Donnerstag, 16 August 1951

Von Markus Kutter, 16.8.1951

Basel, 16. Aug. 51

Lieber Kuno

ich bin Dir auch noch meine Glossen zu Deinen Gedichten schuldig – hier sind sie und zwar schriftlich, da man schriftlich vorsichtiger ist und doch auch sicherer:

02 Allgemein: Die „schwachen“ Termini, das heisst jene, deren Wert nicht feststeht und traditionell eher abgegriffen ist, kommen weniger zahlreich vor (verzeih den schulmeisterlichen Ton, aber er lässt sich nicht umgehen); ich nenne „Hallen des Todes“ [Dort aber], der Mond, der mit „Prangen“ [Reiner, reiner …] hinsinkt, die „Brände“ [In die Tiefe, wo …]. – Zugenommen haben die „räberschen“ Termini, das heisst jene, die eine ganz spezifische Färbung Deines poetischen Willens enthalten. In diesem Sinne höchst gelungen betrachte ich: „wo der Schatten kühner kämpft“ [Nur Bedrängnis …]; „in der Stunde, wo die Kinder des Vaters täglich sich treffen“ [Dort aber] (einem andern als Dir müsste man freilich den hölderlinischen Klang dieser Verse zum Vorwurf machen!); „unter zapfenreicher Fichte“ [Glanz im unbefleckten Osten]; // und dann besonders schön „der Gespräche stiller Zwischenlauscher“ [Der Schwan]. Der Schwan scheint mir von diesen Gedichten überhaupt mit Abstand das reichste und sicherste; bei ihm wird das Kreisprinzip (Uebereinstimmung des ersten und letzten Verses) zu einer richtigen musikalischen Besessenheit; es ist Dir gelungen, einen Hin- und Rückgesang zu schaffen, dessen Aussage noch mehr durch die Melodie der Worte als ihren sprachlichen Ausdruck, das heisst ihre direkte Bedeutung, getragen wird. Ich meine das so, wie es bei Mallarmé gewisse Gedichte gibt, die schon beim ersten Anhören auf musikalischem Weg eine Aussage vermitteln, die sich nachher bei genauer Betrachtung als dieselbe herausstellt, die von den Worten gegeben wird. –

03 Am wenigsten kann ich mich befreunden mit „In die Tiefe“ und „Reiner, reiner ist heut“. Beim ersten ist der Relativsatz nach „Stern“ bis „Bränden“ bildlich nicht plastisch, in seiner Länge wohl sogar ungeschickt, da das „nicht ein Schimmer“ // zuweit von seinem Hauptsatz abgetrennt wird., In Vers 5 ist man nicht sicher, ob sich hinter dem „er“ der Schimmer oder ein Adler als eigentliches Subjekt versteckt. Ueberhaupt habe ich nicht – es wird auch meine Schuld sein – begriffen, welche Welt und welcher Welt Personen sowie Mächte mit dem Magier, dem Sohne, der offenbarten Zahl etc. angerufen werden. Das Gedicht ist für mich hermetisch und dann doch nicht musikalisch genug. Grammatikalische Schwierigkeiten habe ich auch beim zweiten Gedicht; so ist mir Vers 9 unbegreiflich. Blenden die Todesfürsten trüglich in falschem Licht? Unschön finde ich die Repetition Vers 4 und 5: „mit Prangen“, „mit Flügeln“. Den Heiles Schilden steh ich skeptisch gegenüber; sie erinnern mich ohne böse Absicht an das Strassburger-Denkmal vor dem Bahnhof SBB. Uebrigens fällt mir auf, wie rhythmisch differenziert der erste Vers gestaltet ist: - v – vv – vv -, während die andern // recht harmlos ihr Schema ausfüllen. – „Glanz im“: das „schmetterlingsgleich“, auf das es ankommt, ist nicht geglückt. – „Dort aber“: den Klang des ganzen Gedichtes finde ich gefährlich schön, da er so stark an anderes erinnert. Einzelnes: am „Tor des Gewölbes“ finde ich blass. Nach „Schleier“ muss wohl ein Komma gesetzt werden, wenn man nicht gar, der Verständlichkeit halber, einen neuen Vers anfangen lassen will. Beim Schluss finde ich „die Leuchte schattenlos“ dem „ewig die Stunde“ an Intensität weit überlegen. In „Alter Frau Melancholie“ stört mich persönlich der Einschub mit dem Dämon, dem Gebirge, der Hallen Säulen. Die Verse um das „in Armes matter Beuge“ finde ich unendlich besser, und ich würde versuchen, in diesem Bilde weiterzuschreiben, ohne auf den dunkeln Dämon zu reden zu kommen, der für mein Gefühl sowieso auf einer anderen mythologischen Ebene liegt. //

04Wie die aufgebrochne Rose“: ich mache Dir die gewisse sententiöse Knappheit nicht zum Vorwurf; andere werden es schon noch tun. Das „Urbild überwindet Abbild“ hört man nicht ganz ruhigen Gewissens, es ist in einem Gedicht doch etwas gewagt. Dem Schwan kommt nach meinem Gefühl am nächsten „Nur Bedrängnis“. Freilich kann ich dort mit der Burg nicht viel beginnen, vor allem da sie als weises Gemäuer aus dem Silber zu scheinen scheint. („Weise Gemäuer“ finde ich als Versanfang unpassend, da es gegen den Rhythmus verstösst; denn alle übrigen Verse fangen sonst mit eigentlich zwei Unbetonten an und benützen den Rhythmus der Zahlreihe 3-4-1-2, mit Betonung auf 1. (Beispiele bei Goethe: Kleine Blúmen, kleine Blätter; oder: Als ich auf dem Euphrat schiffte!) – Das letzte „Schlafes“ würde ich aus denselben rhythmischen Gründen wahrscheinlich durch ein „Schlafs“ ersetzen, aber das ist nebensächlich. //

05 Dies meine gedanklichen Glossen. Wie gesagt bin ich am meisten vom Schwan getroffen worden und dann von einzelnen Bildern in andern Gedichten. Der Kreisschluss des Gedichtes als Zusammenspiel der ersten und letzten Strophe scheinen mir in Deiner poetischen Welt richtig und schön; Du brauchst Dich seinetwegen noch lange kein Manierist schimpfen zu lassen. Für alle Gedichte gilt sonst, was ich früher schon sagte: ich habe bei Deiner Produktion oft die Vorstellung eines Amphitheaters, dessen verschiedene Plätze und Reihen sich langsam mit einzelnen Gedichten füllen bis ein komplettes theatrum mundi vorliegt. –

[…]

  • Besonderes:

    Verweise in eckigen Klammern von Hrsg.

    Der Schwan usw. vgl. Typoskripte spez. / Sammlung Kutter

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Brief
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Tinte
  • Signatur: B-2-Kutt_002

Inhalt: Briefstellen zur Gedichtproduktion
Signatur: Vgl. Angabe bei den einzelnen Texten

Kommentar: Die Auswahl ist beschränkt auf einige wenige Briefe, v. a. aus der Verlagskorrespondenz;
vgl. auch einige Briefentwürfe Raebers in den Notizbüchern
Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

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