Dienstag, 18 Januar 1955

Monolog des Engels …

Monolog des Engels

Dies ist der Wald, ich erkenn ihn,
darin ich so lang ging, darin
die Bewegung meiner Flügel
das Licht war, das einzige Licht,
05 eh ich eintrat in die Strassen
mit der von den 
kreuz und quer gespannten Drähten
hängenden Wäsche,
bevor ich eintrat in die Stadt Jerusalem,
10 die mich immer herbeiruft
und wenn ich dabin, mich nicht erkennt.
Wie sollte sie auch: viel zu gross sind meine Flügel
und stossen auf allen Seiten an die Mauern,
wischen ab den Staub und die Spinnweben
15 und klemmen sich ein in die rostigen Fenstergitter,
sodass ihre Federn abgebrochen niederflattern // 071
und sich mischen mit den Federn der
hämisch gurrenden Tauben. Und ich bin nur
ein dumpfer Falter, über den man sich höchstens wundert,
20 weil er, ganz unpassend, am Tag fliegt.
Aber hier ist mein Wald wieder, in den ich lange ging
und darin das einzige Licht war die Bewegung
meiner geputzten, glänzenden Flügel.

18.1.55 // 072

Monolog des Engels (II)

Da bin ich wieder im Wald, darin
so lang das einzige Licht war die
Bewegung meiner Flügel.
Eh ich herab kam in die Felder
05 von Bethlehem, wo mich die Hirten
fast verwechselten – und einige taten es wirklich –
mit den grauen Tauben, die überall die
Zäune verdrecken: und wie sollte
ich mich wundern darüber,
da doch meine Flügel
beim Streifen an die Telefondrähte
10 Federn verloren, die mit denen der Tauben
auf dem Boden sich mischten:
wie gurrten die hämisch! Nur wer genauer hinsah,
hielt mich für einen dumpfen Falter, // 073
der, aufgeschreckt, am Tage herumflog. –
Doch hier bin ich endlich wieder 
15 oben in meinem Wald, wo das einzige Licht bleibt
die Bewegung meiner geputzten, glänzenden Flügel.

20.1.55

Der Engel läuft zur Treppe rechts, die Treppe hinauf, indem er mit dem Flügel an die Palmbüsche streift, sodass es knistert. Zuweilen bleibt er stehen und greift ins Geäst (3), als müsste er sich von seinem Vorhandensein überzeugen. Zuletzt, im ersten Stock, entdeckt er den grössten und schönsten Busch über dem Portal. Er eilt entzückt, strahlend darauf zu und schüttelt lachend daran: Eine grosse schwarze Spinne sinkt langsam an ihrem Faden herab auf sein Bein, auf seinen Unterschenkel unterhalb des Spitzenrands seiner Hose.

21.1.55 // 074

Die Spinne (sich langsam herablassend):

Meine Zimmer sind auf
dem Hochhaus und schaun über den
ergrauenden, den ermattenden Golf,
der in schmutzigen Wogen kriecht
05 an den sandigen Strand mit den
gelben Gräsern. Ich wollte diese
Wohnung eigentlich nie beziehen,
aber man hat sie mir gelobt
wegen der Aussicht auf Neapel
10 und hinüber auf Capri.

Und ich folgte ihrer Meinung und
schämte mich meiner Angst
vor dieser grauen Stadt und vor dem
Beben des Bodens, darauf sie
jeden Morgen gegen die Dämmerung wartet.

(Sie fällt schnell auf den Unterschenkel des Engels:)

Nun stehn hinter mir die leeren Reste // 075
15 des Hochhauses. Und ich sitze
unten auf dem dürren, spärlich bewachsenen
Strandplatz, heil¿ und allein.

