Notizbuch 1954-55

Inhalt: 57 Entwürfe zu 42 Gedichten, Notate zu szenischen Texten, Motiv-Notizen
Datierung: 14.1.1954 – 3.10.1955
Textträger: Hellbraunes Notizbuch, liniert, Bleistift
Umfang: 130 beschriebene Seiten (S. 94-114 fetter schwarzer Bleistift)
Publikation: Die verwandelten Schiffe (19 Gedichte), GEDICHTE (1 Gedicht), Verstreutes (4 Gedichte)
Signatur: A-5-c/07 (Schachtel 29)

Bilder: Ganzes Buch (pdf)
Spätere Stufen: Manuskripte 1954, 1955, Typoskripte 1954, 1955
Kommentar: S. 120-122 Motive zu Gedichten
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften (keine Umschriften bei Prosanotaten)

Donnerstag, 14 Januar 1954       )

Der süsse Quell

Kämst nach dem langen Zug
du durch die Wüste zum Meer,
schautest mit geröteten Augen
unter den Freunden umher,
05 deren der eine[,] stürzte mit dem Mund
zum salzigen Wasser: das bittre brennt
mehr noch als der schon gewohnte Durst.
Da hörst du ein Glucksen im Kies,
dein Fuss ist schon nass, du scharrst
und legst in die Feuchte
10 die Hand, und höher steigt der Quell,
du rufst den Gefährten,
die müde drüben wandern lang-
sam gesellt den Wolken am Himmel:
ihnen springt hoch, springt ins Antlitz
15 das befreite Wasser, und alle
trinken nach Lust am Rand von Wüste
und Himmel und Meer.

Montag, 18 Januar 1954       )

Floh ich bei Nacht, hab ich …* (A)

Floh ich bei Nacht, hab ich
voll Angst die Gassen nochmals
erkannt, die nun ich nimmer mehr sehe,
für diesen Hof mit dem Brunnen,
05 die ganze Stadt gab ich
für den Hof mit dem Brunnen.
Nur so ist es inmitten der Stadt,
inmitten der Gassen so einsam,
der Hof mit dem Brunnen,
10 dafür ich die ganze Stadt gab,
die nun nimmer ich sehe,
davor ich zuschlug die Tür,
als ich voll Angst die Gassen
nochmals erkannte, fliehend bei Nacht.

Dienstag, 19 Januar 1954       )

Floh ich bei Nacht, hab ich …* (B)

Floh ich bei Nacht durch die Gassen,
die nun nimmer ich sehe, voll Angst,
die ganze Stadt gab ich für diesen Hof mit dem Brunnen
mitten in Blumen: denn hier nur ists einsam.
05 Aber schon wartet am Rand des Brunnens
mitten in Blumen der Greis mit dem dunkel verschleierten Antlitz.

Montag, 25 Januar 1954       )

Schwebst du, Biene, hinein …*

Schwebst du, Biene, hinein 
in die Blüte, wo dir aus den Bättern entgegen
weit schlägt der Duft, verkündigend
duftend den Stempel,
05 den unter den Blättern der Blüte verborgnen, 
den nur der Duft aus den Blättern dir anzeigt: 

Fährst du, Schiffer, hinein in die vorhingeworfenen Inseln,
leuchten dir zu von weitem ins
Meer die Flammen aus den höchsten Grotten des Berges:

Bienenschiff tauchst du hinein in die Blütenränder 
des Vorlands,
10 schlagen dir weit in die Luftsee die Flammendüfte des Stempels, 
aus den Grotten der Höhe die nächtlichen Flammen entgegen.

Auf und nieder schaukle ich mit dem weissen
zottigen Hund, 
bald ist oben der Hund, schaut auf mich
herab und schüttelt die Haare, 
bald sieht er von unten herauf,
05 jaulend, und fährt wieder aufwärts
Auf und nieder schaukle ich mit dem zottigen Hund,
und du sitzest wie schauend dabei, blinde Greisin,
verhüllt auf dem Rande des Brunnens: 
wenn er dich sieht, heult auf der zottige Hund:
sonst aber schaukelt er fröhlich auf
10 und nieder mit mir, schüttelt die Haare
und jault, wenn er mich ansieht von unten.

Samstag, 06 März 1954       )

Der Mime

Ihn zieht im Saal hinweg über
die Liegenden, die andern an den Wänden
hinabgeglittenen Tänzer das Fenster,
schon wenig erhellt, den ersten Schleier
05 vom schneller drehenden Wirbel,
vom nun in die Winkel mit
halbleeren Gläsern, mit gehäufter Asche und Stummeln
schnell leuchtenden Sprung,
der schnell aufhebt und weht die an den
10 Wänden hinabhängenden, sinkenden andern
Tänzer hinein in den Saal,
der tanzend fährt und ohne
zu achten in den ihn nun ganz, den verzückten,
entblössenden Morgen.

Donnerstag, 11 März 1954       )

Die drei Kammern

Geh zuerst ich hinaus zur Grenze des Dorfes
am Strom in das äusserste Haus,
dass mir die Stimme des
Nachbarn nicht schrecke des Morgens weg
05 die schon im frühen Licht
blassere Taube,
Geh ich alsdann hinauf in das Grab jenseits
hoch überm Wasser im Felsen, dass mir die Stim-
me des Fährmanns nicht locke des
10 Mittags weg die vom einzigen Strahl der
durchs Dach tropft blassere Taube,
grab ich mich ein in den Boden jenseits des Tals,
dass mir die Grille hinweg nicht zirpe 
des Abends die schon in der Milchspur des
15 Monds hoch am feuchten Gewölk blassere Taube.

