Montag, 21 Februar 1949

Meine liebe Schwester …*

Meine liebe Schwester,

01 da es offenbar unmöglich ist anderswie eine Stelle zu finden oder Geld aufzutreiben, werde ich nächste Tage mit Kägi über meine Angelegenheiten sprechen. Vielleicht weiss er einen Ausweg; es ist mir dies sehr unangenehm, ich ziehe nur ungern andere in meine Sorgen. Vor allem ungern jene, mit denen ich eine von Natur ausschliesslich geistige Beziehung habe. Wenn ich auf diesem Weg nichts erreiche, werde ich mich um eine provisorische Lehrerstelle bewerben, daneben an meiner Diss schreiben. // 089 Du weisst, ich tue weniges mit geringerer Begeisterung. Aber jetzt bin ich am Punkte, da ich alles akzeptieren muss, wenn ich anständig weiterleben will. Anständig, das heisst, ohne totale Kapitulation vor der Gesellschaft. 

02 Das Leben ist ein Kompromiss. Leuten wie mir wird er abgelistet, ertrotzt, aber machen müssen sie ihn trotzdem. Du kannst Dir vielleicht denken, wie schwer die äusseren Sorgen auf mir lasten, gerade jetzt, wo ich mich, koste es, was es wolle, den wichtigen und entscheidenden Dingen zuwenden muss: 

03 Die Anschauung des Seienden, der göttlichen Flamme auf dem Grunde aller Dinge stets näher zu kommen. Dass ich bin, ist ein Zufall oder eine Fügung, wer weiss das schon. Aber die Verpflichtung besteht, ich kann mich, leider, nicht darum drücken, das Mögliche // 090 daraus zu holen. Die meisten leben auf einer der äussern Schichten und befinden sich wohl dabei: für mich wäre es der Abfall, die Sünde schlechthin, zu ihnen an den Tisch zu sitzen, als wäre ich einer der ihren. Es gibt ein Stigma und es brennt jährlich heisser, unauslöschlich. Es ist dies Stolz, man kann es so nennen, Hybris („Überhebung“ wie man zuhause so schön sagt), aber man bezahlt ihn teuer. Es quält und reisst, und dennoch, wäre ich befreit, ich wäre nicht mehr. So ist Reflexion darüber müssig. Ich erwähne das hier nur Dir zur Erläuterung, damit Du besser verstehst, wie die Problematik aussieht, darin ich stehe. 

04 Daraus ergibt sich: meine poetischen Versuche einer Mystik, der Versuch den Punkt, wo das Sein (das Göttliche oder Gott, wenn Du willst) mit // 091 der Welt der Erscheinungen, des uns Sichtbaren, sich berührt, im Wort anzupeilen. Von hier aus müsste sich wiederum ein Weg finden, zum Jahrhundert zu sprechen, zur Menschheit. Vielleicht, dass ihr, z. B., aus dem Gedicht der Ort, wo sie steht merkbarer, sichtbarer wird, die Gefahr der Weltstunde und ihre Möglichkeit: 

05 die höchste Bewusstheit wird allmählich erreicht. Die Mythologien – seien es Mythologien der Natur wie die antiken, seien es Mythologien der Seele, wie man im Christentum eine sehen will – sind erloschen, der Geist hat sie überholt. Und der Verlust bedeutet furchtbare Leere. Dichtung kann nun noch, das hat sie voraus,  alle Gestalten gebrauchen, sich aller Erinnerungen bedienen und damit jene letzten Meinungen, die hinter diesen Gestalten standen von neuem aussagen und noch mehr // 092 dazu, ohne dass man sie deswegen missversteht. Sie hat deswegen einen unmittelbaren Zugang in die Seele des Menschen, die sich vor jeder andern Aussage immer mehr kritisch verschliesst, vor allem vor den grössten Aussagen in den Lehren der christlichen Religion (woran allerdings ihre Verkünder nicht ganz unschuldig sind). 

06 Willst Du nicht an der Fastnacht herkommen für einen Tag, um Dir dies Dionysische Fest anzuschauen? Ich verstehe, wenn es Dir nicht möglich ist, wegen Mann und Kindern. Aber das Heraufkommen der Vorzeit mitten in scheinbar modernen Menschen solltest Du einmal sehen: den Morgenstreich am 7. Februar morgens 4 Uhr! 

07 Doch Du findest die Idee sicher absurd. Sei mir wenigstens nicht böse deswegen.


Seite 088 (C-2-b_01_088.jpg)

 

 

 

 

 

Meine liebe Schwester,

01 da es offenbar unmöglich ist

anderswie eine Stelle zu finden oder Geld

aufzutreiben, werde ich nächste Tage mit Kägi

über meine Angelegenheiten sprechen.

Vielleicht weiss er einen Ausweg; es ist mir

dies sehr unangenehm, ich ziehe nur un-

gern andere in meine Sorgen. Vor

allem ni ungern jene, mit denen ich

eine von Natur ausschliesslich geistige

Beziehung habe. Wenn ich ich auf diesem

Weg nichts erreiche, werde ich mich

um eine provisorische Lehrerstelle be-

werben, daneben an meiner Diss schrei- //

Seite 089 (C-2-b_01_089.jpg)

ben. Du weisst, ich tue weniges mit

geringerer Begeisterung. Aber jetzt bin ich

am Punkte, da ich alles akzeptieren

muss, wenn ich anständig weiterleben

will. Anständig, das heisst, ohne

totale Kapitulation vor der Gesellschaft.
 

