Typoskripte 1957
Inhalt: 21 Typoskripte zu 21 Gedichten (12 Endfassungen)
Datierung: 1957
Textträger: Einzelblätter (A4-Format)
Umfang: 23 Dossiers; Dossier Nr. 01 und 02: Gedichtlisten
Publikation: GEDICHTE (7 Gedichte), Verstreutes (2 Gedichte)
Signatur: A-5-d/03 (Schachtel 37)
Herkunft: Graue Mappe 1957 G
Kommentar: Alle Typoskripte unterzeichnet mit: Kuno Raeber, 1957
Wiedergabe: Edierte Texte
Gedichtlisten (entstanden: 30. Dezember 1957)
Die Staubwolke (Merkur)
Die Sibylle
Skurer¿ geschickt:
Das Atelier Hermes
Die Münze
Fontana tibertina
NZZ geschickt:
Kaiser Hadrian
Der Schmetterling
Der Kardinal
Der heilige Sebastian
Titelliste 2
Der Gang Der Schläfer
Artisten I und II
Am Flussufer
Die Wespen
Der Prinz
Der Fudschijama
Das inwendige Licht
Karussell
Eisnacht X
Der Optiker und der Klavierschüler
Intérieur
------------------------------
Die Engelsburg
Die Sibylle
Fontana tiburtina
Der Fisch und der versunkene Poseidon
Der Fischteich
Die Staubwolke
Der heilige Sebastian [eingeschoben]
Das Glashaus
Der Kardinal
Orpheus im Hafen ¦ Der Schmetterling
Zweifelst du, Leser von Büchern, nur darum
nicht am Dasein dieses Menschen,
der neben der Frau im Garten sein Bier trinkt
und neben dem sommersprossigen Söhnchen,
05 das, den Mund von Erdbeereis ganz überschmiert,
aus Biertellern ein Haus baut:
nur darum nicht,
weil manchmal eine Bewegung
seiner Schulter ihn als den Sohn der Sonne verrät,
10 der auf Emesas Mauer den Purpur sich umwirft;
nur darum nicht,
weil manchmal ein Glanz im Winkel des Augs
und ein Zucken im Winkel des Munds
ihn als den gleichen Cäsar verrät, der am Fenster
15 des Palasts in Lutetia erstmals den Ruf
hört: Augustus –?
Zweifelst du nur darum nicht, Leser von Büchern,
weil der Jubel des Kindes über das Haus
aus Biertellern sich verrät als der Jubel
20 der Legionen für Spenden,
das Lächeln der Frau als das Lächeln der neu erhöhten Augusta,
die Schaumkrone des Biers als der Lorbeer?
Zweifelst du, Leser von Büchern,
nur darum nicht am Dasein dieses Menschen? // 01v
25 "Nein, es ist die uralte Münze,
und diese Lösung hat sie für einmal gereinigt: Kann sein,
dass eine schärfere Lösung ein genaueres Bild gibt."
- Details
- Konvolut: Typoskripte 1957
- Details:
V. 09 Korrektur: als Sohn → als den Sohn
V. 17 Direktkorrektur: Augustus! → Augustus – ? - Besonderes: 3 Durchschläge (doppelseitig beschrieben; Korrektur)
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: nur Jahr
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Schreibmaschine
- Signatur: A-5-d/03_003
- Seite / Blatt: 01r/v
Die Cherubim verriegeln die Nische,
wo der Dirigent sein Schinkenbrot isst,
mit grellen Balken
vor dem Blick der Choristen.
05 Einer kommt noch
übers Gelände der Filmstadt, verspätet,
zum schwarzen Türvorhang: Die eine
Wache leuchtet in seinen Ausweis; die andre
patroulliert auf und ab und achtet
10 genau, die Linie aus weissen
Pflastersteinen nicht zu betreten.
Denn es wenden die Cherubim plötzlich
und stossen die Balken
den Choristen ins Auge:
15 es fällt hinab in die Noten. –
Der Dirigent tritt aus der Nische und wischt
sich den Mund mit der einen
Hand, mit der andern
zieht er sein Trikot straff.
- Details
- Konvolut: Typoskripte 1957
- Besonderes: 2 Durchschläge
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: nur Jahr
- Fassung: Letzte Fassung
- Schreibzeug: Schreibmaschine
- Signatur: A-5-d/03_004
- Seite / Blatt: 01
Seine Robe rollt,
wenn er im Park spaziert,
bis fast ins Meer,
das ihn violett zurück ins Zimmer mahnt.