Nun aber winseln am Tag, nun schrein in der Nacht 
die Schakale,
von oben herab wo ich die Taube nicht finde in meine tief // 010
unter der Erde verschlossene Höhle.

Freitag, 12 März 1954       )

Neugebornes Kindlein singt …*

Neugebornes Kindlein singt: Vogel Strauss
wirft hin ein Ei,
draus ein Lamm ein Löwe springt, 
kosend liegen sie sich bei, 
05 während schnell aufwuchs die Zeder, 
auf dem Wipfel wippt die Feder
Vogel Strauss ob höchstem Berg
ruft und hell der Ruf gelingt:
Neugebornes Kindlein singt.

Sonntag, 21 März 1954       )

Der Knabe im Fisch (a*)

Dass aus den Quallen,
aus dem Wogenwühlen,
herangewühlt ans Land
der tote Fisch,
05 der dunkle Fisch,
nach langem Wandern durch die Ozeane
an dieser Insel Ufer
aus dem Maul entlässt verschlammt,
und ganz in Quallen fallend auf den Sand
10 den Knaben, den die Leute
zaghaft, nahetretend,
aus dem Gestank geborstnen Bauchs befrein.
Sie dachten, dass er in der Blume käme,
die still her schwämme in der hellen Nacht:
15 er sässe sinnend mitten in der Knospe,
die spränge über seinem Haupte auf.
Und nun erschreckt sies,
dass er in dem Fisch,
dem grossen Leichnam, den die Stürme bringen,
20 herankommt,
ganz im Stank und Schleim des Magens [der], // 012
der lächelt nun und geht
voran zur Stadt zurück, 
als ihn die Weiber wuschen.

Sonntag, 21 März 1954       )

Die Blume (Grundriss eines Tanzspiels)

Der efeubekränzte Jüngling kommt trunken in eine Felsenhalle tief im Meer. Er grüsst. Die Najaden, berauscht, geraten in Verzückung und beginnen vor ihm einen Tanz. In dessen Verlauf sie eine Blume vom Gewölbe pflücken und ihm übergeben. Die Blume zieht ihn aufwärts. – Die Halle und das Meer versinken, er, ernüchtert, still, steht auf dem Platz der Stadt und, sein Gesicht in die Blüte senkend, wird erfasst von neuem Wahnsinn, lässt die Blume fallen und eilt hinauf auf einen Felsvorsprung am Rand der Stadt, springt hinab. Die Meermädchen, aufgetaucht, grüssen ihn als den Vogel, als der er, verwandelt, // 013 über sie wegfliegt. – Unterdessen hat das Mädchen die Blume aufgelesen und in einem Korb davongetragen, geht damit durch einen unterirdischen Gang, tritt hinaus in den Hain: wie sie den Korb öffnet, fällt auch sie vom Duft in Wahnsinn, stürzt weg, schon brennend, bis sie der Faun ergreift und davonträgt, denn der Duft ist Flamme geworden und lässt den Hain rot brennen, während der Rest der Bühne allmählich dunkel wird, Chor der Najaden, wechselnd mit dem darüber hinfliegenden Vogel.

Mittwoch, 21 April 1954       )

Wenn die Uferwohner öffnen …* (b*)

Wenn die Uferwohner öffnen
der grossen, angeschwemmten
Blume Blätter,
die des Morgens liegt im Sand
05 zwischen ihren Booten,
so finden sie ganz mitten drin
den toten Knaben.

Und aus dem Bauch des toten[,] 
Fisches, der am Morgen auf dem Sand
10 zwischen ihren Booten liegt,
wenn sie ihn öffnen, steigt der lichte Knabe, 
aus dem Gestank des Fisches, 
duftend steigt der Knabe. 

In der Nacht schwimmt still
15 heran die grosse Knospe:
und ihre Blätter brechen auf
und breiten langsam hin sich auf
das Wasser, // 015
sodass der Knabe, der inmitten 
20 schlafend sitzt, erwacht
und aufhebt das Aug,
den Strand sieht mit den Hütten
und die erstaunten Schiffer.

Montag, 10 Mai 1954       )

Der Reihen

Dein Schreien, Mädchen, 
ertrinkt, erlischt,
übertönt vom lauten,
lauter rasenden Singen
05 der Tänzer, die dich
umkreisen und drängen,
kreisend, kreisend hinein
in die Grube inmitten der Lichtung,
wo du endlich
10 am Schluss des Festes,
wenn die Helle schon kommt,
stürzest unter dem lautesten Lied
selber versinkend, verstummst,
und über dir der nun auf einmal
15 gestillten Tänzer schwärmend,
in den Morgen schwärmend Gewimmel.

Montag, 10 Mai 1954       )

Der Zauberer

Half mir auch nicht der Flug
als Sperling an deine Scheibe,
du schautest mich an und
ich war derselbe, der dich
05 schon lang täglich und nächtens bedrängt:
Eben noch flatternd
fiel ich hin auf das Sims
und krampfte mich an die Pfosten.
Du aber riefst die Schwester,
10 die mir lächelnd reichte
die Leiter.

Montag, 24 Mai 1954       )

Grundriss eines Gesprächs

Teresa, ihre Basen Ana, Ines, dann Juana, ihre Nichten Leonora und Maria.

02 Die Szene in einem Zimmer, das mit zwei Fenstern auf einen Klostergarten hinausgeht, aus dem Flöten und Tamburine herauf klingen. Dazu der Gesang einer Romanze.

