Notizbuch 1957-58

Inhalt: 39 Entwürfe zu 39 Gedichten, 1 Dramenkonzept (1 Endfassung), Motiv-Notizen
Datierung: 8.4.1957 – 14.6.1958
Textträger: Hellbraunes Notizbuch, Bleistift
Umfang: 130 beschriebene Seiten
Publikation: GEDICHTE (12 Gedichte), Verstreutes (3)
Signatur: A-5-d/01 (Schachtel 29)
Spätere Stufen: Manuskripte 1957, 1958, Typoskripte 1957, 1958
Kommentar: ab S. 124 Motiv-Notizen
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften (ohne die Motive)
„Nicht dass ihr glaubt, ich ertrage
nicht, was meine Mutter erlitten,
ich brächte, der ich alles leiste,
dies nicht zustande:
05 einen Knaben zu gebären und ihm das Geheimnis
meiner Macht, meines Ruhmes zu lassen.
Nur ihm, nur ihm will ich kundtun,
warum es dem einfältigen Grosshans gelang,
die Hunde vor meinem Thron zum Singen zu bringen,
10 und die steinernen Bilder im Garten,
auf den Zinnen des Hauses zum Lachen. // 004
Ihm will ich es sagen,
im innern Gespräch, das ich mit ihm
führe geheim vor seiner Geburt.
15 Denn nur in diesem Tragen,
nur in diesem Schmerz entsteht die notwendige Einung,
daraus der Erbe wird meines ewigen Reiches.
Das stets nur ein Gott wie ich selber beherrsche.“
Spricht der Kaiser
20 und bricht in das von den Ärzten
bereitgehaltene Goldtuch den Frosch
mit vielem Gekotze und Blut,
sodass sich die Diener die Nase zuhalten. // 005
„So aus Kot wächst die Schönheit,
25 abgerungen dem Widerstand des Gemeinen¿,
der Gott steht am Ende“,
stöhnt der Kaiser,
indes man den Frosch, in Prozession
bringt in die vorbereitete Kammer an der äusseren Mauer.
30 Damit er dort wachse hinterm goldenen Gitter,
empfange die Huldigung des aus- und einziehenden Volkes.
Aber am Tag, wo man den Kaiser fand im Schwert seines Sklaven,
feiste, blutige Qualle am Boden, // 006
verbrennen mit Reisig die Knaben der Vorstadt den Frosch,
35 der durch die Stäbe des Gitters
entkommen war,
verbrannten ihn, aus Furcht, den Erben des ewigen göttlichen Reiches.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1957-58
- Details: Ortsangabe: Hamburg
- Besonderes:
Notat im Notizbuch 1955-1957, S. 120:
Nero „gebot, seine Mutter zu töten und aufzuschneiden, damit er sähe, wie er im Mutterleibe hätte gelegen.“ Die Ärzte wollen nicht. Darauf N.: „So machet, dass ich schwanger werde und einen Knaben gebäre, damit ich wisse, wie gross der Schmerz meiner Mutter mag gewesen sein.“ Leg. aurea S. 435 f.
„Simon der Magier aber war bei Nero in solcher Gunst, dass man ihn ohne Zweifel für einen Hüter hielt über des Kaisers Leben und Heil und über der Stadt Wohl. Leo der Papst erzählt, dass Simon eines Tages vor dem Kaiser stand, da verwandelte er unversehens sein Antlitz, dass es bald alt, bald jung erschien.“ Nero hält ihn nun für Gottes Sohn. Leg. aurea S. 429
Simon Magus „bewegte eherne Schlangen durch seine Kunst und machte eherne und steinerne Bilder lachen und Hunde singen.“ Leg. aurea S. 428
Nero gebiert einen ihm von den Ärzten in den Leib praktizierten Frosch. Lässt ihn in einem Gemäuer+ aufziehen, weil ihm die Ärzte einreden, es würde daraus ein Knabe werden, er selber habe bei der Geburt auch so ausgesehen. –
+ weiter oben: „bedeckten steinernen Gemach“ - Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-d/01
- Seite / Blatt: 003. 004, 005, 006
„Ich habe das Grabmal,
da man mir von Duft und von Lichtern
des Nachts öfters erzählt
– Staune – geöffnet
05 und fand sie daliegen die Schwester.
Und sie liess mir, – staune –
den Ring ihres Fingers,
lächelnd,
sodass ich ein Glänzen
10 wahrnahm in ihrem Mund,
ein Glänzen sah unter den Lidern,
ein Glänzen im Ohr, in den Löchern der Nase.
