Typoskripte 1956

Inhalt: 14 Typoskripte zu 14 Gedichten (5 Endfassungen)
Datierung: 1956
Textträger: Einzelblätter (A4-Format)
Umfang: 14 Dossiers zu je einem Gedicht
Publikation: Die verwandelten Schiffe (7 Gedichte), Verstreutes (2 Gedichte)
Signatur: A-5-c/14 (Schachtel 36)
Herkunft: Rote Mappen 1956 G, 1956 G B

Kommentar: Typoskript-Reinschriften (alle gleichartig) mit meist mehreren Durchschlägen; alle unten mit Jahreszahl 1956 datiert
Wiedergabe: Edierte Texte

Datiert: 1956       )

Gleiten

Oft schleift das Kind sein Spielzeug über die Fliesen
und gleitet und fällt dann hin, hin und wieder,
weil es, versucht von der Glätte des gebohnerten Bodens,
zu schnell geglitten.

05 Dies erkennt es so richtig als reizvoll am Tag erst,
wo man es wegführt in die weisse Weite des Saales,
dessen Betreten ein livrierter Wächter verbietet,
es sei denn, man ziehe am Eingang Filzschuhe über,
unförmige: Damit zu gleiten,
10 vorsichtig, bedächtig, hat eigentlich gar keinen Witz mehr.
Das Spielzeug darf man hier nicht hinter sich herziehn,
es scheppert, und das schickt sich nicht im Saal verblichener Fürsten.

Und so unternimmt es das Kind,
es hineinzutragen unter der Schürze,
15 und stellt es dann auf in der Mitte:
und siehe, es klingt.
Sodass der Wächter missgünstig herbeischleicht;
doch, bevor er ausholt und zuschlägt, noch zögert:
ob er es nicht vielleicht doch übersehen hat auf der Liste?
20 Bis er sich pflichtbewusst aufrafft und zuschlägt desto bestimmter.

Das alles ist schlimmer:
Scherben sind jetzt auf den Fliesen,
und Tränen trüben und Schluchzer des Kindes zerreissen die Weisse:
Wenn es nur glitte, glitte und zöge hinter sich her das scheppernde Spielzeug,
25 selbst ohne Filz an den Füssen.

Datiert: 1956       )

Die Nymphe

Das Kind will nicht zum Wasser hin,
das sich durch Felsen windet,
nicht, wenn daraus die Nymphe
sich in den Sommermittag löst.

05 Zum Wasser will es hin,
das durch das Eis sich windet,
hin, wenn daraus die Nymphe
sich in den mittaglosen Schnee nicht löst.

Es will, wenn Schnee weht, seine Puppe baden:
10 Doch aus der Puppe Grinsen, weh,
löst sich die Nymphe jetzt und will
zurück sich in das Wasser wenden.

Die aus dem Sommerwasser sich gelöst,
jetzt löst die Nymphe aus der Puppe sich
15 und hat das Kind mit sich auch schon
dem Winterwasser zugewendet.

Datiert: 1956       )

Zwischen den Kerzen

Mir ist zwischen den Kerzen zu sitzen bestimmt;
und nachts nur darf ich die Früchte,
die ihr, Fromme, mir hinlegt,
essen und trinken den Tee,
05 den ihr mir unter Gebeten bereitet.

Aber auch dann noch knien zwei auf der Treppe
und warten auf das Wunder,
das ich, wie sie glauben, zu wirken vergass.
Doch ihr Blick irrt im Licht der Ewigen Lampe
10 mit den Schatten der Votivdrachen hin und her an der Decke
und findet mich nicht.

Und dann, dumpfer Beter, muss ich dich ansehn:
Wenn ich wie der andere Pilger,
der mit dir flüstert von den Beschwerden der Reise,
15 also flüstern könnte mit dir auf der Treppe,
dann wäre ich der hilfreiche Gott, den du suchst.

