Dienstag, 29 April 1952

Von Markus Kutter, 29.4.1952

Basel, 29. April 1952

Lieber Kuno,

vielen Dank für Deinen Brief und die Gedichtsendung. Hier zum ersten meine Bemerkungen:

02 „Vor Himmels Röte schmilzt“: womit ich mich nicht ganz zurechtfinden konnte, ist, dass ich mir ein „Haus mit metallener Wandung“ nicht deutlich machen konnte. Es korrespondiert für mich mit keiner Wirklichkeit, weder einer empirischen (dass ein Spital oder ein Gefängnis gemeint sein könnte) noch einer poetischen, bildlichen (dass ein „Haus mit metallener Wandung“ eine Sache ist, die es auf Grund dieser dichterischen Bezeichnung nun einfach zu geben hat und gibt). Sonst gefällt mir das Gedicht in seiner an- und abschwellenden Entwicklung; ob das „aber“, // mit dem die zweite Strophe beginnt, wirklich notwendig ist oder aus einer seit Hölderlin grossen und gefährlichen Tradition dasteht, musst Du selber entscheiden. Am wirklichen Genuss hindert mich, wie gesagt, dass ich nicht eigentlich die Ausgangssituation des ganzen Gedichtes begreife. –

03 „Keiner kennt die Pinie wieder“: Ich habe nichts auszusetzen und finde es ein sehr schönes Gedicht, das mich berührt hat.

04 „Ichthys“: Hier steh ich vor allem mit dem Reimwort am Schluss, mit „fahn“ auf dem Kriegsfuss. „Fahn“ hat so einen bestimmten Geruch, man weiss nicht recht ist es „fangen“ oder „fahren“ oder sonst ein Verb mit beliebigem Wert – // auf jeden Fall passt es in seiner ganzen, etwas blassen Altertümlichkeit in die übrige, nach meinem Gefühl beherrschte und gekonnte Heftigkeit der andern Verse. Gerade ein Ausdruck wie „Geknirsch der Strassenbahn“ in seiner präzisen Tatsächlichkeit bringt einen höchst wohltuenden Ton in Deine Verse. „Alle Lyriker sind Realisten“ – irgend so etwas sagt Benn in seinem Vortrag; aus keinem andern Grunde vermag aber gerade das „den Schergen fiel er hin“ nicht mehr zu befriedigen. Denn „Schergen“, so weit das Wort heute noch eine Bedeutung hat, sind ja Gerichts- oder Polizeibeamte, behaftet mit dem Geruch gewisser Willkür – und das meinst Du wohl nicht. Ich würde vorschlagen, // „Schergen“ durch „Krämern“ zu ersetzen, falls Du so etwas gemeint hast. (Für das „fahn“ fällt mir kein Ersatz ein; ich glaube aber nicht, dass man es stehen lassen kann, vor allem nicht am Ende des sonst gross angelegten und aufregenden Gedichtes.)

05 „Dunkeln Bluts Rubinenblume“: Der Symbolismus dieses Gedichtes wird mir nicht ganz deutlich; die beiden ersten Verse der letzten Strophe finde ich sowohl im Bild wie in der Grammatik unverständlich. Was soll es heissen, dass des Gartens Alb die Blume in den Retter der Nachtverzweiflung scheucht? (denn so wird man die Konstruktion auflösen!). Hier musst Du Klarheit schaffen. //

[…]

06 „Streife mit den Schwingen, Vogel“: Ich finde nichts dazu zu bemerken; im Ganzen scheint es mir ein Gedicht, das mehr an Deine früheren erinnert und nicht zu genügender Kraft und Evidenz vorgetrieben ist.

07 „Kröte und Pelikan“: Gehört wieder in Deine symbolische Märchenwelt, die ich reizvoll finde, auch wenn ich den Schlüssel dazu nicht immer besitze. Dunkel bleibt mir hier die Aussage der ersten zwei Verse, so sehr sie mir poetisch gelungen scheinen. Beim letzten Vers der zweiten Strophe habe ich mich lange gefragt, // ob seine Konzentration, die beinahe schon Wortspiel ist, noch angängig sei. Wahrscheinlich ja, wenn auch nicht ganz ohne Bedenken. Sehr einleuchtend, auch gerade im Vergleich mit dem vorherigen, ist mir die rhythmische Geschlossenheit des Gedichtes, der einheitliche Zug, der durch alle Verse geht und sie bindet.