Und ich war gesund.“ // 008
„Wisse, das war das Gold,
15 das ihr der Kaiser gegeben,
zum ewigen Leben im Grab,
das hält ihr der Seele letztes
Gefolge zurück,
das nun im Leibe irrt und nicht
20 die gesperrten Tore durchdringt,
immer aber hinauswill
und so aus dem Leichnam
den Lebendigen lächelt.“
„Irren will ich nicht mehr
25 und bleiben an der Schwelle des Grabes,
der Schwester leichten Schlummer nächtens betrachten, // 009
die ungeduldig flügelnden Falter befragen,
an ihren Türen.“
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1957-58
- Details: V. 05 Emendation: daligen → daliegen
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung, Letzte Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-d/01
- Seite / Blatt: 007, 008, 009 (oben)
Zu einem Drama, Situationen
1) A. fährt in die Vorstadt, findet den verlorengegangenen Freund, am Eingang zu einem (alten) Grabmal. Erhält nur unbestimmte Auskunft. Erzählung, undeutlich, von einem Mädchen, das er verfolgt habe, das hier verschwunden sei.
2) Sie finden es unten in der Gruft im Gespräch mit dem zur Schau gestellten (im Glassarg) Leichnam: Parallelgespräch // 010 der, unbemerkten, Freunde.
3) Die zwei führen die verwirrte Frau in ein Lokal. (A. hatte B. um seine Anwesenheit gebeten, er fürchtet sich.) C. tritt dazu. Er vertritt den Leichnam, sucht von der Nutzlosigkeit, Unmöglichkeit von Beziehungen zu überzeugen. Das Mädchen (die Frau) und A. fasziniert. B. gerät in den Vordergrund.
4) B. besucht die Frau (trifft sie): seine Lebendigkeit (Primitivität) gefährdet ihre Abstraktheit.
5) C., hypochondrisch, vollkommen leibgierig, erhält A.s Einverständnis, B. zu töten (die verschiedenen Motive!) Ebenso die Frau. // 011
6) Das geschieht aber nicht. C. schreckt vor sich selbst zurück. Oder: wird von B. entdeckt, die Polizei führt ihn ab. Er verzweifelt, weil es ihm nicht gelingt, sich durchzuführen ....
A flieht, unternimmt eine Weltreise, begeht Selbstmord, tritt in eine Armee ein. Wird von dem Paar als klein, unbedeutend, schwankend, als Versager zurückgelassen.
Szenario für „Das Grab“, Fortsetzung:
Zu 2) Nur das Parallelgespräch der Freunde ist ganz zu hören. Das Gespräch der Frau mit dem Leichnam nur halb. Den Part des Leichnams muss man aus den Reden und Reaktionen // 012 der Frau erraten.
Zu 3): C. vertritt den Leichnam so weit, dass er dessen Part aus der vorigen Szene, den der Zuschauer bisher nur in Andeutungen kannte, nur ahnt, nun explizit bringt, als eigenen spricht. Der Schrecken und das Grauen, die Erschütterung der Frau ohne Grenzen.
Zu 4) B., im Gegensatz zu A., ganz ungerührt: für ihn die Geschichte um den Leichnam und C. Mystizismus. Dadurch die Frau für einen Augenblick fasziniert, überwältigt, fällt ihm für eine Stunde anheim. // 013
Zu 5) C. fordert die Tötung B.s aus Leidenschaft zum Geist, aus Hass gegen das Sinnlich-Seelische, gegen das „Fleisch“. Erringt so A.s Einverständnis, obwohl der B. liebt. Ebenso das der Frau: Ihre Gewissensbisse wegen des Vorhergegangenen bewegen sie dazu.