Aber nicht einmal aufzuschauen zu mir
mit schrägem Schrecken im Auge gelingt dir;
und so kann ich dir zwischen meinen Kerzen nicht helfen
20 und esse müssig die Apfelsinen, die du mir darbringst,
und schlürfe den Tee im Flackern der Ewigen Lampe,
wenn die Votivdrachen wegwandte der Windzug: // 01v
Auf den Altar verbannt, würdig zwischen den Kerzen,
während der Weihrauch mir einwölkt die Bewegung des Munds,
25 an der du sonst sähest, dass ich nicht tot bin.

Datiert: 1956       )

Der Mund (Sacro Bosco di Bomarzo)

Ehe das Moos den vom Efeu schon überwachsenen Schrei schliesst,
tritt hinein in den offenen Steinmund.

Unter der Lampe, die baumelt vom Gaumen,
kaufe der Händlerin eine Karte mit dem Vulkan ab,
05 dessen Rauch den Horizont überrötet,
und mit dem steinernen Mund, wie er war,
ehe erstmals das Moos den vom Efeu schon überwachsenen
Schrei schloss:

eine Gartengrotte, wohin der Kavalier seine Dame
zog, weil unter den bunten Laternen die Geigen
10 peitschten das Blut, das schrie,
bis er mit ihr den steilen
Ohrweg hinanklomm zum Lid, wo Platz war zum Liegen…

Ehe Moosschweigen den Schrei schliesst
und der Vulkan vergeblich den Tiefschläfer anruft,
15 ehe die Asche die Wange pudert,
die doch nicht zum Fest will:

Tritt hinein in den offenen Mund und kaufe die Karte.

Datiert: 1956       )

Die spanische Treppe

Erst als ich, erschreckt von dem Hündchen,
das zur blumenumwundenen Lenkstange emporsprang,
gestürzt war,
und mein Rad verbogen am Obelisk lag,
05 nahm ich, Fische, euch wahr,
die ihr blind schwimmt unentwegt
in den gläsernen Stufen der Treppe
und nur die Blumenhändlerinnen etwa hört klagen
über den geringen Ertrag des weggeschmolzenen Tages.

10 Dafür durch die Stirne schwimmt ihr mir jetzt noch,
wenn ich aus meinem Zimmer
über des Hofkartographen Iljin Karte des Russischen Reiches
ausschweife und wenn am Fuss des Kaukasusobelisks
verbogen mein Rad liegt
15 und die Blumenblätter bis nach Finnland verstreut sind:
schwimmt ihr mir blind unentwegt in den gläsernen Stufen.

Datiert: 1956       )

Der Optiker und der Klavierschüler

Etüdenliane
klettert durch Decken und Böden,
wenn vom Klavier der Schüler sie aufzückt,
damit sie dem Alten am Tisch die Beine umwinde.

05 Spät erst erschrickt er,
weil ihn zu sehr beschäftigt die Mühe,
das Auge, das über der Stadt hing
und herabfiel im grossen Gewitter,
wieder zusammenzusetzen.

10 Nun schon den Leib,
die Arme hat ihm die zähe
Liane umwunden
und lässt ihn die Scherben nicht fassen,
indes das Metronom unten den Schüler
15 zur letzten Etüde leise eindringlich aufhetzt.

Datiert: 1956       )

Artisten

I

Im vom Bartisch beschworenen Dreieck steigt der Artist mit Bogen und Köcher auf die lichte Likörflaschensäule und schiesst den ersten Pfeil zuhöchst in den Himmel.

02 Und gleich beisst sich der zweite ein in des ersten noch bebende Feder. Alle Pfeile schiesst er zur Kette, die vom Himmel herabhängt und schliesslich leicht schwankend dasteht mit dem letzten auf der lichten Säule aus leergetrunkenen Flaschen.

03 Nun klettert er, gereizt von den vielen bunten Gelenken, die Pfeilkette empor, bis er vor dem Brüllen des Stiers und mehr noch vor dem dumpfen Aufprall der Hörner auf die Sternbälle zurückschrickt: Doch schon ins Auge hebt ihm die Hörner der Stier.

04 Und die Gäste hangen wartend ins Glas, bis der Wirt, am anderen Tag, einen andern Artisten ohne Bogen und Köcher gefunden.

II

Einen Trompeter fand er, der sich an seinem Tonseil geschickt in den Himmel hinabliess und dann mit den baumelnden Beinen die Sternbälle wegschob.

