Samstag, 20 Juli 1957

Die Sibylle

Nur in den ersten Nächten des Frühlings
singt die Sibylle: die braunen Gebirge
sind dann für eine Weile
grün und ihre Stimme erregt
05 die Büsche des Steilhangs zum Blühen.
Meine Seite bleibt leer,
das sind nicht Nächte zum Schreiben.
Aber das ist ein Zwang,
der meinen Zimmernachbarn
10 hinab in die Hotelbar treibt
zu den Schnäpsen, den langwimprigen
Blicken, den schlecht geröteten Lippen.
Mich treibt die Stimme der Sibylle zum Schreiben. // 045
Die rauhe uralte. Aber es ist nicht genug,
15 es reicht nicht. Ich laufe zum Tempel,
sie flieht in die Cella.
Noch gerade das geblumte
Kleid erkenn ich. Sie hat sich verborgen.
Der Mond aber strahlt jetzt erst
20 voll, die Hänge duften verderblich:
wie verschieden sind doch die Rhythmen:
die Droge Sibylle wirkt auf sie erst jetzt am stärksten.
Mich erschrecken schon wieder Ruinen,
Blüten erinnern an Gräber.
25 Ich laufe hinab zu den Fällen
des Anio; sie übertönen // 046
die nun zerkratzte Stimme der Sibylle im Hirn
und jene Strofe Hölderlins,
der von weitem nur die Süsse
30 dieser Landschaft erfuhr.
Für ihn gab es noch dies „vonweitem“,
Uns bedrängen die alten
Landschaften der Sehnsucht.
Sie sind zu leicht erreichbar.
35 Wir sehnen uns nach Osten,
wo es nicht Tempel, nicht Sibyllen gäbe,
wo man uns ganz allein mit uns liesse.


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Die Sibylle

Nur in den ersten Nächten des Frühlings

singt die Sibylle: die braunen Gebirge

sind in jenen dann für eine Weile

grün und ihre Stimme erregt

05 die Büsche des Steilhangs zum Blühen.

Meine Seite bleibt leer,

das sind nicht Nächte zum Schreiben.

Aber das ist ein Zwang,

der andre¿ meinen Zimmernachbarn

10 hinab in die Hotelbar treibt

zu den Schnäpsen, den langwimprigen

Blicken, den schlecht geröteten Lippen.

Mich treibt die Stimme der Sibylle zum Schreiben. //

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Die rauhe uralte. Aber es|ist nicht genug,

15 es reicht nicht. Ich laufe zum Tempel,

sie flieht in die Cella.

Noch gerade das billige¿, geblumte

Kleid erkenn ich. Sie verb hat sich verborgen.

Nur¿Der der¿ Mond aber strahlt jetzt erst,

20 voll, die Hänge duften verderblich:

wie verschieden sind doch die Rhythmen:

die Droge Sibylle wirkt auf sie erst jetzt am

stärksten.

Mir reicht sie nicht

Mich erschrecken Ruin schon wieder Ruinen,

Blüten erinnern an Gräber.

25 Ich laufe hinab an zu den Fällen

des Anio; sie übertönen //

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die nun zerkratzte Stimme der Sibylle im Hirn

und jene Strofe Hölderlins,

der von weitem nur die Süsse

30 dieser Landschaft erfuhr.

Für ihn gab es noch dies „vonweitem“,

Uns bedrängen die alten

Landschaften der Sehnsucht.

Sie sind zu leicht erreichbar.

35 Wir sehnen uns nach Osten,

wo es nicht Tempel, nicht Sibyllen gäbe,

wo man uns ganz allein mit uns liesse.

20.7.57

 

  • Letzter Druck: GEDICHTE 1960
  • Textart: Verse
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Fassung: Erste Fassung
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: A-5-d/01
  • Seite / Blatt: 044, 045, 046

Inhalt: 39 Entwürfe zu 39 Gedichten, 1 Dramenkonzept (1 Endfassung), Motiv-Notizen
Datierung: 8.4.1957 – 14.6.1958
Textträger: Hellbraunes Notizbuch, Bleistift
Umfang: 130 beschriebene Seiten
Publikation: GEDICHTE (12 Gedichte), Verstreutes (3)
Signatur: A-5-d/01 (Schachtel 29)

Bilder: Ganzes Buch (pdf)
Spätere Stufen: Manuskripte 1957, 1958, Typoskripte 1957, 1958
Kommentar: ab S. 124 Motiv-Notizen
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften (ohne die Motive)

Weitere Fassungen

Notizbuch 1957-58 (alph.)
(Total: 41 )
Notizbuch 1957-58 (Folge)
(Total: 41 )
Suchen: Notizbuch 1957-58