zu 6) A. schwenkt wieder um, verrät den Plan (wie?) an die Polizei (?), an B. (?). C. triumphiert noch im Scheitern seines Plans. A. bleibt zurück, zerfleischt sich selbst, verachtet sich selbst. Er ist das Grab, der Leichnam verwest in ihm.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1957-58
- Besonderes: Fortsetzung 17.4.1957
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Prosanotat
- Datierung: vollständig
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-d/01
- Seite / Blatt: 009 (unten), 010, 011, 012, 013
Der Wind reisst,
trägt endlich die Blüten,
die schon ins Faulige duften,
zur Seite; da liegt der von Düften
05 erstickte Schläfer
weiss, hinein auf der Woge
der Düfte geglitten
in die Mitte des Wirbels,
wo die Sonne dem Saurier
10 nie mehr in die Brust stürzt,
sodass er in Lämmer gesänftigt
über den Himmel sich (ver)streut. // 015
Phantom,
blau, grau, golden,
15 gedreht, golden,
grau blau: Phantom,
im Wirbel gedreht,
verzehrt, Stille inmitten:
Und der Wind trägt die Blüten,
20 die Blätter, die schwer
ins Faulige duften
zur Seite
und Staub von der Strasse
in Ohren und Nüstern und in den halb
25 geöffneten Mund:
Ihm steht still das Phantom, schwarz, // 016
mitten im Wirbel.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1957-58
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-d/01
- Seite / Blatt: 014, 015, 016 (oben)
Nicht küssen lässt sich der Engel die Füsse:
Er nimmt diese Absicht
hin mit Nachsicht und Lächeln:
Glaubst du, dass ich,
05 weil ich im Buschhemd und zerrissnen
Farmerhosen da bin im Park,
gelehnt an den Abfallkorb,
eine Banane angegessen
und neckisch hinterm Rücken versteckt, // 017
10 glaubst du, dass ich
deswegen berührbarer wäre
als andere Engel?
Der Geheimrat wusste es wohl,
als er ihn von weitem sah
15 von seiner weissen Bank aus,
wie er weit hinten stand inmitten
der Kinder und der
scheltenden Mütter,
er wusste es wohl,
20 dass dieser gekommen war
in den gleichgültigen Sonntag,
ihm seine Heilung zu sagen. // 018
Gewiss war es ihm dann,
als die Sonne fester den Nebel umnahm
25 und die Kinder entglitten,
schnell: da blieb er
drüben zwischen den schweren
Todkastanien stehn,
den duftenden, obwohl es
30 schon anfing zu rieseln
und selbst das stupsnasige Mädchen,
das verlegen zwischen den Bänken
auf- und abging,
sein Rad nahm und wegfuhr –
35 er hatte, um den Duft von schlechter
Seife und Parfüm zu vermeiden, // 019
die Bank schon dreimal gewechselt –
Dem Geheimrat lächelte er,
bot ihm ein Stück der Banane.
40 Aber die Füsse, nein,
die liess er nicht küssen,
obwohl der Geheimrat,
schon den Stock auf den Boden
gelegt hatte und sich
45 anschickte zu knien,
ungeachtet dass so der schwarze
Sonntagsmantel in den Kies
in den Sand sank:
Er hob ihn auf und steckte // 020
50 ihm in den Mund
den ganzen Rest der Banane.
Es regnete schon sehr stark.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1957-58
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-d/01
- Seite / Blatt: 016, 017, 018, 019, 020 (oben)
Der Meister sitzt vorn in der Nische
ermüdet und isst schnell ein
belegtes Brot zu einem Glas kalter
Milch. Die Scheinwerfer
05 versperren mit grellen
Balken die Nische
vor den Blicken des Chors, // 021
der sein Lied, aus der Nische
vom Dirigenten belauscht,
10 auch jetzt in der Pause, noch übt.
Ein schwarzer Vorhang verschliesst
den Ausgang ins Gelände
der sonst verfallenen Filmstadt,
wo Frauen und Kinder Kulissenreste aufsammeln.
15 Verspätet kommt noch der eine
und andre Statist an den Vorhang.
Dort hält ihn die eine der Wachen an,
leuchtet mit ihrer Lampe in seinen Ausweis,
indes die andre weiter hin und her patroulliert, // 022
20 in die Ödnis leuchtet, die freilich
das wenige Licht in ihre Löcher schnell einschluckt,
und nie über die von weissen
Pflastersteinen gezogne Linie hinausgeht.
Die hohen Augengestelle¿
25 fahren plötzlich heran.
Die Scheinwerfer werfen
die Balken den Choristen ins Aug,
die sich schnell beugen und gleich
zu schwitzen beginnen.
30 Der Meister steht auf, indes er,
schon die eine Hand hebend,
sein Trikot mit der anderen straff zieht.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1957-58
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-d/01
- Seite / Blatt: 020, 021, 022
Nur dazu öffnen die Diener mein Glashaus,
zuweilen, damit sie
mich tragen sehr schnell hinauf in die Luft,
sodass mich beim Aufstieg oft die Zweige der Wipfel
05 schmerzhaft peitschen
und mir dann die Sinne taumeln,
fürchtend, ich falle gleich hinab in die Öllache
auf dem Boden vor der grossen Tankstelle.