22.1.55

Der Engel: Wolke, die das Mondlicht verwischt

Die Spinne: Regen, der sich der Sonne vermischt

Der Engel: Ohne im Regenbogen zu klaren

Die Spinne: Kerze, die unter der Hand erlischt,

Der Engel: nicht zu lesen die Schrift im Buch

Die Spinne: nicht schlafenden Augs zu bedenken den Fluch

Engel: winzig¿ duftloser Kranz,
löschst du meine goldenen Flügel,
sinkst du, finstere Blüte,
in den Tanz,
fällst in die Maschine, wo sies
am wenigsten erträgt. Spürst du nicht, // 076
wie wieder wächst aus mir
das alte Glashaus,
25 das ich eben gelassen habe für immer,
das alte tanzlose Glashaus
voll dem Duft trockener Veilchen,
wie damals auf dem äussersten Stadtturm von
Bethlehem, als ich vom Feld geflohen war
und mit den Fledermäusen strich
durch die Nachtgassen,
mit mir riss die vergessene Wäsche von den Leinen
und nur wenige Betrunkne erschreckte,
die nach Hause gingen:
wie ich damals auf dem äussersten Stadtturm
stimmlos vor Angst, das Glashaus aus
mir hinausrief, das mich bewahrte
bis zur nächsten Drohung,
so bläht sichs jetzt wieder.

(Das Letzte mit steigender Angst. Die Flügel falten sich wieder eng an seinen Rücken. // 077 Er starrt auf die Spinne, die ruhig auf seinem Schenkel sitzt. Und mit jedem Atemstoss bläst er am Glas, das zuerst wie eine Posaune aus seinem Mund wächst, dann sich zurück und über ihn wölbt, endlich sich um ihn, der immer noch die Spinne angstvoll fixiert, schliesst und erstarrt.) // 078


Dritte Szene.

Der Schauplatz derselbe. Das Tor ist weit offen. Die Knaben stürmen herein. Der Erste hält mit der Hand ein Horn hoch, ein glänzendes verchromtes Signalhorn, wie es Luxusmotorboote oft haben. Immerfort unter dem Druck der Hand, singt es seine vier Töne.

Der zweite Knabe: Wo hast dus her? Wo hast du das gefunden, Strolch?

Der dritte Knabe: Dass das keiner bemerkt hat! Aber sie werdens noch merken, wenn du so laut machst, da muss man nicht lang suchen.

Der erste Knabe: Der merkte doch nichts, der Herr der hier ausstieg: habt ihr ihn nicht gesehen. Da draussen liegt die Kiste: eine grossartige Kiste.

Der dritte Knabe: grossartig vielleicht. Aber so ein Horn dran, weisst du, das find ich etwas spleenig, ds ist doch // 079 altmodisch, kommt mir halb vor wie eine Posaune, (und die braucht man nur noch bei historischen Umzügen, wenn der neue Bürgermeister aufzieht oder der Präsident zu Besuch kommt)

Der erste Knabe: Der merkt nichts, der Herr, der da ausstieg. Der hatte die Nase in der Luft. Ich glaube, er spinnt etwas. Da hast du ganz recht, er ist wohl etwas spleenig. Aber die Kiste ist toll. Und da wollte ich etwas davon haben. Und das glänzt doch, und man hörts doch

Er drückt wieder die vier Töne.   31.1.55

Dann denkt er einen Augenblick nach, und fährt weiter:

Als ich noch ganz klein war, da waren wir einmal in Ferien in den Alpen. Meine Eltern mieteten ein kleines Haus am Hang des Pilatus über dem Vierwaldstättersee. // 080

Der zweite Knabe: Das ist nicht wahr, ihr wart immer in den Voralpen in einem kleinen Nest mit einem grossen hölzernen Kurhaus, das aussah wie eine Musikdose oder eine Sparbüchse, die man in den Andenkengeschäften kaufen kann, nur viel grösser, riesig gross. So hast du es selber erzählt.

Der dritte Knabe: Das stimmt.

Der erste Knabe: Da gehn wir immer noch hin. Aber das war früher, da ging ich noch nicht in die Schule. Und damals, nur einmal waren wir in dem kleinen Haus am Hang des Pilatus. Und eines Abends, es war schon dunkel, da spielte mein Bruder draussen vor der Hütte und kletterte auf das Mäuerchen – es gab da ein Mäuerchen wie von einer Terrasse, darüber war die Weide für die Kühe, und darunter, am einen Ende der Brunnen, wo wir immer das Wasser holen mussten. Und da lief mein Bruder hin und // 081 kletterte auf das Mäuerchen.

