Inhalt: 42 Typoskript-Durchschläge zu 42 Gedichten (7 Endfassungen) Kommentar: Unter den meisten Blättern: Kuno Raeber. 1962;
Datierung: 1962 (einige abweichend; vgl. zu Umfang)
Textträger: Einzelblätter (A4-Format)
Umfang: 49 Dossiers mit je 1 Gedicht (davon 5 Dossiers aufgelöst); Dossier 1: Titellisten
Publikation: Flussufer (35 Gedichte)
Signatur: A-5-e/08 (Schachtel 39)
Herkunft: Grüne Mappe G 1962
Dossier Nr. 12 (Fähre) und 13 (Die Hupe) gehören eigtl. zu Typoskripte 1961, Dossier Nr. 48 (Der Brand) und 49 (Fallschirmspringer) zu Typoskripte 1959; Dossier Nr. 24 ist ein Doppel von Nr. 2, Nr. 37 ein Doppel von Nr. 32
Wiedergabe: Edierte Texte
Schau nicht, schau nicht
hinab auf den Strom, wo im braunen
Papier, im Abschaum der Fabriken
der Kopf schwimmt mit dem
05 klaffenden Mund, den
blutigen Strähnen.
Drücke die Nase zu vor den Dünsten,
schau nicht, schau nicht
hinab auf den Strom,
10 hör nicht
auf das Schreien der Wipfel am Stromrand.
Du kauerst unter dem Gitter,
du kannst dich nicht wehren, wenn David
mit schmutzigen Füssen darüber
hinläuft, wenn Goliaths Haupt
05 niederbaumelt von klebrigen Fingern.
Wenn Goliaths Blut
dir ins Gesicht tropft,
kannst du dich nicht wehren.
Du kauerst verkrümmt unterm Gitter,
10 du kannst dich nicht wehren.
Kannst du nicht einen Schacht in der Wüste
aufwühlen, dort, wo der nächste
Palmengarten, der nächste
Brunnen weit weg ist?
05 Dort wird dir Öl ins Gesicht
springen, und auf dem
Bohrturm wird eine Flamme
den langen, von Dünsten bedrängten
Horizont in Stücke zerbrechen:
10 Kannst du nicht wühlen?
Wir sind immer auf dem steilen Abstieg zum Sommer.
Voran zwar mit weissen
Mützen und in gestreiften
Trikots flitzen Radfahrer. Aber
05 sie kommen nicht vor uns
an unten in der Mittelkammer des Sommers,
wo du auf dem Hocker,
dessen Lack abblättert,
im Scharlachumhang dich kämmst und, die Lider
10 vorm Spiegel sorgfältig schwärzend,
sie und uns alle unten am Ende des steilen
Abstiegs in der Mittelkammer des Sommers,
gleichgültige Pharaonin,
gleichgültig anschaust.
Du ziehst den Faden
ab von der Rolle, die an der
Tür festgemacht ist, und ziehst ihn
um die Spiegel und Spiegelecken, sodass er,
05 wäre er nicht aus Nylon,
risse.
Dich nämlich zieht stärker,
zieht unerbittlich das Bild
des Stiermenschen, der innen,
10 hinter den Spiegeln
und Spiegelecken, versteckt
in den hochgeschossenen
Stauden, blinzelt und gähnt.
Im Nachtwind richten die Pappeln
Gewimmel der Stimmen. Sie richten,
hoch oben wispernd, die Wagen.
Die Zitronenboote, zuhöchst,
05 weichen den Brocken, die,
Sommerschlachten zu schlagen,
drängen und drohen.
Höher die Flut,
die Pyramide ertrunken. Der Hund
lief über die Straße. Die Flut
versickert. Allein
05 Skarabaios schüttelt den Nilschlaf
ab, kriecht über den toten
Hund am Fuss der schimmelbedeckten
Pyramide. Die Flut
versickert. Allein Skarabaios.
Sieben Tage, Meer, schläfst du, bevor die
neuen Stürme dich rütteln; bevor sie
das Eisvogelweibchen vertreiben,
das durch deine Träume
05 hin- und herirrt. Vielleicht
erspäht es die Klippe, wo ich das bittre
Blatt weichkaue. Die Stürme
sind schneller, sie reissen
in den Gischt das Eisvogelweibchen, verschlingen
10 die Klippe. Nach sieben
Tagen, mein Schläfer, weiss
und wachgerüttelt, vergisst du die Träume.
Kannst du nicht warten, bis dass das
Grab über dir einstürzt,
was klopfst du, was schreist du?
Kannst du nicht warten, bis dass dir
05 der Ball hart gegen die Brust stösst,
was klopfst du, was schreist du?
Kannst du nicht warten, bis dass dir
das Kind mit dem schmutzigen Finger
erstaunt übers Kinn streicht,
10 was klopfst du, was schreist du?
Kannst du nicht warten aufs feuchte
Frühjahr, auf Kinder, auf Spiele, die dich zufällig
befreien, was klopfst du, was schreist du?
