Mittwoch, 24 Juni 1959

24.VI.1959

Moras erhebt Einwände dagegen, dass ich das Bild des Spiegels verwende: das sei ein verbrauchtes Klischee. – Es gibt kaum mehr ein Bild, ein Motiv in meinen Gedichten, von dem nicht irgendeinmal jemand gesagt hat, es sei konventionell und verbraucht. Diesen Vorwurf zieht die heutige Poesie darum leicht auf sich, weil sie ja aus dem Kult der Originalität, der Ablehnung der klassischen // Vorbilder entstanden ist. Eine Dichtung, die auf Protest beruht, muss es sich mehr als irgendeine gefallen lassen, dass man sie daraufhin untersucht, ob sie auch wirklich über das hinaus führt, wogegen sie protestiert. – Daran ändert wenig, dass ich mich persönlich gar nicht als einen Protestierenden empfinde, dass ich mich einer poetischen Gesamttradition verpflichtet glaube, an der die Moderne, die ich vielleicht mitrepräsentiere nur ein Ast, aber auch ein Ast ist. Das Streben nach Originalität ist eine Eigentümlichkeit der ganzen Richtung und Epoche. Es wirkt nach von den ersten Generationen her, die die moderne Dichtung begründet haben. Woraus seine Fragwürdigkeit deutlich wird: das Streben // nach Originalität selber ist schon längst zum Klischee geworden. Entscheidend für die Qualität eines Gedichts ist die individuelle Substanz des Verfassers: dass sie stark genug ist, immer wieder durch die Klischees zu schlagen. Ob das im einzelnen Fall geschieht, das ist wohl für die Zeitgenossen am schwersten zu beurteilen: Tintoretto wollte Veronese nachahmen. Nicht einmal er selber, sowenig wie die Venezianer seiner Zeit, erkannte, dass er Tintoretto war. – Anderseits mag Moras darin recht haben, dass ich mich in der letzten Gedichtserie von dem Punkt, den ich letztes Jahr erreicht habe, nicht fortbewege. Dass ich im Kreis gehe. Das entspricht meiner alten Gewohnheit: wenn ich an einer Stelle // angekommen bin, lange ringsum zu laufen – eine weisse Maus im Käfig – bis ich einen Ausschlupf finde. Die Entwicklung meiner Arbeit geschieht in Schüben. Es ist darum vielleicht gut, wenn ich mich eine Zeitlang ganz auf Prosa konzentriere und die Lyrik ruhen lasse, bis ich glaube, dass ich die Kraft habe, die Wand zu durchstossen.

  • Textart: Prosanotat
  • Schreibzeug: Tinte
  • Signatur: C-2-a/12
  • Werke / Chronos: Bd.6, 298, 299

Inhalt: Tagebuchauszüge zur Poetik und zu einzelnen Gedichten
Datierung: 1948 – 1991
Umfang: Ausgewählte Textstellen aus ca. 20 Tagebuch-Heften
Signatur: C-2-a/01 …, C-2-c/01 … (Schachtel 77-79)

Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

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