Dort hupt man, dort ruft man
10 und hört nicht den Zank,
den die Nachbarsengel entfachen // 024
mit meinen Engeln
sodass sie mich fast fallen lassen,
Hinab und hinauf taumle ich so
15 hoch oben und schwitze an Hände und Füsse.
Aber drinnen im Glashaus nützt es mir wenig,
dass ich die Hand ausstrecke, um einen,
der draussen vorbeigeht, zu grüssen:
ich zerschlage die Wand zwar,
20 aber die Scherben werfe ich ihm zugleich ins Gesicht,
er läuft schleunig und grusslos
weg und wischt sich mit dem
Taschentuch das Blut von der Stirn.
Ich darf nur ganz vorsichtig
25 ein anderes Mal, die Hand ein wenig // 025
heben, wenn jemand mich grüsst,
darf nie die Scheibe vergessen.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1957-58
- Details: V. 11 Emendation: Nachbarsengeln → Nachbarsengel
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-d/01
- Seite / Blatt: 023, 024, 025 (oben)
Es genügt, dass ein Auto beim Parken
einem andern in die Stossstange fährt
und sie verbeult,
die Dame und zwei ältere Herren,
05 den einen mit Halbglatze,
auf der Terrasse von ihrem Eis
aufschiessen zu lassen // 026
Und das kleine Mädchen
im Schottenrock auf den Stuhl steigen
10 und alle ihre Gesichter nach dem Ort
des Missgeschicks richten zu lassen:
Neugier genügt.
Es genügt, dass die Sonne
sich einen Augenblick hinter Wolken zurückzieht,
15 damit sie alle, als hätte man es ihnen also verwiesen,
sich wieder setzen und sich ganz auf ihr Eis konzentrieren,
es genügt,
auch für das Mädchen im Schottenrock,
damit es wieder vom Stuhl steigt:
20 Ein Tadel genügt. // 027
Es genügt, dass die Fliegen
hin- und her durch die Luft
schwärmen, damit wieder offen
der Teich liegt mit dem immer unmerklich erneuerten Wasser,
25 damit die unberührbaren Fische,
die dem Helios heilig sind, schwimmen.
Mehr als alles, Erinnerung, das genügt.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1957-58
- Letzter Druck: Verstreutes
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-d/01
- Seite / Blatt: 025, 026, 027
Totenführer,
du wirfst aus den wachsenden Flügel,
bevor du im grauen Pullover
die blonde Uhrwerkpuppe
05 anhältst und in deinem Wagen
mitnimmst. Hier bist du
für einen Augenblick nochmals
entführender Bote.
Doch das Ticken des Uhrwerks
10 hält den Sturz eben noch auf:
Jetzt geht man ins Kino // 029
weg von dem Mund, der von Durst
ausgedörrt, wenn du fährst,
überall wartet, offen,
15 überall offen. Doch dann tickt
blonder, immer blonder das Uhrwerk.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1957-58
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-d/01
- Seite / Blatt: 028, 029
Die Fischhändlerin leert den Eimer auf die Strasse: Es fällt nicht ins Gewicht gegen den glühenden Asphalt
und ist schon, bevor es die Strasse begriff, nicht mehr da und verdunstet.
Seit ich einmal, herumfahrend in meinem
Wasser, durch meine Kiemen dies stille,
dies kühle, dies flüssige treibend und ziehend,
Betrachtung des namenlosen, darin ich
05 still lebe, das mich dahinträgt.
Seit ich einmal hinauf stiess, gelockt
von einer Stelle höheren Glanzes und grösserer Wärme:
von dort, hiess es, war
irgendwoher einmal der Meteor,
10 der Fremdstein, die fremde Koralle // 031
herabgekommen und hatte von den unsern viele getötet.
Nun liegt sie da, in den Augen Seesterne,
auf der Brust Polypen:
Bild eines Hochfischs. Wie verzehrt uns
15 Begier, ihm ähnlich zu werden. …
Seit ich einmal hinaufstiess in die Richtung,
wo höherer Glanz und grössere Wärme
mir den Ort des Eintritts verhiessen:
fürchte ich mich:
20 denn ich stiess in die Leere. Was
uns alle umgibt,
die kühle, die flüssige namenlose Betrachung // 032
war nicht mehr da:
Nichts war da und eine unerbittliche Hitze.