03 Teresa erzählt vom Leben der Wüstenväter, ihrer Kleidung, Speise, unendlichen Einsamkeit, ihrem Schweigen. So war es möglich, dass Gott Elias nicht im starken Wind, nicht im Erdbeben, nicht im Feuer, sondern aus stillem Säuseln anredete.

04 (Hier vielleicht fällt von unten die Romanze ein) Darauf Teresa weiter: hier ist es laut, alles voll Unruhe, unvermeidlich die vielen Besuche, die Freunde, die von der Stadt kommen, zu empfangen: die Gefahr des Sprechzimmers, die Qual des Sprechzimmers. // 019

05 Darauf Maria, entflammt von der Rede der Tante: nimmt ihre Worte auf, schildert begeistert ein Leben in der Stille, wie sie es sich für sich und die Schwestern denkt, schlägt vor, dass sie zusammen wegziehen und nach der Art der Eremite leben.

06 Teresa zögert, hat Bedenken wegen des Neides der andern, des Mangels an Geld usw. Maria bleibt fest, sie und Leonora versprechen, ihr Erbteil dem Werk zur Verfügung zu schenken, das Gold, das ihre Brüder aus Mexiko und Peru schicken (?). Triumphgesang der Teresa.

07 Draussen ist es tiefe Nacht.

08 Andere Szene des Gesprächs:

09 Teresa und ihre Schwester im Zimmer; in einer Wiege der kleine Säugling Marias. Plötlich tritt Teresa an die Wiege, nimmt das Kind, setzt sich, // 020 legt es auf ihren Schoss und bedeckt es mit ihrem Schleier. Ihre Augen schauen weg aus dem Raum, sehen den HImmel. Sie spricht von der Herrlichkeit, die sie sieht, von dem Empfang, den die Geister dem Kind bereiten. Dann steht sie auf und geht mit dem verhüllten Kind weg. Jetzt auf einmal merkt die Mutter, worum es sich handelt, stürzt auf sie und schreit: Warum sagst du mir nicht, dass mein Sohn tot ist? mit dem Hintersinn: dass du ihn getötet hast?

10 Dritte Szene: siehe hinten

Dienstag, 25 Mai 1954       )

Der Besuch

Als das Mädchen
klagend stand in der Hütte
und ihn bat aus Furcht vor den Tieren des Walds, 
um das Lager an seiner Seite, 
05 da schürt er die Flamme des Herds 
und warf die Kutte darauf 
und darauf den gemagerten Leib: 
Komm jetzt, Mädchen zu mir, 
das warme Lager ist fertig, 
10 es schützt dich vor Bären mein Arm, 
vor der kalten Nacht die ringsum empor 
flammende, unter uns glühende Kohle.

Mittwoch, 26 Mai 1954       )

Die Einsiedler

Brüder, wieder die Glocke der wissenden Tiere
läutet herein in die Höhlen am Felssturz der Wüste:
kündet das Brot des Gebers, den keiner gesehen, 
jährliches Brot, das herein durch den Sand die Kamele 
05 bringen führerlos sicher und wieder, getränkte, 
wenden sich abends, folgend der Glocke des Leittiers, 
zurück zur über die Tage stärker herduftenden Weide.

Donnerstag, 27 Mai 1954       )

Das trunkene Dorf

In der Steppe des Abends endlich
kühlen die wenigen Eichen um den Brunnen
mit den Mädchen, wenn an den Türen der Häuser 
kauen am Stengel des Mohns die Söhne der Bauern.
05 Tiefer kühlt noch das Dunkel der Kirche des Nachts,
wo wächst der Schein der einzigen Lampe,
wächst ihr schweigendes Licht,
wenn draussen schrill die Flöten schrein
und dröhnen entzwei die Nacht der Oase
10 im stampfenden Tanz der Mädchen und Burschen.
Die Halle aber strahlend in der Arche der Nacht,
ist hell mir, und stiller Hain in der trunknen Oase.

Samstag, 29 Mai 1954       )

Der Schulbus

Dieser vieltönig
jauchzende Pfeil
bohrt sich ein in den fliehenden
Trubel des Platzes,
05 von der Brücke her
in die aufhupenden kleinen
erschrockenen Wagen:
Schulautobus voller, 
vom amtlich freundlichen
10 Antlitz des Lehrers
mit den lästigen Fragen
endlich befreiter Kinder.

Im Kaffee an der Ecke
sieht der Lesende auf
15 von den gesuchten Buchhaltern
und dem befähigten, 
auch dem grössten Betrieb gewachsenen Kaufmann,
gleitet über das griechische Beben
taucht auf
20 und schwimmt über // 025
den ungeduldig haltenden Burschen des Bäckers,
zum Käferwagen, dem glänzenden,
mit der Schreibmaschine auf dem Dach,
grad eh der in die Allee zur Rechten entrinnt,
25 mitten hinein, auch vom haltgebietenden 
Polizisten nicht eine Sekunde gestört,
mitten hinein in den Strudel, der alles ansaugt,
mit Augen und Ohr in den
die Spinne des Platzes verschlingenden
Jubel-Wagen der Kinder.