08 „Brach das Füllhorn“: vielleicht das wichtigste Gedicht dieser Serie. (Bei moderner Poesie wird es immer wichtig, wenn sie sich mit sich selber und ihrer eigenen Lage abgibt.) Ich halte es auch weitgehend für gelungen. In der zweiten Strophe fällt mir „nachtverschlossnen“ als völlig bildtoter Begriff auf; wegen der // überzähligen Hebung im letzten Vers der letzten Strophe bin ich Dir nicht gram, doch meine ich, dass man noch merkt, dass Du Dir darüber Gedanken gemacht hast: die Hebung steht nicht so selbstverständlich da, wie sie sollte.

09 „Nächtens stürzt der Strom …“: Die Bilderwelt scheint mir sehr schön und dichterisch tragend; was mir fehlt, ist die Klarheit des ganzen Gedichtes und auch etwas die rhythmische Geschlossenheit. Ich entbehre überhaupt den Reim nicht sehr gern; er ist doch ein wichtiges Hilfsmittel. Das „Schau, sie bekleckert“ geht für mein Empfinden à coté; meine Bedenken gegen Worte wie siegeshell kennst Du.

10 Aehnlich berührt mich auch das andere Gedicht „Wenn uns // andern immer speit die Wölbung“: ich frage mich, was Du eigentlich vor Augen hattest, welche römische Grotte mit Säule. Ich würde aus solchen Vorwürfen Sonette machen, und gäbe im Titel den genauen Gegenstand an, auf den sie sich beziehen. Für beide Gedichte aber gilt, dass Du ein sehr starkes konstruktives sprachliches Können hast; die Sätze sind zwar oft etwas hart, aber überaus bestimmt und genau ineinander gebaut.

11 Bei den korrigierten Gedichten stört mich im ersten („Trennung trägt“) noch immer das klappernde „Aber“ im zweitletzten Vers; beim „Abend auf der Piazza Colonna“ finde ich die zweite Korrektur „am Gemäur zu kaun“ ganz missglückt, da // sich diese beiden Worte mit dem unterschlagenen e kaum aussprechen lassen. Da war mir das Mauerbraun noch lieber. Die Reimgruppe „kaun“, „schaun“ und „graun“ macht mit dem verschwiegenen Endungs-e jetzt überhaupt einen unbeholfenen Eindruck.

12 Soweit meine naseweisen Bemerkungen, über die Du nach Deiner Weisheit hinweglesen musst. Was meine private Lehre vom Rhythmus anbelangt, so hat sie an einem kleinen Orte Platz: als Mensch, der nicht mit Musik lebt, habe ich mich seit gut zwei Jahren auf ein rhythmisches Schema beschränkt ohne unglücklich zu sein: vierhebige Jamben, in die ich manchmal trochäische Akzente schmuggle. Vielleicht ist diese unkritische Bescheidenheit // eine französische Deformation; Benns gewaltsame und oft wirklich grossartige Rhythmen sind sicher „deutscher“ und dem Genie der deutschen Sprache gemässer, aber ich beherrsche sie nicht. Auch ist mir das Konstruktive gegenwärtig viel wichtiger.  […] //

13 Ganz allgemein aber: Borchardt nähme ich nun gerade nicht zum rhythmischen Vorbild. Er hat zwar ungeheuerlich viel von Dichtung verstanden, ist aber in seinen Werken – meinem Eindruck nach – nie wirklich schöpferisch in die Geheimnisse der Lyrik eingedrungen. Tausendmal lieber würde ich da Benn empfehlen, auch wenn ich sehe, dass sich Dein Temperament mit dem seinen wahrscheinlich in wenig Punkten verträgt. – […]

  • Besonderes:

    Fortsetzung: 7. Mai
    Vor Himmels Röte schmilzt usw. vgl. Typoskripte spez. / Sammlung Kutter

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Brief
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Signatur: B-2-Kutt_003

Inhalt: Briefstellen zur Gedichtproduktion
Signatur: Vgl. Angabe bei den einzelnen Texten

Kommentar: Die Auswahl ist beschränkt auf einige wenige Briefe, v. a. aus der Verlagskorrespondenz;
vgl. auch einige Briefentwürfe Raebers in den Notizbüchern
Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

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