Der dritte Knabe: Aber mein Bruder ist um die Zeit schon zu Bett, immer, der kann nicht rauslaufen, wenn es dunkel ist.

Der erste Knabe: Es ist doch nicht immer zur gleichen Zeit dunkel. Und damals war es schon ziemlich früh dunkel. Aber die Zeit weiss ich nicht, ich kannte die Uhr damals noch nicht.

Der dritte Knabe: Die kennst du heut ja noch nicht.

Der 1. Knabe: Schweig still, frecher Kerl, das ist nicht wahr (Er gibt ihm einen Faustschlag, der andere wehrt sich.)

Der 2. Knabe (trennt sie): Das ist doch egal, erzähl weiter.

Der 1. Knabe: Nein, jetzt will ich nicht mehr.

Der 3. Knabe: Da gehn wir halt heim

(Der zweite und der dritte Knabe wenden sich grüssend zum Gehen).

Der 1. Knabe: Gut, ich erzähl weiter, aber ihr dürft mir nicht mehr dreinreden. // 082 Ehrenwort.

Die beiden andern (geben ihm die Hand): Gut, Ehrenwort.

Der 1. Knabe: Mein Bruder kletterte also auf das Mäuerchen und lief da auf dem Rand hin und setzte die Füsse immer so, dass er ja immer auf den Steinen blieb und ja nicht auf das Gras trat.

Der 3. Knabe: Woher weisst du denn das, du warst ja nicht dabei.

Der 2. Knabe: Das kann er ja nachher erzählt haben. Sei jetzt ruhig.

Der 1. Knabe: Ihr habt gesagt Ehrenwort.

Die beiden andern: Ehrenwort.

Der 1. Knabe: Wir, meine Schwester und ich standen mit den Eltern drinnen am Fenster und schauten auf die andere Seite hinaus, dort sah man nämlich den Scheinwerfer vom Stanserhorn, das ist ein Gipfel über dem See, und der dreht sich immer, und // 083 sein Strahl streicht über die Alpen ringsum, und dreht sich immer ringsum. Und immer, wenn er sich uns zuwandte, blendete uns das Licht direkt in die Augen.

Der 3. Knabe: Das ist doch klar, das musst du nicht sagen. Aber was hat das mit deinem Bruder zu tun?

Der 2. Knabe: Sei jetzt doch ruhig, sonst erzählt er nicht mehr.

3.2.55

Der 1. Knabe:
Mein Bruder lief also auf der kleinen Mauer, so (er breitet die Arme aus und geht schwankend ein paar Schritte), und plötzlich, weil er es sosehr vermied, auf das Gras zu treten, fiel er hinunter, und als er aufstand, tat ihm der Fuss weh und er konnte nicht mehr richtig auftreten. Er schrie natürlich fürchterlich.* Und wir liefen alle aus dem Haus herzu und sahen ihn herumhumpeln mit verheultem Gesicht. Und da gab ich ihm, um ihn zu trösten, eine // 084 bunte Ansichtkarte, die ich am Tag zuvor von meiner Patin bekommen hatte, und um die er mich sehr beneidet hatte. Darauf war ein grosser Meerdampfer, weiss und prächtig im dunklen Wasser. Er hiess "Principessa Mafalda".

* Er ist nämlich etwas zimperlich und wehleidig.

 Der 3 Knabe: Wie du ja auch. Das seid ihr alle.

(Der 1. Knabe schlägt nach ihm, der 2. trennt sie wieder)

Der 1. Knabe: Und wie er sich da freute, grad aus dem Heulen heraus, da machte er ein Gesicht grad wie der Mann der aus dem Motorboot stieg. Und darum, ja darum hab ich, glaube ich, auch die Hupe genommen.