Donnerstag, 10 Juni 1954       )

Im Kaffeehaus

Am Tisch mit den Freundinnen sprach sie
vom Flugzeug, das sie trug her aus Detroit
– das in Michigan liege, einem Land, das 
sei in den Staaten wie Schwaben in Deutschland –
05 mit ihren Kindern Barbara und Christopher,
die Eltern zu sehen,
und schaute mich an mit den Augen,
den beweglichen, das Haupt und
die Hände mit Ringen,
schnell und zärtlich regend:
10 wie damals, als ich mit ihr sprach, 
dem Mädchen im Garten im Sommer,
träumend ich selber und träumend sie
von dem Freund, der wegging, der sie liebte
und dennoch verliess. 
Und ich sagte ihr vieles, wovon ich nichts wusste,
15 wovon ich gelesen. Aber ich sprach, damit sie
weiter bewege die Hand aus der Seide // 027
und schlage das Auge mir auf,
das lächelnd nur träumte nach aussen;
ich erkannte sie wiederum, als sie jetzt mit
20 den Freundinnen sprach von Detroit und
von Schwaben. 
Sie erkannte mich nicht, obwohl sie mich an-
sah, sie hatte mich hier nicht vermutet.
Und ich war ja wahrhaftig ein andrer, und nur
heute erinnre ich mich wieder des Knaben
25 von damals.

Donnerstag, 10 Juni 1954       )

Die gefundene Tochter

Erst jetzt,
in der Stunde des Todes
gibt zu erkennen dem Vater
sich als die Tochter der Mönch,
05 mit dem er viele Jahre Kammer an Kammer gelebt:
ihn tröstend über die, die am
Tag der Hochzeit geflohen.
Nun erkennt er sie, wie sie lächelt,
wieder ausstreckt die Hand, die sie so oft
10 ausgestreckt nach dem Fenster,
aus dem er ihr zuwarf den Ball.
Er küsst sie, die nun verstummt, die ihn
täglich getröstet und wohnt,
nachdem er schweigend verhüllte den Mönch,
15 selber, der immer getrauert,
fröhlich in der erledigten Kammer.

Montag, 21 Juni 1954       )

Die Frucht

Laufen die Leute heraus,
die Mädchen und Burschen,
die beschwerlichen Frauen im siebten Monat
mit Kindern im Wagen,
05 bunt heraus aus der offenen Frucht,
dem dunkel stinkenden Fleisch,
am Wurm vorbei, der langsam hinterherkriecht,
laufen alle heraus, flüchtend,
in den strömenden Regen der Brücke
hinüber zum Bahnhof,
10 während zwischen den fast ganz schon
vorgezogenen Wolken die Sonne
nochmals hervorfällt und der Wurm
wendet das Haupt ihr zu, das blinde,
vom Rand der nun entleerten,
im Regen schwärzer schleimig glänzenden Frucht.

Mittwoch, 28 Juli 1954       )

Die heilige Katharina

Wenn die Taube
täglich, bevor das Rufen der Männer
der Müllabfuhr und ihr
Rasseln mit den Eimern weckt
05 die Schläfer,
die sich, eine angestrengte Falte 
über die Stirn, senkrecht,
die anzeigt, ihre Mühe, wieder einzuschlafen
umdrehn mit Ächzen:
10 hoch fliegt vorüber zum Turm in Alexandrien,
die gefangene Jungfrau zu nähren,
steht im Schlafrock die Freundin
auf dem Küchenbalkon und winkt
dem Freund dieser Nacht hinab
15 auf den Hof, wo nun schnell er sein
Rad besteigt, selber winkend zurück,
und er gefällt ihr im dunklen Rock
mit den goldnen Zeichen der Post,
wohin er vor morgen zurückkkehrt, // 031
20 wie er ihr gefiel, da er schlief
an ihrer Seite und sie nochmals
die kleine Lampe mit dem Schirm
von schwülfarbner löchriger Seide
andrehte, und sich setzte im Bett,
und lang ihn ansah.
25 Jetzt steht sie und winkt
und sieht die Taube, eh sie hineingeht,
fliegen, ohne dass sie wüsste wohin.
Bis sie nach Tagen, vielen, steht wieder
und winkt und rafft über der Brust
30 den alten, geblümten Schlafrock zusammen
und fasst, sich wendend, das Haar // 032
mit einer Spange zum Knoten:
und sieht hoch überm Kamin des Hotels überm Hof,
wo flattert immer die Wäsche auf dem Dachbalkon
35 in der Dämmerung und mit dem kalten
Frühwind fliegen die Engel, gross-
geflügelte Tauben, die tragen
den hellen Leichnam der Jungfrau,
ihn zu bergen auf der Spitze des Bergs,
40 der weit draussen im Dunst 
von Wolken nicht sehr verschieden 
ruht und wartet, unersteigliches Grabmal. 
Sie schaut eine Sekunde hinauf, 
verwundert, bevor sie hineingeht, 
45 sieht an das Bett, das zerwühlte,
denkt an den Freund, im Licht der
kleinen, jetzt schon bei offnen Gardinen 
bleichen Lampe mit dem löchrigen Schirm, 
indes die Männer von der Müllabfuhr
50 sich anrufen rauh und
rasselnd mit Eimern wecken die Schläfer.

Freitag, 30 Juli 1954       )

Die Sirenen (a*)

Amns Ufer, das voller Menschen, schon
am Landungssteg, steigen aus die Matrosen
und johlend ziehen sie mit unter
den Fahnen, welche knattern im
05 Seewind des Abends laut
den Jahrtag der Republik,
und kaufen die roten Nelken aus Papier,
die alle andern schon tragen,
die lange Strasse hinauf,
10 die bis zur Stelle steigt,
wo alle Viertelstunden 
aufsteigt zur Burg (dem
heutigen historischen Museum)
die Seilbahn durch die letzten,
15 von der Regierung geschützten Oliven.
Sie haken ein den girrenden Mädchen
zur Rechten und Linken
und haben, während sie ungeduldig
stampfen, weil der Strassenbahnzug
20 auf der Kreuzung
aufhält die Menge, // 034
schon vergessen den einen,
der an jener Insel sprang
aus dem Schiff ......