02 Das Leben ist ein Kom-

promiss. Leuten wie mir wird er abge-

listet, ertrotzt, aber machen müssen

sie ihn trotzdem. Du kannst Dir vielleicht

denken, wie schwer die äusseren Sorgen

auf mir lasten, gerade jetzt, wo ich

mich, koste es, was es wolle, den wichti-

gen und entscheidenden Dingen zu-

wenden muss:

03 Die Anschauung des reinen Seienden, der

göttlichen Flamme auf dem Grunde aller

Dinge stets näher zu kommen. Dass ich

bin, ist ein Zufall oder eine Fügung,

wer weiss das schon. Aber die Verpflich-

tung besteht, ich kann, wen¿ mich,

leider, nicht darum drücken, das Mög- //

Seite 090 (C-2-b_01_090.jpg)

liche daraus zu holen. Die meisten leben

auf einer der äussern Schichten und

befinden sich wohl dabei: für mich

wäre es der Abfall, die Sünde schlecht-

hin, mich mit zu ihnen an den Tisch

zu sitzen, als wäre ich einer der

ihren. Es gibt ein Stigma und

es brennt jährlich heisser, unauslöschlich.

Es ist dies Stolz, man kann es so nennen,

Hybris („Überhebung“ wie man zuhause

so schön sagt), aber man bezahlt ihn

teuer. Es quält und reisst, und den-

noch, wäre ich befreit, ich wäre nicht

mehr. So ist Reflexion darüber müssig.

Ich erwähne das hier nur Dir zur Er-

läuterung, damit Du besser verstehst,

wie die Problematik aussieht, darin ich

stehe.


04  Daraus ergibt sich: meine poetischen

Versuche einer Mystik, der Versuch den

Punkt, wo das Sein (das Göttliche

oder Gott, wenn du Du willst) mit //

Seite 091 (C-2-b_01_091.jpg)

der Welt unserer der Erscheinungen,

des uns Sichtbaren, sich berührt, im
des uns Sichtbaren, sich berührt, mit

Wort anzupeilen. Von hier aus müsste

sich wiederum eine ein Weg finden, zum

Jahrhundert zu sprechen, zur Menschheit.

Vielleicht, dass ihr, z. B., aus dem Ge-

dicht der Ort, wo sie steht merkbarer,

sichtbarer wird, die Gefahr der Welt-

stunde und ihre Möglichkeit:

05 die höchste Bewusstheit wird allmäh-

lich erreicht. Die Mythologien – seien

es Mythologien der Natur wie die antiken,

seien es Mythologien der Seele, wie man

sie inn inne im Christentum eine sehen

will – sind erloschen, der Geist hat

sie überholt. Und der Verlust bedeutet

furchtbare Leere. Dichtung kann nun

noch, das hat sie voraus,  alle Gestalten

gebrauchen, sich aller Erinnerungen bedie-

nen und damit jene letzten Meinun-

gen, die hinter diesen Gestalten standen

von neuem aussagen und noch mehr //

Seite 092 (C-2-b_01_092.jpg)

dazu, ohne dass man sie deswegen miss-

versteht. Sie hat deswegen einen un-

mittelbaren Zugang in die Seele des Men-

schen, die sich vor jeder andern Aussage

immer mehr kritisch verschliesst, vor allem

vor den grössten Aussagen in den Lehren

der christlichen Religion (woran aller-

dings ihre Verkünder nicht ganz un-

schuldig sind). 

06 Willst Du nicht an der Fastnacht

herkommen für einen Tag, um Dir

dies Dionysische Fest anzuschauen?

Ich verstehe, wenn es Dir nicht möglich

ist, wegen Mann und Kindern. Aber

das Heraufkommen der Vorz Vorzeit mit-

ten in scheinbar modernen Menschen soll-

test Du einmal sehen: den Morgenstreich

am 7. Februar morgens 4 Uhr!

07 Doch Du findest die Idee sicher absurd.

Sei mir wenigstens nicht böse deswegen.

21.2.49

 

  • Besonderes:

    Adressatin: Hedwig Räber

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Brief
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: C-2-b/01
  • Seite / Blatt: 088 (unten), 089, 090, 091, 092
  • Werke / Chronos: Bd.6, 129-130

Inhalt: Notizen, 71 Entwürfe zu 51 Gedichten (5 Endfassungen)
Datierung: 1948 – 1.3.1949 (Datierungen ab 10.11.1948; S. 1-51 undatiert)
Textträger: Braunes Notizbuch, beschriftet "Notes"; liniert, Bleistift
Umfang: 96 beschriebene Seiten
Publikation: Gesicht im Mittag (1); Verstreutes (2)
Signatur: C-2-b/01 (Schachtel 79)
Bilder: Ganzes Buch (pdf)

Spätere Stufen: Manuskripte 1948-51, Typoskripte 1945-50, 1948-50
Kommentar: 10 Texte rhythmische Prosa, 7 reine Prosanotate und Briefentwürfe
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen

Notizbuch 1948-49 (alph.)
(Total: 79 )
Notizbuch 1948-49 (Folge)
(Total: 79 )
Suchen: Notizbuch 1948-49