Samstag, 19 Mai 1956

19.5.56

Die tiefere, ältere, die Primärschicht aus der meine Dichtung kommt, ist die Welt meiner Kindheit, also die katholisch-mediterrane, eine Welt der Mystik, der Askese, der Heiligenbilder, der Prozessionen, der Angst um das Seelenheil, der Entrückung und Erlösung durch das Sakrament, der Wunder und Verwandlungen, des Welthasses, des Weltrausches, der schmerzhaftesten Herzensspaltung, der entzücktesten Einungen. – Die obere, neuere, die Sekundärschicht ist die Welt der modernen Kultur, also der deutschen Nationalsprache und Nationaldichtung, der Kritik, der Aufklärung, der Skepsis, des Individualismus, des Freiheitspathos, des Fortschritts. – Poetisch interessanter, unentbehrlicher ist zweifellos die Primärschicht. Aber fruchtbar, wirksam wird sie erst, wenn ihre Triebe heraufwachsen durch die Sekundärschicht: wenn die Gestalten, die aus der Tiefe heraufsteigen, hier gerinnen, einfrieren, // „verfremdet“ werden. Der Reiz meines Gedichtes soll darin beruhen, dass das Alte und der Epoche Fremde im neuen Element neu und unerhört, unüberhörbar, unübersehbar wird. – Habe ich damit die Bedingungen der poetischen Vollkommenheit genannt: das Ewige und Uralte muss zugleich ganz neu, das Allgemeinste zugleich ganz einmalig, ganz besonders sein?

02 – Die Primärschicht wird mir hier in Hamburg besonders bewusst, weil ich hier das erste Mal an einem Ort lebe, wo man ganz auf die Sekundärschicht beschränkt ist, wo es mit der Primärschicht kaum eine Berührung gibt. So dass ich das Gefühl habe, in einer halben Welt zu leben: der Gegenstand meiner grossen Auseinandersetzungen, an dem ich mich mass, an dem ich meiner selbst bewusst wurde – auch in den protestantischen Städten des Südens immer spürbar und wirksam – ist hier einfach nicht vorhanden. Das, was mir hier an Kultur, an Geist begegnet, scheint mir ein schöner Turm, der in die Luft gebaut ist, ohne Basis. Wobei das mir // wahrscheinlich so vorkommt, weil ich zur vorhandenen Basis keine Beziehung habe, weil ich sie als solche nicht anerkennen kann: Europa ist hier oktroiert, noch viel mehr als bei uns, das Mittelmeer – und das ist mir im Grunde identisch mit Kultur, mit Kunst, mit Poesie – ist hier nur noch Import, viel mehr als bei uns, in Süddeutschland und in der Schweiz, die wir doch noch am Rande des Orbis Romanus leben.

  • Textart: Prosanotat
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Tinte
  • Signatur: C-2-a/09
  • Werke / Chronos: Bd.6, 228, 229

Inhalt: Tagebuchauszüge zur Poetik und zu einzelnen Gedichten
Datierung: 1948 – 1991
Umfang: Ausgewählte Textstellen aus ca. 20 Tagebuch-Heften
Signatur: C-2-a/01 …, C-2-c/01 … (Schachtel 77-79)

Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

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