Sonntag, 06 Mai 1951

Von Markus Kutter, 6.5.1951

Rom, 6. Mai 1951

[…]

Deiner Aufforderung, etwas über Deine Gedichte zu sagen, komme ich nur unter der einen Bedingung nach, dass Du meine allgemeine Einstellung ihnen gegenüber, wie ich sie im letzten Brief erwähnte, nicht vergissest. […]

02 Doch nun zu Einzelheiten. Bisweilen machst Du metrisch eigenwillige Formen, deren Notwendigkeit mir nicht verständlich ist. Vers 5 in „Was ist im trüben Moor“ (ich zitiere nach Gedichtanfang): warum lässt Du in diesem sonst regelmässigen Gedicht nach der vierten Hebung zwei unbetonte Senkungen stehen? wo Du „sie lastet“ durch „lastend“ ersetzen könntest? Im Gedicht „Irrgeworden vor dem Ueberhellen“, ebenfalls im 5. Vers die rhythmisch hässliche Endung „Trostlicht den“ welche den Ablauf des Gedichtes unterbricht. // (Im dritten Vers stand bei mir „Falle Spirals“ was ich wohl richtig in „Falls Spirale“ abgeändert habe.) Das Gedicht ist mir sonst aber eines Deiner besten. Es ist auf eine Art in sich verschlossen und selbst in einen Kreis verschlungen, die es geradewegs als Architektur erscheinen lässt. Es gehört jener „Kuppelwelt“ an, die eine Grundfigur Deiner Gedichte darstellt, und deren mögliche Verkörperung ich mir hier im Pantheon und anderen Kuppeln ansehe. – Eine ähnliche Geschlossenheit im Gedicht „Schwemmt der Fluss“, dort aber auch im zweitletzten Vers das leere „an dem“, das sich jedoch kaum ändern lässt, es sei denn, man setze den „Spendestrom“ in den Genitiv, wodurch das „an dem“ wegfiele. – Was das „zufällig“ in „Kühle tropft“ betrifft, das Streicher beanstandet, so würde ich // ihm doch beistimmen, vor allem auch aus metrischen Gründen, vor allem, da unsere Sprache bei diesem Wort nicht recht weiss, wo der Akzent liegt, auf zú oder auf fällig. Es ist dies eines der Gedichte, dessen Aussage mir übrigens nicht evident geworden ist. Im Gedicht „Wäre dieser Strom“ kann ich mich nicht abfinden mit dem letzten Vers, der als einziger sechs Hebungen aufweist und so einfach nicht recht im metrischen Schema Platz findet. Auch der Terminus „Brand“ zum Schlusse ist für jenen Leser, der nicht den Kosmos deiner Bilder angenommen hat – oder ihn nicht kennt! – mit zu unbestimmter Aussage erfüllt.

03 Wir haben ja in Basel schon einmal davon gesprochen, wie einzelne termini, die bereits // eine gewisse Bedeutung haben, nicht leicht neu verwendet werden können. Du musst es mit Dir selbst ausmachen, welchen Grad von Authentizität Worte wie: Unterwelt, Engelheer, gnadenglänzende Taube, der vom Siechtum ausgesparte Knabe, Lebensgärten, Väterhallen etc. besitzen. Ich halte sie nicht für unmöglich oder entwertet; ich glaube aber, dass sie nur mit dem höchsten Bewusstsein auch ihres überkommenen Wertes angewendet werden dürfen.

04 Vielleicht dass es Dich noch wunder nimmt, welche Gedichte ich als ein verantwortlicher Redaktor zur Publikation annähme. Es wären:

"Wo denn anders ist dieser Strauch"
„Schwemmt der Fluss“
„Irrgeworden vor dem Ueberhellen“
„Was ist im trüben Moor“ //
„Auf der Insel gehn“
„Vor dem offen auf den Strand“
„Das heraufstieg in den Wald“

Verschlossen blieben mir die Gedichte:

„“Wirr fährt hin und her“ (obwohl gerade in ihm einige Verse seltsam klar aufleuchten)
„Vergänglich ist auch dieses Bildnis“
„Kühle tropft“
„Dem der heimlich aus von Tänzern“
„Von den Gipfeln ist die fremde Taube“

05 Beim wiederholten Lesen ist mir auch etwas aufgefallen, was zwar überhaupt nichts gegen die Qualität Deiner Verse sagt, aber vielleicht ihre Annahme bei Redaktoren (erstaunlicherweise auch bei einem Streicher!) erschwert: Sie beziehen sich vielfach auf eine Welt, die in der deutschen Literatur eine geringere Rolle spielt als in romanischen Literaturen. Ich meine // eine katholisch – geschichtliche Welt. Man hat sich nach meiner Meinung nicht oft genug Gedanken darüber gemacht, wie protestantisch im Grunde seit Lessing und Herder die deutsche Literatur ist. Du musst verstehen, dass ich das nicht im Sinne eines Credos meine, sondern in der Beschaffenheit, der Substanz der dichterischen Welt. Deine Welt aber ist etwas anders; als Beispiel nenne ich die Gedichte:

„Die Taube trägt die heilige …“
„Wer da Gold wirft“
„Obgleich die Tore dröhnen“

und andere mehr. Sie atmen alle eine andere Luft. Und vielleicht sind sie auch mir fremder.

Im Grunde aber sind dies alles Dinge, die man im Gespräch bereden sollte, in einem Brief lässt sich derlei schwer sagen. // Ich habe Deine Gedichte hier auch einem Deutschen, Baron Bock von Wülfingen, der an der Münchner Pinakothek arbeitet, vorgelegt. Auch er hat manches als ausgesprochen schön und echt empfunden, sodass Du also die Kärtchen à la Streicher nur bedingt ernst zu nehmen hast. Ich will sie auch noch einem andern Deutsch-Römer vorlegen und gebe Dir dann wieder Bericht.

  • Besonderes:

    Was ist im trüben Moor … vgl. Typoskripte spez. / Sammlung Kutter

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Brief
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Tinte
  • Signatur: B-2-Kutt_002

Inhalt: Briefstellen zur Gedichtproduktion
Signatur: Vgl. Angabe bei den einzelnen Texten

Kommentar: Die Auswahl ist beschränkt auf einige wenige Briefe, v. a. aus der Verlagskorrespondenz;
vgl. auch einige Briefentwürfe Raebers in den Notizbüchern
Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

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