Forts.: Ein M. springt hinaus schon, sie haben die Taue ans Land geworfen, da erwacht der Schläfer, nimmt die Mundharmonika und bricht den Zauber, rettet das Schiff. Sie denken daran, wie er jetzt wieder die Mundharmonika nimmt und das fanatische Lied der Menge begleitet.

Montag, 02 August 1954       )

Die Sirenen (b*)

Sie hatten die Taue ans Ufer
geworfen, und einer
schwamm schon hinüber
als der Matrose, der jetzt
05 unter den johlenden zog
die Strasse vom Hafen,
wo sie sich, angekommen,
unter die Menge des Festtags gemischt,
hinauf zum Fuss des Burgbergs,
10 mit dem Kastell, das heute dient zum Museum,
zum kleinen schmutzigen
mit Stuck am Eingang protzenden Bahnhof,
von wo die Seilbahn fährt,
während der Saison, alle Halbstunden –
15 unter den johlenden, die,
eingehängt zur Rechten und Linken // 036
den girrenden Mädchen, zogen
in Achter-Reihen die breite
Strasse hinauf,
20 – und von den Gehsteigen warfen
die Kinder, die Mütter Blumen,
welche fingen die einen,
steckten unter die Schulterstücke,
die andern aber, es waren zu viele,
25 alsbald zertraten. Die Männer
aber aus den verdrängten
Autos am Rande,
die neben den Kindern und Müttern
schwenkten Hände und Hüte. –
30 als der Matrose über das Stampfen,
das lautere Johlen: ein Strassenbahnzug,
aus der Querstrasse plötzlich
gelegt quer vor die Reihen,
kreischend hatte er angehalten
35 und konnte nicht weiter,
das Gedränge der Gaffer,
der Rufer, der Blumen werfenden
Frauen und Kinder hatte ihn // 037
auf einmal gebremst, und nichts
40 half ihm sein Klingeln:
als der Matrose plötzlich
laut sang und die Harmonika
zog, sodass sie wieder
alle waren im Schiff
45 vor der Insel, wo sie die Taue
hatten ans Ufer geworfen und einer
schwamm schon hinüber,
als er also laut begann
am Hauptmast zu singen
50 und griff in die Leier,
dass hinsank die Liedkraft,
die helle, die blütenreich wuchs
und duftend wegzog alle zur Insel,
dass sie hinabsank
55 vorm Baum des Lieds des einen,
des Leierspiels des einen Matrosen.

Dienstag, 10 August 1954       )

Der Zeitungsleser

‚Unruhe am Markt für Kühlschränke‘
hebt sich ein Sturm auf diesem
blinkenden Meer,
wenn mein Auge darin
05 unschlüssig herumirrt
und schmerzvoll sucht den Ort, mit der
Klaue des Löwen zu graben
dem Einsiedler, der allzulange
tot schon dalag,
10 endlich sein Grab,
mit des Gedankens Löwenklaue
unschlüssig, schmerzvoll herumirrt,
zu finden den Ort,
wo sie grabe 
15 dem in der ‚Unruhe
am Markt für Kühlschränke‘ 
längst schon verschollnen,
gestorbnen,
dem allzulang unter den Füssen
20 zuweilen gespürten,
von den Augen nicht mehr gesehnen // 039
hinter den Karren
mit den schreienden Frauen
aus den Dörfern ringsum,
25 hinter ihren riesigen bunten
Schirmen, auf die herab
klatschte der Regen,
den Zeltplanen über den Ständen,
der ‚Unruhe am Markt für Kühlschränke‘ 
30 nicht mehr gesehnen
Einsiedler endlich
mit des Gedankens abgestumpfter
Löwenklaue sein Grab.

Dienstag, 10 August 1954       )

Beim Anzünden der Zigarette

Wenn du hinhältst
das Streichholz der Dame und sie
leicht zurückweicht,
weil sich öffnet die Tür des
05 Wagens plötzlich auf euch zu
und heraus lässt den
schnellen, achtlosen Fahrer;
wenn du ihr, die zurück
weicht leicht anzündest
10 die Zigarette,
trittst du, Kaiser,
hinein ins Kloster,
und findest enttäuscht[,]
die Köpfe der Rosen
15 alle gekappt,
bis dir, nach wenigen Schritten,
im Teehaus zeigt der
schweigende Abt allein in der Vase
die Rose, die einzige, die eben // 041
20 aufging am Morgen,
wenn du der Dame, die leicht
zurückweicht, anzündest die Zigarette.

Samstag, 14 August 1954       )

Auch ich hätte Kaiser von Japan werden können …*

Auch ich hätte Kaiser von Japan werden können,
ich hätte – endlich – ein sicheres Einkommen gehabt
und meine Liebe zum Prunk, zu aristokratischen Formen,
wie man sie häufig bei bürgerlichen
Söhnen der Republiken findet,
05 wäre völlig auf ihre Rechnung gekommen.
Auch hätte mich ganz einfach die Macht
über so viele gelockt, 
die Möglichkeit zu edlen und rühmlichen Entschlüssen.
Ich hätte Kaiser von Japan werden können,
warum nicht? 
aber die Reise bis dorthin war mir zu weit,
10 und der Wechsel all meiner Lebensumstände, // 043
der Gedanke, auf einmal in Bilderschrift
schreiben zu müssen 
(die, wenn ich recht verstehe, nur den
Gedanken und das Bild festhält, nicht
den Sprachlaut, so abstrakt ist sie)
dies widerstrebte meiner Trägheit und auch
meiner Angst vor allem
Unberechenbaren, ganz Fremden.
Und dazu die Pflichten der Repräsentation,
15 die mir ein spontanes Leben verboten hätten,
verboten hätten, wie jetzt,
hinüberzusehn in den Spiegel, worin
die rote Wand der Garage von jenseits der Garage
nicht vermag den Regentag der Strasse
20 zu erhellen und die Sonnenstore, die
man offenbar vergessen hatte, 
nun dunkel und düster über die Scheiben herabhängt 
und trieft, eine schwere tiefe Wiederholung der Wolken // 044
des Himmels. 
Dies alles könnte ich nicht mehr, und so 
zog ich, trotz allem, es vor, nicht Kaiser 
von Japan zu werden.