25 Mir stockte die Bewegung der Kiemen.
Die Flossen fanden nicht mehr das Allgemeine,
dagegen zu fächeln.
Es war das Ende der Welt.
Kam der Hochfisch herab von dort?
30 Gehn wir dahin und verlieren
Kiemen und Flossen?
Durch wieviele Tode?
Nun aber sinkt ein anderer Hochfisch herab,
weich und faulend, auf den weissen, harten: // 033
35 Sind wir nur noch letzte Söhne des Hochfischs,
eine Abart, die sich erhielt,
weil es dort, jenseits, im Leeren,
zu leben unmöglich?
Der Hochfisch war, vielleicht, nur eine Übertreibung.
40 Hier muss man bleiben in der blauen, kühlen Betrachtung
und die durch Wärme und Glanz verdächtigen Stellen vermeiden.
Aber ich wohne ab morgen in dem einen noch leeren
Ohr des harten, in der Welt nun schon heimischen Hochfischs: // 034
Dort ist die Erinnerung an das, was zu erforschen ich aufgab,
45 eben erträglich und rund
umfängt mich die Mahnung vor aller
Ausschweifung:
Und täglich sag ich mir zehnmal, am besten
nachmittags, vor:
50 Nichts gibt es, nichts gibt es ausser hier.
Dort draussen lebt niemand, dort ist nur die Leere.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1957-58
- Details: V. 26 Emendation: fand → fanden
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-d/01
- Seite / Blatt: 030, 031, 032, 033, 034
Vielleicht könnte man zweifeln,
als Leser von Büchern,
am Sinn des Daseins für einen Menschen,
der nur mit seiner Frau, die die Haare rot färbt,
05 und dem sommersprossigen Söhnchen,
das ein Haus aus Biertellern baut,
den Mund von Erdbeereis ganz überschmiert,
friedlich sein Bier trinkt:
wenn nicht zuweilen eine Bewegung
10 seiner Schulter erinnerte an die Bewegung, mit der
der Sohn der Sonne auf Emesas Mau- // 036
er den Purpur um sich warf:
als die Soldaten[,] den Gott jubelnd erkannten.
Wenn nicht zuweilen ein Glanz im Winkel des Augs
15 und ein Zucken im Winkel des Munds
gleich wäre dem Zucken, dem Glanz im Auge des Cäsars,
als er am Fenster in Lutetia erstmals den Ruf hörte:
Augustus! –
Vielleicht könnte man zweifeln als Leser von Büchern.
20 Aber das Lächeln des einen Kinds für das Eis,
sein Jubel über das Haus // 037
aus Biertellern ist ja der Ruf
der Jubel der Legionen für Spenden.
Das Lächeln der Frau ist das Lächeln der neu erhöhten Augusta.
25 Die Schaumkrone des Biers ist der goldene Lorbeer:
Da gibts keinen Zweifel,
man sei denn durch Bücher verdorben
Nachtrag:
Der Biergarten unter dem Tor (der Mauer) von Emesa (und auf der Place Dauphine): Der Biertrinker ist der Cäsar, der eine wie der andere. In seiner Bewegung kommt seine tiefere, ältere Identität zum Vorschein.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1957-58
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-d/01
- Seite / Blatt: 035, 036, 037
Wasservorhang fällt
zu deinen Füssen, Neptunus,
und verbirgt den Flüchtling im Felsgang.
Deinen Vorhang erbittet der Flüchtling,
05 Neptunus,
zunächst den Kammern,
wo die Pumpen ihn wirken.
In der Nacht dann
irrt nackt der Flüchtling, Neptunus,
10 lauscht nach dem Ächzen der Pumpen. // 039
Du hast vergessen, betrachtest
das ruhige Becken, Neptunus:
müde zu wirken, befiehlst
Ruhe den Pumpen.
15 Meinst du, der Flüchtling betrachte
wie du das ruhige Becken?:
ihn erschrecken die Fische, wenn sie
ihm tückisch nahn aus dem Grund.
Ihn bedroht dein ruhender Dreizack.
20 Bewege wieder die Pumpen,
verbirg den Flüchtling im Vorhang,
störe die Stille, Neptunus. // 040
Nimm weg den nahenden Goldfisch,
das Segelschiffchen,
25 das der Knabe vergass, die Stille
bläht sie und treibt sie. Bewege
die Pumpen und wirke den Wasservorhang, Neptunus.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1957-58
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: A-5-d/01
- Seite / Blatt: 038, 039, 040