Kannst du nicht warten?
An der Strandstrasse kauerst du, kaust du
das bittere Blatt, wenn die weissen
Schirme im Schreien und im
Gekreisch vorüberziehn. Nicht sehen
05 wirst du, nicht hören,
bis dir mit der Woge der Seehund
über die Böschung springt in den Nacken.
Dann vergisst du zu kauen, dann rennst du,
verwirrst du, zertrittst du die weissen
10 Schirme. Die Woge, das Schreien,
das Gekreisch verläuft sich. Verwundert
schnuppert inmitten der leeren
Strandstrasse der Seehund.
Betrunken dring ich bei Frühlicht
in den Garten ein, der mich aus tausend
Tropfen starr ansieht. Allein
die Schildkröten regen sich und bereden,
05 im nassen Rasen versammelt,
die Gesichter der Nacht.
Sie zögen mich, wär ich bei Sinnen,
in ihr Vertrauen. Ich taumle
vorüber zum letzten
10 erleuchteten Fenster, als könnt ich
es retten vorm Sterben. Man hat
hinterm Horizont schon den
Sonnendolch Morgen geschliffen.
Nicht lang mehr, nicht lange
zuckst du im steinernen Flur
unterm Hall deiner Schritte zusammen.
Nicht lang mehr, nicht lange, du trittst
05 im Winkel des steinernen Flurs in die Bienen.
In deinen Ohren Gedröhn,
in deiner Nase der Duft
heimlich und lange und böse
im Winkel des steinernen Flurs
10 gesammelten Honigs.
Stiche.
Nicht lang mehr, nicht lange.
An dieser Insel, an jener
steig ich an Land. Am Strand
verteile ich Muscheln, unten
unter den Riffen gefunden.
05 Ich schwimme, ich tauche, ich finde,
ich steige an Land, ich verteile,
ich kaue die Kräuter, unten,
unter den Riffen gefunden.
An dieser Insel, an jener
10 steig ich an Land und verstecke
am Strand, was ich unten
unter den Riffen gefunden.
Du siehst die Kiesel nicht mehr,
die du von der Brüstung
auf den Schlafstein hinabwirfst. Der Wind
bog die Zweige und stürzte
05 dich in den Schatten. Du siehst
die Viper nicht, die unterm Schlafstein
erwacht und auf die Brüstung
heraufklimmt. Du hörst nur
das Klirren der Kiesel.
In die letzten
Winkel geduckt,
Vögel, blind hinter stiebendem Schleier.
Regen rinnt und zerreisst ihn,
05 klebt an die Erde
die Körner. Die Vögel,
überm Wind wieder, wiegen
sich mit triefenden Flügeln
auf den Drähten und blinzeln
10 ins Weite.
Engel im Regen,
kläglich, mit nassen
Flügeln, treiben
knapp über den Kämmen. Bis einer,
05 April, eine sonnige Stelle
findet, die Federn
schäumen auf, und die Glieder
rudern, plötzlich getrocknet, er kreist
nieder, Rieseninsekt.
10 Engel mit nassen
Flügeln treiben im Regen.
Der Baum trägt einen
ganzen Sommer aus Bienen,
worin sich dein Wagen
festfährt. Und wenn du die Hand
05 hinausstreckst, den Vogel zu fangen,
lächerlich klein ist die Chance,
dass dir das Rauschen
der Acqua Felice hereintönt.
Wenn du die Hand aus dem Wagen
10 hinausstreckst, hörst du einzig den Vogel
angstvoll piepsen in einem
ganzen Sommer aus Bienen.
Gäbe es singende Schlangen,
sie sässen zutiefst
unten im Steinbruch, erschreckten
die zufällig des Wegs
05 kämen und in der Arena
sähen den Chor
schwankender grüner Gewächse,
hörten das Lied über Klippen,
über die leeren
10 Wände wiegen und wehen:
Gäbe es singende Schlangen …
Strassenbahnwagen am Strandbruch,
leer mit zerschlissenen
Wimpeln, blieb über der Grotte
von der vergangenen Hochzeit
05 einzig übrig, dort
wo die Schienen
rosten und enden.
Zähne,
kariös, aus der Lücke
dazwischen starrt eine Büste
dich an, die am Morgen,
05 wenn der Dunst schmolz,
Ewigkeit spielt.
Blumen, auf Karren geschoben
durchs Gedräng auf den Platz
am Ende der Pappelallee,
wo der Sommer geborsten und wo
05 die Kinder vom Karussell
zu stürzen sich fürchten:
hinein in die Blumen, geschoben
durchs Gedräng auf den Platz,
wo der Sommer geborsten,
10 mit Jauchzen zu stürzen sich fürchten.
Sie legten ihn in das Grab
und vor das Grab einen Stein, der die Pfeile
auffinge, sicherer als
das Olivengewucher. Darin
05 versteckt rief ein Vogel
drei Tage lang ohne Pause:
"Sesam, öffne dich!"