4.2.55

Der 3. Knabe: Den hats. Er ist ganz weg.

(Er grinst und stösst den 2. Knaben an) // 085

Der 2. Knabe: Ich glaub auch, es stimmt etwas nicht mit ihm.

(Schüttelt den Kopf. Der 3. Knabe will dem ersten die Hupe wegreissen. Der läuft weg, die Treppe auf der einen Seite hinauf, der dritte auf der andern. Der zweite ihm nach, um ihn zu halten. Aber schon ist jener oben, trifft auf den ersten vor der Glasglocke, will ihm die Hupe entreissen. Sie ringen. Der erste Knabe wirft, da er keinen andern Ausweg weiss, die Hupe weg. Sie zerschlägt die Glasglocke, trifft die Brust des starren Engels. Der fällt, spröder, vertrockneter Stoff, im Nu als Staub auseinander.)

Die Stimme der Mutter: (sich nähernd: das Licht aus einer sich öffnenden Tür fällt von der Seite herein) Passt aber, wenn ihr euch schon balgt, auf den Engel auf. // 086 Es ist das letzte Stück von der Weihnachtskrippe eurer Urgrossmutter.

(Die Spinne schwebt an ihrem Faden langsam wieder ins Gezweig des Palmbuschs zurück. Die Knaben sind weggelaufen)

Ende  5.2.55


Seite 070 (A-5-c_07_070.jpg)

Monolog des Engels

Dies ist der Wald, ich erkenn ihn,

darin ich so lang ging, darin

die Bewegung meiner Fügel

das Licht war, das einzige Licht,

05 eh ich eintrat in die Strassen

mit denr hängenden Wäsche von den

kreuz und quer gespannten Drähten

hängenden Wäsche,

bevor ich eintrat in die Stadt Jerusalem,

10 die mich immer herbeiruft

und wenn ich dabin, mich nicht erkennt.

Wie sollte sie auch: viel zu gross sind

meine Flügel

und stossen auf allen Seiten an die Mauern,

wischen ab den Staub und die Spinn-

weben

15 und klemmen sich ein in die rostigen

Fenstergitter,

sodass ihre Federn, abgbrochen niederflat-

tern //

  • Besonderes:

    Monolog und Dialoge; Fortsetzungen bis 5.2.1955 (Abbildung und dipl. Umschrift nur von S. 70; weitere Abbildungen: vgl. pdf-Datei, S. 70-86)

    Vgl. S. 68 Der Engel im Busch (Prosaskizze) und S. 56f. Der Kohlenschlepper dringt …

    Notizen S. 122/123:

    Das Kind spielt vor der Alphütte über dem See …
    "Welch Grauen aber befällt den Engel, wenn er eine – noch so kleine – Spinne auf seinem rosigen zarten Bein fühlt" (Lorca)

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Szenisch
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: A-5-c/07
  • Seite / Blatt: 070, 071, 072, 073, 074, 075, 076, 077, 078, 079, 080, 081, 082, 083, 084, 085, 086

Inhalt: 57 Entwürfe zu 42 Gedichten, Notate zu szenischen Texten, Motiv-Notizen
Datierung: 14.1.1954 – 3.10.1955
Textträger: Hellbraunes Notizbuch, liniert, Bleistift
Umfang: 130 beschriebene Seiten (S. 94-114 fetter schwarzer Bleistift)
Publikation: Die verwandelten Schiffe (19 Gedichte), GEDICHTE (1 Gedicht), Verstreutes (4 Gedichte)
Signatur: A-5-c/07 (Schachtel 29)

Bilder: Ganzes Buch (pdf)
Spätere Stufen: Manuskripte 1954, 1955, Typoskripte 1954, 1955
Kommentar: S. 120-122 Motive zu Gedichten
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften (keine Umschriften bei Prosanotaten)

Weitere Fassungen

Notizbuch 1954-55 (alph.)
(Total: 59 )
Notizbuch 1954-55 (Folge)
(Total: 59 )
Suchen: Notizbuch 1954-55