vögel, wenn die nicht
verschmähten, zu sitzen,
nicht kreisten in weissen
05 Höhen und sängen,
ihr Trillern würfen hinab
auf die Zweige, die wippen.
Dann fiel es tiefer,
bis die Schlenderer es mit den Händen
10 fingen:
Wie das Küken
girrt, wie die
gläserne Kugel verwirrlich
schimmert: Du wirfst
15 sie weg, dumpf liegt sie
im Staub. Weilt¿ nicht mehr,
unbeweglich, der Esel.
In der Höhe das Wippen der Zweige …

Sonntag, 30 August 1964       )

Concerto II

Unten kriechen wir,
unten, in den tiefen Lagen,
in den Gängen, den langen
Höhlen, durch die schwarzen
05 schlüpfrigen Schichten
der Korridore, die vor uns
blinde Schlangen gegraben.
Dort an der Ecke stossen wir auf sie:
Sie liegt tot und riesig. Erschreckt uns, sodass uns
10 die Grubenlampe entfällt und erlischt.
Nichts mehr stört die Finsternis,
bis ein Schiff oben vorüber
fährt, und mit der Drehung der Schrauben
das Untermeerische Bergwerk erschüttert.
15 Fernlärm,
der die dunklen Lagen aufreisst // 148
und das Wasser durch die Spalten hereinschickt.
Sodass wir mit den blinden,
Gänge bohrenden Schlangen,
20 unten bleiben, unter dem Meer
und mit dem Archeopteryx,
der mit entfalteten Schwingen
lange schon da ruht,
lange verborgen.

Montag, 31 August 1964       )

Keller

Hätten die Fledermäuse den Winter
überstanden im Keller, wir sässen
jetzt nicht im Staub der Kadaver,
die in der Hitze zerfielen.
05 Wir rissen uns nicht die Hemden in Fetzen,
um damit die starre
Luft zu bewegen:
Nein, es genügt nicht, sie steht,
ein lichtloses Feuer,
10 das nur die Hupen der auf dem Fluss
ziehenden Piratenschiffe durchdringen.

Hätten die Fledermäuse den Winter
überstanden im Keller,
ihr Geflatter würde die starre // 150
15 finstere Hitze bewegen. Und vielleicht
würde das Rauschen ihrer kralligen Flügel
uns weniger schrecken als die
Piratenschiffe, die auf dem Fluss
fern draussen hupend davonziehn.

Dienstag, 01 September 1964       )

Schaukel

Die Schaukel fährt hinab ins samtne
Gebüsch, fährt wieder zurück zum
Abendstern und zum
Schnitz der Orange, der noch
05 zögert zu glänzen.
O dort empfangen die
mit Gold die Finsterrnis durchwebenden
Käfer dich, und hier die das Licht
schwarz verhängenden Krähen …
10 Willst du auf der Schaukel
bleiben, willst du fahren von einem
Zweifel zum andern?
Willst du nicht lieber dazwischen
abspringen und in den Gräsern // 152
15 warten, dass man das grosse
Zelt gleichmässig ausspannt?

Samstag, 05 September 1964       )

Unter den staubigen Blättern …

Unter dem staubigen Busch tickt
noch der Wecker.
Der Landstreicher liess ihn liegen, als er am Morgen auffuhr,
weil ihn der Wächter des Ortes verwies:
05 „Das Schlafen in den
staatlichen Gärten ist nicht erlaubt?

Unter den staubigen Blättern liess er
den tickenden Wecker
liegen, als er floh und nur eben noch Zeit hatte
10 und Gedanken für den Sack mit der Schlange, // 154
die er aus diesem Garten
wegtragen wollte. Denn es ist verboten,
Schlangen wegzutragen aus den staatlichen Gärten.
So sah der Wärter nur auf den Wecker.
15 Auf die Schlange allein kam es dem Landstreicher an,
als er auffuhr aus dem Busch, aus den staubigen Blättern.

Mittwoch, 09 September 1964       )

Wenn du mit entfalteten Segeln …

Wenn du mit entfalteten Segeln
von oben herab kreisest und torkelst, dann achte
drauf, dass du nicht in die Drähte gerätst und nicht
ins Gestänge der Ölraffinerien,
05 nicht in die Flammen, die aus dem Kamin
der Kokereien lecken nach dir.
Achte drauf, dass dich nicht die Düsenjäger
reissen, dass
dich nicht, Riesenlibelle,
10 aufspiessen die Schlote.

Wenn du mit entfalteten Segeln 
von oben herab kreisest und torkelst, // 156
dann lass dich eher fangen von den Kronen der Bäume,
da mögen die Pflücker dich finden befreien,
15 lass dich eher am Fuss fassen vom Meer, das zum Herbst
sich in Wellen erregt, lass dich fassen und treiben.
Lass dich eher von der Leine der Drachen fassen und reissen
auf die Wiese zum Staunen der Kinder.

Denn freilich oben kannst du, auch mit entfalteten Segeln,
20 oben kannst du nicht bleiben.

Freitag, 11 September 1964       )

Die Kugel

Ich kann im Gewucher die Kugel nicht finden;
ich kann im Gestrüpp, unter den Stachelzweigen,
ich kann im Gewirr der klebrigen Stauden,
ich kann die Kugel nicht finden.
05 Hier zwischen den Wurzeln freilich
blitzt es – Wer weiss, ob nicht
einer die Kugel zertrat.
Wer weiss ob hier nicht ihre Scherben
liegen. Sie fiel mir heute früh aus dem Fenster.
Ich kann im Gewucher die Kugel nicht finden,
die in allen Farben schimmernde Kugel // 158
10 ich kann sie im Gestrüpp und unter
den Stachelzweigen nicht finden:
Wer weiss ob nicht hier zwischen den
klebrigen Stauden
die Scherben liegen und blitzen.
Ich kann die Kugel nicht finden.

Seite 1 von 2
Notizbuch 1961-65 (alph.)
(Total: 119 )
Notizbuch 1961-65 (Folge)
(Total: 119 )
Suchen: Notizbuch 1961-65