Dienstag, 07 September 1954       )

Forum Romanum

Die Gräser in den Ruinen, duftend,
der Vestalinnen Bilder rings um das Wasser,
das mit Rosen gesäumte,
darin die Fische, still,
05 hin und wider glänzen: hinauf
reisst den nach Torsen,
nach Kapitälen im Grase begierigen
Blick des Touristen
das wendige Flugzeug, das zwischen
10 den Turm von Santa Francesca Romana
und die Wipfel des Palatins schreibt
mit wattiger Spur in den Himmel: 
Persil, // 045
und wenn mit E er beginnt,
15 begann P schon zu verblassen,
am Ende aber hängt das L
in den Wipfeln des Palatin,
wenn P kaum mehr sichtbar,
überm Turm von Santa Francesa,
20 verwirrt den Reisenden, der,
sein Buch – das mit Nummern jeden
Sockel und jeden Torso erklärt –
auf einem gestürzten Sims vergisst,
wo es später aufliest der Wärter –
25 und wegeilt in die Bar
und trinkt müde, verschwitzt,
zwei Coca-Cola.

Donnerstag, 09 September 1954       )

Raupe und Schmetterling

Wenn sie,
nachdem sie lang am Tor in der Halle gewartet
und schliesslich, da es auf dem Platz zu dunkeln begann, 
vorbei an den Polizisten,
05 die die Drängenden in Gruppen zu vier
ordnen, 
dunkles Blut einströmten ins Herz, die riesige 
Kirche, deren Gewölbe hinter den Simsen
verborgene Lampen erleuchten, 
10 wenn die Nonnen nun endlich 
fingen auf in über die Köpfe emporgehaltenen 
kleinen Spiegeln – 
darin sich selbst sie nie sich, es wäre gegen die
Regel, erblickten – 
den weissen Greis, vorn auf dem Thron, der
die Menge französisch ansprach,
riefen sie jubelnd: wie schön er doch ist
15 und weideten sich lang, die Raupen, // 047
die kleinen am Anblick des glänzenden Falters
und trugen ihn dann hinaus,
die kleinen die dunklen auf die Strasse,
wo in zwei Reihen jetzt strahlten die Lampen
20 und darüber der grosse goldene Ring
mit dem Mailänder Dom, der wirbt
für Mottas Produkte: 
und trugen ihn, die kleinen, grauen Raupen
hinaus, ganz innen ihn wahrend:
die Raupen, immer und innig an-
schauend, sie werden
25 eines sicheren Tages selber, selber zu Faltern.

Donnerstag, 11 November 1954       )

„Es dunkelt schon in der Heide» …* (a*)

„Es dunkelt schon in der Heide“,
wenn die Mönche immer noch sitzen im Hof,
und anschaun, unbeweglich,
die glitzernden Kiesel, die mit dem
05 Rechen der Bruder kräuselte morgens.
„Es dunkelt schon in der Heide, nach Hause lasst
uns gehn“
vorbei am geschlossenen Hof, wo die Mönche sitzen
schon seit dem Morgen und anschaun,
unbeweglich, den vom Rechen am Morgen
gekräuselten Kies.
10 „Wir haben das Korn geschnitten mit unserem
blanken Schwert“,
die Mönche aber schaun an den Stein
mitten aufragend im gekräuselten Kies,
unbeweglich seit Morgen, der ihnen die Welt
ist, wie der Meister sie lehrte.

„Zu Frankfurt auf der Brücke, da liegt ein tiefer Schnee“
15 der Schnee, der herabfiel und auch den Platz ge-
kräuselten Kieses, dieses Weltmeers der // 049
Mönche zuzudecken beginnt, ohne dass einer zu regen
sich wagte;
denn nicht dürfte ihrer einen nur einen Augenblick
erregen die Welt.
„Wir beide, wir müssen uns scheiden, und Scheiden 
das tut weh“,
20 da überall es rieselt herab und sich zu regen
beginnt und weiss glitzert die matte Fläche.
Ja, „wir beide, wir müssen uns scheiden, 
und Scheiden, das tut weh“,

zu Frankfurt auf der Brücke, da liegt ein tiefer Schnee;
wir haben das Korn geschnitten mit unsrem blanken
Schwert,
25 es dunkelt schon in der Heide, nach Hause lasst
uns gehn“

bis einer doch im Hof sich regt und umschaut
und wegwendet den Blick vom Stein in der Mitte
des schneeglänzenden Platzes
und von der Kutte schüttelt die Flocken.
30 „Der Schnee, der ist zergangen, das Wasser
fliesst dahin, // 050
kommst Du mir aus den Augen,
kommst mir nicht aus dem Sinn“,
sodass ihn nun trifft die Rute des Meisters,
den Treulosen, der die Brüder verriet,
35 und über den Kiesplatz gehn sie und am
tauig triefenden Stein vorbei
in die Zellen,
mit steifen Gliedern und steifem Genick, 
und der Torhund kommt und pisst
auf der von den mürrischen Herren
endlich geräumten Stelle.