Kreischen und Kreisen der Möwen
treibt mich hoch in die Höhle.
Picken und Hacken der Möwen
lässt mich den Besen
05 auf den Fliesen vergessen: Am Ufer
versinkt die Terrasse
im Schnee und im Wirbel der Möwen.
Ich äuge hoch aus der Höhle.
Zu Blei
gerann der Golf dort unten,
und höher
schlagen über dem Kopf
05 die Wildgewächse zusammen.
Höher und dichter. Bald
werden sie dich halten für immer, auf dass du
nie mehr den Golf dort unten
siehst und nie mehr
10 hörst das tödliche leise
Lied der Matrosen.
Einst bleibt
von mir nur noch die Stimme.
Du wirst mich in allen
Zimmern suchen,
05 auf den Treppen, in den langen
Fluren, in den Gärten,
du wirst mich suchen im Keller,
du wirst mich suchen unter den Treppen.
Einst wirst du mich suchen.
10 Und überall wirst du nur meine Stimme
hören, meine hoch monoton
singende Stimme. Überall wird
sie dich treffen, überall
wird sie dich foppen, in allen
15 Zimmern, auf den Treppen, in den langen
Fluren, in den Gärten, im Keller,
unter den Treppen. Einst
wirst du mich suchen. Einst
bleibt von mir nur noch die Stimme.
Noch steht es, noch hängt es, das schwere
Ei überm Flachdach,
wo sie sich sonnen. Aber
das Ei wird zerbrechen, das Wasser
05 aufs Flachdach prasseln. Sie werden
die Jacken packen und laufen.
Das Ei wird fahren, sein Wasser
in die Strassen hinab
giessen und erst wieder halten über den dürren
10 Gärten, die leeren
Teiche zu füllen. Bald steht es,
bald hängt es, das leichte
Ei über den Gärten und schliesst sich.
Über dem Grab wird der Vogel
einen weissen
Schreistein auf den anderen setzen.
Die Begrabene wird
05 die Schreisäule nicht sehen, auf der
am Ende der Vogel
sich niederlässt und seine Flügel
steif breitet, damit
die Winde sie streifen zwar, aber
10 niemals verrücken.
Wir hatten den Garten geplündert,
die verdorrten Blumen auf Karren
geladen, aufgeschüttet
und angezündet am Hauptplatz.
05 Da fuhr auf einmal ein warmer
Wind in den Winter. Wir luden
die Karren von neuem und trugen
die Blumen zurück auf die Beete.
Wir lehnen am Zaun und wir warten,
10 bis der warme Wind sie zur Blüte
und zum Duft weckt mitten im Winter.
Wir hatten den Garten geplündert.
Wenn nur der Schnee schon
weit und breit auf den Wegen
läge, wenn nur die Hühner
kreischend die Körner aus den vereisten
05 Spuren der Schlitten
kratzten, flitzte man leicht
über die Wiesen, man glitte
flugs die gehärteten Hänge
hinab und hinüber
10 über den Nil und erreichte
mühelos die zu weissen Festen bereite
Sphinx und die noch im Rauhreif gestrenge
Pyramide des Cheops.
Die Hühner picken gebückt
aus dem Rauhreif die Körner und blicken
nicht zur Hochterrasse zurück,
wo vom Geländer die Federn des toten
05 Truthahns schaukeln. Sie blicken
nicht zur Tiefterrasse hinab, wo der Strauss
stelzt und unter Schreien
einbricht ins Eis,
das ihn unverfroren gespiegelt.
Aufrecht wirst du,
stumm und gefesselt, einst hinten
auf dem steinernen Sitz aus dem Schlaf
schrecken und sehen
05 zerbrochen den Hahn, seine Augen
in Splittern zerschellt auf dem Pflaster.
Wie damals aber, gedenkst du? gedenkst du?,
wird die einzige Grille
zirpen, die das Erfrieren nicht fürchtet.
10 Und siehe da, draussen
schiebt immer noch einer, wie damals, sein neues
Fahrrad vorüber und pfeift.
Wer die Planke entlang
der Pyramide erklettert, erkennt
die verschollene Stadt und sieht
im Farnkraut sitzen den Toten.
05 Wer die Planke entlang
der Pyramide erklettert, der springt
ins Farnkraut hinunter und nimmt
die Katze von den Knien des Toten.
Die Alten fallen und hängen
mit den Schuhn in den Löchern, sie strecken
die Hände ins Wasser. Das Lastschiff
tuckert bergwärts und bleibt
05 stehen mitten im Strom, unerreichbar.
Eine Rose sprengt die Strassenmitte
auf, die Hummel
erwacht und schiesst
an die Scheibe, stürzt zurück aufs Sims.
05 Dornen
sperren die Strasse, und die Rose fängt,
versteckt und gierig,
Wagen, Fliegen in das Netz.
Über die betäubte Hummel weht davon der Duft
10 einer Rose, welche
sprengt die Strasse in der Mitte auf.