Donnerstag, 30 September 1954

30.9.54

Marcel Proust, ähnlich wie Ezra Pound und Marianne Moore, ein Brecher der Schlösser, ein Öffner der Zimmer: Dichtung beruht auf der grenzenlosen Assoziation, auf der Beherrschung des Mittels der Assoziation, der Verbindung eines jeden mit einem jeden. War ich bisher geneigt, das Wesen meiner Kunst im Hinausgehen, in der strengen Abscheidung von den Erscheinungen der Welt zu suchen, in der Beschränkung auf ein Minimum von Grundbildern, aus denen ich meine Gestalten zu komponieren unternahm; so muss ich in Zukunft immer mehr hineingehen, in das Zentrum der Welt vordringen, beladen mit allen Erscheinungen, die mir auf dem Weg begegnen, so wenige wie möglich auslassend, alle hineintragen, um sie dort in der Glut zusammen<zu>schmelzen zur neuen Gestalt, zum Gedicht. – Es wird dies vielleicht viel mühsamer, viel zehrender noch sein, als was ich bisher gemacht habe: aber es wird mich weniger jetzt wohl nicht mehr befriedigen. Die geistige Bewältigung dieser so erweiterten Welt ist die Vorbedingung einer neuen geistigen Ordnung. Es kann sehr gut sein, dass ich sie nicht mehr sehe, dass meine Generation sie nicht mehr erlebt. Aber ich glaube, dass man sie in einzelnen Punkten vorbilden, vorwegnehmen kann, dass ich imstande bin, in meinem Gedicht sie anzudeuten, anzuzeigen, eine Art – wenn man so will – neuer Klassik. Freilich ganz anders als die sogenannte deutsche Klassik: banaler und abstrakter, aufgerafft aus einem furchtbaren Abstieg, weltbeladener // und weltflüchtiger, unruhiger und skeptischer. Denn wir sind, immer, in einer gesteigerten Dynamik, in einem beschleunigten Flusslauf, bewusst mittendrin. Und wenn wir darin ruhen müssen, so wissen wir, dass wir darin ruhen, dass unsere Ruhe bloss relativ ist, die Ruhe der schliesslichen Einmündung, wenn überhaupt, erst andeutend, vordeutend. Während die Welt damals noch von uns aus gesehen, als Ganzes ruhte (wie sehr sich Goethe und die Seinen auch im Gegensatz fanden zum Sturm des Revolutionszeitalters, so sehr war das für uns Heutige erst ein Anfang, ein erstes Beben)<,> ist sie heute als Ganzes in Bewegung geraten, und die Anstrengung des Geistes, darin die Gestalt, die immer ein Ruhendes ist, aufzustellen, muss so viel grösser sein, auch wenn es zum vorneherein deutlich ist, dass das Ergebnis geringer sein wird, als es damals war. Das Mögliche muss trotzdem getan werden.

  • Textart: Prosanotat
  • Schreibzeug: Tinte
  • Signatur: C-2-a/08
  • Werke / Chronos: Bd.6, 199, 200

Inhalt: Tagebuchauszüge zur Poetik und zu einzelnen Gedichten
Datierung: 1948 – 1991
Umfang: Ausgewählte Textstellen aus ca. 20 Tagebuch-Heften
Signatur: C-2-a/01 …, C-2-c/01 … (Schachtel 77-79)

Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

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