Donnerstag, 11 November 1954       )

Auf der endlich geräumten Stelle …* (b*)

Auf der endlich geräumten Stelle
pisst der Hund, wenn die
mürrischen Herren,
die den ganzen Tag
05 in einem Feldstein
auf dem gekräuselten Kiesplatz
die Welt, die im Meer des Alls schwimmt,
anzuschauen vermeinten,
endlich gingen zurück in die Zellen
10 mit steifem Genick
und rheumaschmerzenden Gliedern.

Mittwoch, 01 Dezember 1954       )

Der tote Vogel

Schwarz überwimmelt ist  
der Leichnam schon,
schwarz überwimmelt die verblichenen Flügel,
die, zerstreute verteilte
05 Blütenblätter des nun entblätterten,
im Herbst ganz abgepflückten
Frühlings, winterlich liegen
unterm Schnee des Todes.
Unterm Sommer dieses Lebens, das,
10 was im Tod geblieben, noch auflöst,
dieses flache Bild
auf dem Boden, das der Maler,
das überschnell fahrende Auto,
bildete aus
15 Stoff und Farbe des Vorbilds.
Und jetzt schaukelt es hinaus 
vom Ausgeworfenen Blicknetz gefangen,
in den kaum erregten Augenteich
des Knaben, der am Wegrand blinzelnd // 053
20 steht und die früh abgerissene
Frucht, eh sie, gerötet, abfiel
aus innerstem Antrieb, aufisst und laut schmatzt.

Montag, 06 Dezember 1954       )

„Und wer in den Schlaf sich stürzen will …* (a*)

„Und wer in den Schlaf sich stürzen will,
verletzt sich die Füsse an einer Ra-
siermesserschneide“,
am Feuer, das heraus-
05 schlägt aus der schwarzen Amsel
und den Wurm verbrennt,
verschlingt, den er auf der Schwelle gefunden
vor dem dunklen, geöffneten Eingang,

verletzt sich die Füsse, die Füsse
10 der Augen am Schnabelfeuer
der Amsel, die nicht mehr singt,
sondern den Wurm
auf der Schwelle vor dem dunklen
offenen Eingang verschlingt:
15 und wo bleibt dann der Schmetter-
ling und wo der Gesang?

Mittwoch, 08 Dezember 1954       )

„Und wer in den Schlaf sich stürzen will …* (b*)

„Und wer in den Schlaf sich stürzen will,
verletzt sich die Füsse an einer Rasier-
messerschneide“:
wer heraustritt aus dem dunklen Eingang des Hauses
05 auf die Lava der Schwelle,
verbrennt sich den nackten Fuss und
verletzt sich die Augen am Schnabelfeuer
der Amsel, das den Wurm, der sich windet, verschlingt,
an der Kohle, die trägt die
10 dem Schmetterling tödliche Flamme,
der nie fliegen wird
über die Kohle hinauf.
Und sie selber, die Amsel, fliegt,
die Mörderin, hoch nachher,
15 glühend nicht mehr im Mord,
glühend nur noch im Lied,
hoch überm Haupt dessen,
der in den Schlaf sich stürzte, und der
sich verwundet mit der Rasier- // 056
20 klinge, singende Kohle

Mittwoch, 15 Dezember 1954       )

Der Kohlenschlepper dringt …*

Der Kohlenschlepper dringt
in den engen Kanal, der, ungewohnt,
flieht in grossen Wellen hinauf
an die Mauern der Häuser, 
05 an die Mauern des Palastes,
wo noch immer, wenn von
der Vorüberfahrt nur noch
Sirenentöne in den Treppenhäusern
hängen und Ölflecke, 
10 dirnenhaft schillernd
die badenden Knaben be-
schmutzen,
schüttelt der Engel in den Zimmern,
angstfiebrig irrend // 057
15 das kahle Gezweig der
dicht verwachsnen, vergilbten,
Palmbüsche, die trostlos
seit Jahrzehnten
wuchern und, toter
20 Urwald, die Gänge undurchdringlich verwirren
und seine Spitzenwäsche,
das feine Hemd ihm zerreissen,
was kaum er bemerkt,
weil eine Spinne sich aus den
25 Zweigen herablässt und kriecht
über sein rosiges Bein.
Er steht im Glashaus des Grauens,
rührt nicht Finger und Fittich,
damit ers nicht erschlüge.
30 Am Morgen kommen die Kinder und
rufen: warum denn steht // 058
dieser Engel unter Glas. Und die
Mutter lacht und erklärt:
Warum wohl? So wird er nicht staubig.

