Mittwoch, 28 Mai 1952

An Peter Noll …*

An Peter Noll:
ich kann bei dieser Art Dichtung, wenn man Dein Stück dazu zählen darf, nicht mit, weil mir das dialektischePrinzip darin, die paradoxale Theologie, oder also meinetwegen: der Protestantismus allzu stark aufgetragen, zu einem bewussten Theatereffekt verwendet, zur Manier geworden scheint. Man kann jede echte innere Haltung tadellos und künstlerisch überzeugend aussagen. Hier aber ist es Dir nicht gelungen. Das Stück ist im unangenehmen Sinn ideologisch. Den Schluss // 039 mit dem „Kreuziget ihn, denn er ist unschuldig” finde ich geradezu unerträglich. – Ich gebe ohne weiteres zu, dass das Christentum eine dualistische Religion ist, dass wir alle so oder anders Dualisten sind. Aber, und das ist bezeichnend schon für das Evangelium und die ganze grosse Tradition, dieser Dualismus ist stets Tendenz, Leitmotiv, aber er ist nie rein, und darauf beruht, scheint mir, die Mühe des christlichen Lebens: Gott und Welt sind ein Gegensatz, aber kein absoluter. Gott wirkt in die Welt herein, ist in ihr, der Schöpfung gegenwärtig, // 040 durchwirkt sie in allem und jedem. Aber zugleich übersteigt er sie, hebt sie und ihre Werte auf, während er sie anderseits bestätigt. Hier liegt für mein Empfinden die Spannung, die sich nicht lösen und durch keine „klare Lösung“ weder in der einen – humanistischen – noch andern – dialektischen – Richtung glatt erledigen lässt. Das aber versucht Dein Stück und darum ist es eine Simplifikation, die allenfalls im ersten Augenblick frappiert, niemals aber überzeugt. Als Beispiele von Dramen, die realistisch // 041 sind, indem sie das ganze komplexe Verhältnis Welt-Gott zeigen: dass Gott in der Welt ist und zugleich über ihr, sie bewohnt und zugleich aufhebt, Dramen, die dies zeigen, sind die schönsten Stücke Shakespeares und der herrliche Calderon. Wenn ich mich imstande fühlte, für die Bühne zu arbeiten, ich hielte mich an diese Beispiele. –

Verzeih mir, ich will Dir nichts aufdrängen. Ich sage Dir nur meine Empfindung: wenn Du weiterkommen willst, musst Du mehr Fülle, mehr Welt aufnehmen. Dein heutiges Schema ist zu einfach und führt Dich auf die Dauer unweigerlich // 042 in einen langweiligen Monolog, der immer dasselbe, woran Du selber nur halb glaubst, abhandelt und nirgends ein Publikum findet. Denn man weiss nachgerade, wie es da zugeht: Die Wahnsinnige ist die Weise (Giraudoux), die Hure die Reine (Tennessee Williams), der Sünder der Heilige (Langgässer) usw. Einmal ist das ganz schön. Aber immer wieder, das ermüdet. Lies mal den „Wundertätigen Magus”, „das Leben ein Traum”: es gibt doch wahrhaft noch viele und reichere, glücklichere Möglichkeiten zu einem christlichen Drama. Überhaupt, misstraue // 043 dem allzu Frappanten. Es verbraucht sich sehr schnell.


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  • Besonderes:

    Adressat: Peter Noll, Strafrechtler

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Brief
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: C-2-b/05
  • Seite / Blatt: 038, 039, 040, 041, 042, 043 (oben)

Inhalt: 131 Entwürfe zu 121 Gedichten (17 Endfassungen), Motiv-Notizen, 4 Briefe
Datierung: 16.12.1951 – 13.1.1954
Textträger: Rotbraunes Notizbuch, liniert, Bleistift
Umfang: 193 beschriebene Seiten
Publikation: Die verwandelten Schiffe (20 Gedichte), Verstreutes (3 Gedichte)
Signatur: C-2-b/05 (Schachtel 79)

Bilder: Ganzes Buch (pdf)
Spätere Stufen: Manuskripte 1952, 1953, 1954, Typoskripte 19521953, 1954
Kommentar: S. 184-195 Motiv-Notizen, von hinten her eingetragen
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften

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