05 Eh er sich aber ganz gewendet,
bezaubert ihn das Sternbild, das,
die bunten Lichter wechselnd,
aus dem Dunstsaum schnell herauffährt.
So schnell, daß er Sankt Nikolaus bäte,
10 es aufzuhalten,
wenn er nicht wüsste,
daß es täglich um diese gleiche Stunde unaufhaltsam
hier durch nach Rom fliegt.
Statt seiner Robe bleibt das Rosenbeet
15 am Strande ausgebreitet,
wenn er im kleinen Kleid Zitronensaft
trinkt und beschwört die ruhigeren Bilder,
dass sie bleiben, bleiben.
Da doch manchmal schon Matrosen
20 ganz nah heran auf Paddelbooten kommen
und ihn zusammen mit den Pfauen knipsen
und ihm freundlich "Dann eben nicht" zurufen,
wenn er mit Würde ihre Zigaretten ablehnt.
- Details
- Konvolut: Typoskripte 1957
- Details: Korrektur V. 22: halt → eben
- Besonderes: Durchschlag; Blatt mit Faltspuren
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: nur Jahr
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Schreibmaschine
- Signatur: A-5-d/03_005
- Seite / Blatt: 01
- Identisch mit: GEDICHTE 1960
Die Engel öffnen
zwar täglich sein Glashaus, aber nur,
um ihn schnell in die Lüfte
zu tragen, bis ihn der Wipfel
05 peitscht und er fürchtet,
hinab in die Oellache vor der Garage zu stürzen.
Dort hupt man und ruft
und hört nicht den Zank,
den die Nachbarsengel mit seinen Engeln aufrühren,
10 die heftig auf- und abfahren und zerren
und ihn wirklich fallen liessen, beinahe.
Doch wieder sicher im Glashaus, zerschlägt er,
als er die Hand hebt, um einen,
der vorbeigeht, zu grüssen, die Wand
15 und wirft ihm die Scherben
grad ins Gesicht,
sodass er das Blut
mit dem Taschentuch von der Stirn wischt und wegläuft.
Seine Engel schweigen; aber
20 sie werden die Last, eine neue
Scheibe zu schneiden, zu kitten,
morgen heimzahlen beim AuffIug.
- Details
- Konvolut: Typoskripte 1957
- Details: V. 04 Korrektur: sodass → bis
- Besonderes: Typoskript mit 2 Durchschlägen
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: nur Jahr
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Schreibmaschine
- Signatur: A-5-d/03_006
- Seite / Blatt: 01
- Identisch mit: GEDICHTE 1960
(Wachtraum eines Schülers vor dem von Glühlampen umkränzten Madonnenbild, das jährlich am 8. Dezember vor den versammelten Gymnasiasten der "Grossen marianischen Kongregation" im Chorgewölbe der Luzerner Jesuitenkirche schwebt)
Sie fährt in ihrer Angst aus elektrischen Lampen
durch das Gespensterlabyrinth des Gehirns
und fährt gleich auf den Zahnarzt und macht
ihn aufstehn und neu sausen den Bohrer im Nerv.
05 Sie leuchtet im Winkel die graue
Hand des Lehrers an, die eben
die Lateinarbeit schlachtet.
Und die Sorge um die Versetzung im Frühjahr
wischt ihr feucht übers Gesicht.
10 Es braucht jetzt nur noch das Tier dort
sich mit Stöhnen zu recken,
und sie schwankt zurück in den Altarraum.
Aber leider genügen die Phrasen des Mönchs:
"O unbefleckt Empfangene du…“
15 nicht mehr, sie zu beruhigen.
Zwei Glorienstrahlen sind schon erloschen;
für den Rest ist höchstens noch Hoffnung,
wenn der Küster die Sicherung wechselt.
Und man fürchtet bereits, es liegt an den Lampen.
- Details
- Konvolut: Typoskripte 1957
- Besonderes: Typoskript + 2 Durchschläge
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: nur Jahr
- Fassung: Letzte Fassung
- Schreibzeug: Schreibmaschine
- Signatur: A-5-d/03_007
- Seite / Blatt: 01
Die Fischhändlerin leert
den Eimer aus auf die Strasse: das Wasser
kommt nicht auf gegen den heissen
Asphalt und ist, kaum
05 er es nur begriff, schon verdunstet.
