Donnerstag, 04 November 1954

An Thomas Räber, 4.11.1954

Deine Briefe und Karten aus England bestätigen mir, was ich bisher über dieses Land gehört habe: es wundert mich nicht, dass man dort, und in Amerika, offenbar die beste moderne Lyrik macht, vielleicht die beste moderne Dichtung überhaupt, indem doch das Gedicht sehr oft aus der Erfahrung der Diskontinuität der äussern Welt, des Mangels an Durchbildung, erwächst. Das Schöne neben dem Hässlichen, das Sinnvolle neben dem Verrückten, das Gute neben dem Bösen zu sehen, das erzwingt doch offenbar das Gedicht als einen Versuch, die geheime Verbindung aufzudecken vom einen zum andern.

02 Ich habe in den letzten Monaten eine Entgrenzung, Eröffnung, Erweiterung – so scheint mir – meiner Dichtung erlebt, die mir klar zu machen, daraus nun für jede einzelne Arbeit, für jeden Vers die Konsequenz zu ziehen, mich im Augenblick vollauf beschäftigen könnte. Das läuft, kurz gesagt, vielleicht darauf heraus: die ganze Welt kann in einem unmittelbareren Sinn Gegenstand der Dichtung sein, als ich das bisher für praktikabel gehalten hatte. Es gibt keine poetischen und unpoetischen Gegenstände mehr. Es kommt nur auf die Methode an: Poesie ist eine Methode der Weltdarstellung, der Weltbeherrschung, der Wirklichkeitsbeschwörung, wobei ich nicht meine, was ich bisher getan habe, sei falsch gewesen: das waren poetische Übungen an ausgewählten Objekten. Aber jetzt fange ich an zu fühlen, dass es schlechterdings keinen Bereich gibt, in den ich geistig einzudringen imstande bin, den ich, mit der Seele und den Sinnen betreten kann, der nicht zum Gedicht werden könnte, den ich nicht, wenn ich die Methode beherrsche, // meine Methode, ins Gedicht ziehen kann. – Item, das ist Theorie, ich werde Dir die ersten Beispiele bald zeigen: wenn möglich gedruckt; wenn das zu lang geht, schicke ich Dir das Manuskript. – Es ist diese, fast plötzliche, Erkenntnis wie, es fällt mir im Augenblick nicht anders ein, ein geistiger Rausch,ein Taumel. Und zugleich das Gegenteil: Ernüchterung, Desillusion, als ob ich endlich von einem Sockel herunter steigen, ein enges Zimmer verlassen hätte. Geholfen haben mir hier die Gedichte Ezra Pounds, der Marianne Moore, Marcel Proust; und Musils „Mann ohne Eigenschaften“, den ich jetzt grad lese, bestärkt mich.

[…]

  • Besonderes:

    Vgl. Tagebuch, 29.6.1954 (Werke 6, S. 195-196)

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Brief
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Tinte
  • Signatur: E-01-B-01-RAEK/b_002

Inhalt: Briefstellen zur Gedichtproduktion
Signatur: Vgl. Angabe bei den einzelnen Texten

Kommentar: Die Auswahl ist beschränkt auf einige wenige Briefe, v. a. aus der Verlagskorrespondenz;
vgl. auch einige Briefentwürfe Raebers in den Notizbüchern
Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

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