02 Doch er war noch schneller beim Stier und fiel grad in die aufgehobenen Hörner. Und die Gäste warteten nicht mehr am Bartisch und verlangten den Zuschlag heraus.

03 Wen soll der Wirt jetzt noch suchen? Einen Jongleur mit Kugeln?: Der schwänge bald an seinen immer grösser geworfenen Ringen sich zu weit hinaus und nähme die Sterne als Kugeln, geriete erst recht und noch schneller in die erhobenen Hörner.

04 Versuche, Wirt, es ohne Artisten zu machen; denn zu virtuos sind sie heutzutage geworden und kommen dir alle schon am ersten Abend abhanden.

Dass du dich wunderst, oben, über die Mosaiken der Apsis, weil die späten Blumengewinde und Tauben und Brunnen Zwillinge der frühen sind und löschen ein halbes Jahrtausend: Dass dich, Ahnungslosen, das wundert, schon das ist gefährlich.

02 Gefährlicher ist, dass du die vielen Stufen zur Unterkirche hinabsteigst und das Kind vor dem Altar im Grabhaus des Heiligen findest: denn wer weiss, ob du der Woge entkommst, wenn sie am Abend zurückkehrt?

03 Aber nochmals tiefer, in der zuletzt erbrochenen untersten Grotte, entkommst du sicher nicht mehr der Woge des Bluts, die steigt und das Aufbrüllen des Stiers unterm Messer des gleichmütigen Gottes in Gurgeln erstickt; die dir schnell steigt bis zum Scheitel, wohin deine Hand im Reflex greift. – Und du wunderst dich nur noch, seit wann du sie trägst: "Seit wann trag' ich die phrygische Mütze?".

Datiert: 1956       )

Intérieur

Die Lampe zittert noch von der trägen Bewegung,
mit der die Februarmorgensülze,
die das Zimmer jetzt anfüllt, hereinquoll.

Vor dem Fenster der Garten,
05 dem es bis heute gelingt,
die Pose des Sommers zu halten,
ärgert mich jetzt.
Und am Klirren merke ich, dass ich
im Aufstehen, scheint es,
10 mit dem Arm das Glas vom Tisch wischte.

Doch beim genaueren Hinsehn
sind auf dem Teppich die Scherben
jenes Augustnachmittags an der Küste der Provence,
wo der Felsriegel am Ausgang der Bucht schmolz
15 und im Strandsand schmolzen die Küsse.

Diese Schüssel Zimmer zumindest
will ich nicht hinwerfen, bevor
jemand kommt und aufkehrt die Scherben

Datiert: 1956       )

Der Schacht

Ball, du fällst aus dem Spiel in den Schacht
und triffst auf des Grundes Schwarzschlamm, bald,
verwirrst ihn, erhellst ihn,
indes er dich hin wiegt ein wenig
05 und herwiegt zum Wandnass.

Aber ehe du triffst auf des Grundes Schwarzschlamm, erwäge:
tief ist der Schacht,
und drin weiss man nicht mehr,
wo unten, wo oben;
10 des Grundes Schwarzschlamm ist unten, ist oben.

So bleib denn still, Ball, in der Mitte:
schon – merkst du's? – dreht sich
langsam um seine Achse der Schacht.
Warte mit Fallen.

15 Gewinnst du nicht den Lachdank der Augen
dort, so verlierst du auch nicht den Lachdank der Augen
hier und stehst im gespannten
Zug der Augen im Schwarzschlamm
gleiche Verwirrung, Erhellung nach unten, nach oben.

Datiert: 1956       )

Der Zipfel (Sant' Onofrio)

Ein Zipfel des Linnens Erinnerung hängt in die Lücke zwischen den Russmauern herab; von wo ihn die Hand durchs Fenster zieht, schnell, bevor er entglitten, geschickt, damit er die Zimmerpalme nicht streift und ihr nicht, unter der Zierlampe, taktlos das Bild der Wüstenmutter zeigt, die mit starkem Fächer steht unter der grossen, alle Säfte umtreibenden Lampe.