Der Fisch aber war
gerade so weit,
als man ihn fing heute früh:
"Seit ich einmal ins Licht
10 und in die Wärme hinaufstiess,
von wo vor langem der Hochfisch, der seither,
Seesterne im Ohr, auf der Brust
Polypen, im Grund liegt,
herabgestürzt war:
15 Seit ich einmal hinaufstiess,
fürchte ich mich: Das Kühle
war nicht mehr da. Mir erstarrten
die Kiemen. Die Flossen
fanden nicht Widerstand mehr,
20 sich voran zu bewegen …
Gehn wir alle dorthin und verlieren
wie der Hochfisch Kiemen und Flossen?:
Nach wievielen Toden? // 01v
Der Hochfisch war Uebertreibung. Unten
25 muss man bleiben und die
verdächtigen Höhen vermeiden.
Wohnen will ich von morgen
an in seinem noch freien
Ohr, wo die Erinnerung
30 Ansporn und Warnung zugleich ist … "
Gerade so weit war der Fisch,
als man ihn fing heute früh.
Doch das Wasser, das die Händlerin ausgiesst,
kommt gegen den heissen
35 Asphalt der Strasse nicht auf
und ist, kaum er es nur
begriff, schon verdunstet.
- Details
- Konvolut: Typoskripte 1957
- Besonderes:
2 Durchschläge (doppelseitig beschrieben)
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: nur Jahr
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Schreibmaschine
- Signatur: A-5-d/03_008
- Seite / Blatt: 01r/v
- Identisch mit: Verstreutes
Der Flieder dringt mit weisser Stimme
durch das vom Rost ertaubte Gitter ein.
Der Fliederstrauch,
des Duftens müde, hat
05 sich gelöst ins Lied und stiebt
in das zerbrochne Labyrinth herein.
Der Fliederstrauch,
gelöst in Staub und Stimme,
schwillt auf und droht und wogt
10 auf diese dämmelose Insel ein.
- Details
- Konvolut: Typoskripte 1957
- Details: Korrektur V. 05 (1): aufgelöst → gelöst
- Besonderes:
(1) Typoskript (Korrektur)
(2) 2 Durchschläge - Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: nur Jahr
- Fassung: Letzte Fassung
- Schreibzeug: Schreibmaschine
- Signatur: A-5-d/03_009
- Seite / Blatt: 01
Ballen, auf blauen
Bahnen geschoben zu Haufen,
lasten so,
dass schon der Vorschatten des Sturzes
05 biegt nieder die Bäume.
Nun wendet das Linnen den Spiegel,
der an der Leine blind wartet,
mit dem heimlich gesammelten Licht ihnen zu
und zündet die Ballen
10 an an ihren zaudernden Bändern.
- Details
- Konvolut: Typoskripte 1957
- Besonderes: Typoskript + Durchschlag
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: nur Jahr
- Fassung: Letzte Fassung
- Schreibzeug: Schreibmaschine
- Signatur: A-5-d/03_010
- Seite / Blatt: 01
Heute zwar geleitet die Prozession
aller Priester den Frosch, den
der Kaiser mit unverdauter
Speise ins Laken gekotzt,
05 in die Kammer am Tor der äusseren Mauer.
Doch am Abend des Tags, wo
sie den Kaiser aufgeschlitzt im Kot finden,
werden die Römer nicht schlafen, solang
sein Wort in den Ohren noch bohrt:
10 "Wenn meine Mutter sogar
es konnte, warum
soll ich nicht gebären den Sohn
und ihm den Stab übergeben?"
Finster werden sie schweifen, ergreifen
15 den Frosch und verbrennen auf einem Gebirge von Reisig.
- Details
- Konvolut: Typoskripte 1957
- Details: V. 15 Korrektur: und auf einem Gebirge von Reisig verbrennen. → und verbrennen auf einem Gebirge von Reisig.
- Besonderes: Typoskript + 3 Durchschläge (Korrektur)
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: nur Jahr
- Fassung: Letzte Fassung
- Schreibzeug: Schreibmaschine
- Signatur: A-5-d/03_011
- Seite / Blatt: 01
Dass du nicht mit den anderen Schiffern
einstiegst in Birnau
in die rosig erlöschende Muschel,
sondern es vorzogst,
05 die Zustellung des ohnehin
unvermeidlichen Befehls
an der Autobahn zu erzwingen …
Nicht erlaubt ist dies Auge,
das nur schaut und nicht ansieht.
10 Immerhin, das hattest du nun zu verstehen beschlossen:
die Gefahr für die andern
Verkehrsteilnehmer
bei so plötzlichem Wechsel des Glanzes. –
Aber "Was wollen Sie hier an der Strasse?"
15 "Nichts, nichts, was sollte ich wollen?"
"Wissen Sie nicht …?"
Du hast leider vergessen,
dich rechtzeitig mit andern,
zwecks Wahrnehmung deiner Interessen,
20 zusammenzuschliessen.
Du weisst von keinen Interessen,
es sei denn von diesem Bedürfnis,
das manchmal unüberwindlich da ist:
einen dürren Zweig mit dem Fuss
25 von der Strasse weg in die Gräser zu schieben.
- Details
- Konvolut: Typoskripte 1957
- Besonderes: V. 11 Gefahr] die Gefahr (Druckfassung)
- Letzter Druck: Verstreutes
- Textart: Verse
- Datierung: nur Jahr
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Schreibmaschine
- Signatur: A-5-d/03_011
- Seite / Blatt: 01
Es genügt, dass ein Wagen dem andern
beim Parken die Stossstange verbeult,
um die Frau und zwei Männer,
mit Halbglatze den einen,
05 von ihrem Eis auf der Terrasse
aufschiessen zu lassen;
um das kleine Mädchen im Schottenrock
auf den Stuhl steigen
und alle vier ihre Blicke auf den Parkplatz richten zu lassen:
10 Neugier genügt.
Es genügt, dass die Sonne
sich einen Augenblick hinter Wolken zurückzieht,
damit sie alle
sich wieder setzen und wieder ganz auf ihr Eis konzentrieren:
15 Ein Tadel genügt.
Es genügt, dass die Fliegen
hin und her durch die Luft
schwärmen, damit wieder offen
der Teich liegt mit dem immer
20 unmerklich erneuerten Wasser,
damit die Fische,
die dem Helios heilig sind, schwimmen:
Mehr als alles,
Erinnerung, die genügt.
- Details
- Konvolut: Typoskripte 1957
- Details:
V. 01 Direktkorrektur: [beim Parken] dem andern
V. 03:Korrektur: zwei ältere Männer → zwei Männer
V. 17: Direktkorrektur: hinundher → hin
V. 23/24 Korrektur: Mehr als alles, Erinnerung, die genügt. / → Mehr als alles / Erinnerung, die genügt. - Besonderes: Typoskript + 3 Durchschläge (Korrekturen)
- Letzter Druck: Verstreutes
- Textart: Verse
- Datierung: nur Jahr
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Schreibmaschine
- Signatur: A-5-d/03_013
- Seite / Blatt: 01
Nur in den ersten
Nächten des Frühlings erregt
der Gesang der Sibylle:
"Wie unter Tiburs Bäumen,
05 wenn da der Dichter sass
und unter Götterträumen
der Jahre Flucht vergass …"
die Gebirge zum Grünen.
Treibt den einen in die Hotelbar, die
10 von Lippenrot heissen
Schnäpse zu trinken.
Den andern erregt er,
die rauhe Uralte
selber im Tempel zu suchen: Sie hat sich
15 in der Cella verborgen.
Und voll
strahlt jetzt erst der Mond. Die Hänge
dampfen; die Droge
wäre jetzt wohl am stärksten.
20 Doch ihn erschrecken
Ruinen schon wieder, und Blüten
fand er so üppig sonst nur auf Gräbern.
Sogar die Kaskaden, sie fallen
stumm vor der Stimme, // 01v
25 die aus der Cella
"Wo ihn die Ulme kühlte
und wo sie stolz und froh
um Silberblüten spielte,
die Flut des Anio"
30 im Wachtraum heiser herabschreit.
- Details
- Konvolut: Typoskripte 1957
- Details:
V. 01/02 Direktkorrektur: Nur in den ersten Nächten des → Nur in den ersten / Nächten des Frühlings
V. 08 Korrektur: die dürren Gebirge → die Gebirge
V. 09 Direktkorrektur: Treibt den einen in die Hotelbar → Treibt in die Hotelbar den einen → Treibt den einen in die Hotelbar, die /
V. 12 Direktkorrektur: sie → er - Besonderes: Durchschlag mit Direktkorrekturen, beidseitig beschrieben
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: nur Jahr
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Schreibmaschine
- Signatur: A-5-d/03_014
- Seite / Blatt: 01
- Identisch mit: Verstreutes