02 Die Hand zieht das Linnen herein auf den Tisch und breitet die Stickerei aus: Der Faun springt, von der Sonne verwirrt, in den Brunnen und spritzt durch den Kreuzgang, sodass der im Wandbild verblasste Löwe neu farbig aufbrüllt und den toten Büsser, der ihm einst den Dorn zog, wieder eifriger einscharrt. –

03 Da macht die dicke Frau, neben der Zimmerpalme aufs Zerschneiden ihrer Pastete brünstig gesammelt, mit dem Arm eine brüske Bewegung und reisst den Zipfel der Hand weg.

04 Schon ist er durchs Fenster und fort und lässt zwischen den Russmauern einen breiten Winter als Lücke.

Datiert: 1956       )

Flüsse, Bäume, Winde

Der Flüsse Läufe sind aufs Meer,
doch ist der Wirbelschnee
auf vieler Flüsse Läufe hin gerichtet.

Die leeren Bäume atmen auf, zu sehn
05 den Wirbelschnee ermüden;
doch vieler Flüsse Läufe bleiben
dennoch aufs Meer gerichtet unbeirrbar.

Und gibt es da und dort noch einen,
der achtlos läuft und träumt und läuft dann über,
10 und tut es gleich im Spiel dem Meer,
so ruft der Flüssemeister ihn zur Ordnung,
weil er sonst bald, wer weiss, zurück und bergwärts liefe
und würfe an gekränkte Stirnen plötzlich Gischt.

Kaprizen sind für die unverlässlichen,
15 den Wirbelschnee, die Bäume,
die bald im Blütenbausch posieren, bald,
weil sie meinen, dass ein Passant gekichert habe,
sich wieder in betonte Leere einziehn.

Datiert: 1956       )

Eisnacht

Da man im Weinhaus schon um zehn Uhr die Stühle
auf den Tisch zu setzen beginnt,
fährst du durch die vom Eis
durchklirrte Nacht hin und findest
05 im ordinärsten Viertel noch ein offnes Lokal,
wo ein alter Mann in der Ecke
Münzen säuberlich aufhäuft.

Aber jetzt stellt er das Radio lauter,
damit im Schlagrahm der Schlager
10 deine harten Gedanken versinken.

Und wenn auf der neuen Flucht dann
du rumtrunken gleitest und in das Eis schlägst,
schlägst du durch und schlägst mit den von den Splittern
der Schutzscheibe zerschnittenen Wangen
15 Grönland und Sibirien durch:
dein Blut taut den Nordpol auf,
und deine Augen funkeln dahinter,
heisse Kiesel im Sand.

Nachdem du von Weinhaus zu Weinhaus
20 fiebertest in der Eisnacht,
ruht deine sogar eines Blicks
Streicheln scheuende Wange,
ruht an Ostias Meerwange nun

Datiert: 1956       )

Der Kaufmann

Sprich nur der Magd, fremder Kaufmann,
die auf der Treppe zum Dachpalmengarten dich mit dem Kleid streift.
Von deiner Oase sprich stumm ihr, inmitten der Datteln,
die es nicht gibt im Dachpalmengarten:
05 ohne Datteln sind seine Palmen,
und abends versorgt man sie wieder im Palmhaus.

Inmitten der Datteln,
die du hertrugst aus deiner Oase,
sprich stumm der Magd auf der Treppe.
10 Denn die andern taumeln hinauf
und sind nicht mehr klar,
deine Datteln zu kosten.

Drum sprich nur der Magd,
die auf der Treppe zum Dachpalmengarten dich mit dem Kleid streift,
15 von den Wasserbächen in deiner Oase,
die das mittägliche Donnern des Flugzeugs nach Delhi
zwar zittern macht, doch nicht aufhält.

Stumm sprich ihr schnell,
und geh zurück in deine Oase:
20 hier machst du keine Geschäfte –
Doch zuvor, fremder Kaufmann,
sprich stumm zur Magd auf der Treppe zum Dachpalmengarten.

Typoskripte 1956 (alph.)
(Total: 14 )
Typoskripte 1956 (Folge)
(Total: 14 )