Dienstag, 28 Dezember 1954       )

Schweizerische Satire

Die Erhaltung der Unabhängigkeit des Vaterlandes
ist das höchste 
Ziel und die höchste Pflicht der schweizerischen 
Behörden: 
sie zu verteidigen vor allem gegen alle Gefahren, die
von aussen ihr drohen: Früher war dies noch einfach,
05 als es Heere zu bekämpfen gab, die
Österreicher zum Beispiel, gepanzerte Ritter.
Heute aber ist die Drohung viel grösser, weil sie
auf allen Gebieten des Lebens sich zeigt,
weil der Feind durch tausend Ritzen
10 eindringt in unser verwahrtes, geschlossnes,
wohl gereinigtes Haus. 
Der Feind ist das Ausland!
Er hat seine Waffen seit jenen heroischen Zeiten // 060
wohl geschärft und kunstvoll verfeinert.
Und drang er vor Jahrzehnten ein mit seinen Büchern,
15 warf er seine schlüpfrigen, seine undemokratischen,
vom Gedankengut des Totalitarismus und der Diktatur
durchtränkten Zeitschriften in die Seelen
unserer alpenunschuldigen Jugend,
so errichteten wir eine Schanze, geschickt,
20 mit unsern eigenen Schriften, mit unsern
eigenen Büchern. Das verderbliche Reden,
das staatsgefährliche, von der germanischen Rasse
ertrank so, gottlob, bald im laut
gesungenen Lob des keltischen Rundschädels,
25 in urhaften Tönen der Keltisch-alemannischen // 061
Idiome. So wurde die Fahne auf der Zinne
der Alpen gerettet, das Hirtenhemd
rein bewahrt von den Schmutzspritzern des Feindes.
Denn der Feind ist das Ausland!
30 Nicht ruhig lässt er uns schlafen nur eine Nacht:
Wir haben an die Stelle seines Papiers das unsre gesetzt
in den Kiosken, wir haben seine Rundfunkprogramme
übertönt durch unsre eignen. Und seine Waren
werden, dank der Schweizerwache,
von unsern aufrechten Bürgern 
35 nicht mehr gekauft. Und schon
heckt er aus eine neue Gewalttat:
er überstrahlt mit seinen Fernsehsendern
unsre wehrlosen Städte. Mit seinen Revuen,
seinen Songs, seinen Sketschs dringt er ein // 062
in unsere Häuser, weh in die
lauteren Schweizerherzen der Kinder.
40 Mit seinen fremden Visagen will er
verdrängen der Jahrhunderte
reine Essenz: das schweizerische Antlitz,
mit seiner künstlichen, herrschsüchtigen
Sprache schon wieder, schon wieder
(haben wir sie noch nicht endgültig vertrieben?)
den traulichen Urlaut der Alpen.
45 Unser Nationaldrama zwar schrieb uns der
der Schwabe Schiller, 
und auch Keller und Meyer,
die Schweizer Dichter par excellence
bedienten sich seiner Sprache: man wusste
es damals nicht besser. 
Der Helvetismus war damals, wie immer,
schon da in den Seelen und im Blut
der Schweizer. 
Aber zur bewussten Weltanschauung, zur Ideologie, // 063
50 die dem helvetischen Menschen allein und einzig
entspricht, 
vollendete er sich erst in unserer Epoche.
So wollen wir denn jetzt gründen eine Komission
aus Männern, 
die das Vaterland lieben, dass sie einen Plan
aufstellen, würdig der Helden
von Morgarten und Sempach:
wie jene Felsblöcke hinabwälzten
auf die Köpfe der Feinde
55 (und der Feind ist das Ausland!)
so sollen sie Sender aufstellen an den geeigneten
Punkten, 
um die Programme des Feindes, seine
Revuen und Songs und Sketschs
mit unsren Revuen und Songs und Sketschs
zu zermalmen. 
Um die Speere seiner Lieder und Reklamen,
alles was treffen könnte, 
60 ihm auszuziehen und, umgedreht,
alpen gereinigt und mit helvetischer // 064
Lautung gewandet ihm zurückzusenden
wie die Speere kürzlich in Sempach.
Lasst uns eine Mauer bauen, nein, Stacheldrahtrollen,
elektrisch geladne, haushoch legen um unser Land,
mit einigen Lücken freilich für den Fremdenverkehr,
65 lasst uns mit Radarstrahlen fremden Rundfunk,
Bildfunk, fremde Gedanken überhaupt
abwehren von der 
Ewigen Schweiz. Wir haben gekämpft
bei Morgarten, Sempach, bei Dornach und Marignano,
das ist genug. Wir haben genug von der Geschichte
70 und wollen uns jetzt endlich erholen,
unsre Geschichte – man denke an Tell –
war anstrengend genug. Lasst uns austreten
aus der Geschichte, aus der Welt überhaupt. // 065
Wir schicken ihr Liebesgaben und in den Kriegen –
75 die sind eben unvermeidlich – Rotkreuzkommissionen.
Das ist genug, übergenug. Sonst aber,
„da wo der Alpenkreis dich nicht zu schützen weiss,
stehn wir den Felsen gleich, nie vor Gefahren bleich,
Schmerz uns ein Spott. Heil Dir, Hel-
80 vetia, hast noch der Söhne ja, wie sie St. Jakob sah,
Schmerz uns ein Spott.“

Montag, 03 Januar 1955       )

Der Handleser

Ein Handleser von der Piazza Colonna
sagte mir, ich käme bei einem Autounfall ums Leben.
Ich machte mir damals, vor Jahren, nicht viel daraus.
Erst heute muss ich immer dran denken:
05 Die Angstschlucht, an deren Rand wir immer gehen,
zieht unser Auge, das sich immer an die Gräser und Blumen,
an die Eidechsen und Schnecken der Wand heftet,
manchmal überstark hinab in die Tiefe.
Jetzt, wo meine Mutter ächzend liegt auf den Tod,
10 befiel mich die Furcht, die schwere Krankheit,
die in den letzten Monaten mehrere von meinen Bekannten // 067
ergriffen, sässe auch schon in mir: ich ging
fiebrig umher und schloss schon, mühsam,
ab mit meinem Leben, an das ich mich schon[,]
15 langsam beginne zu gewöhnen.
Doch der Arzt, zu dem ich ging als zum Richter,
von dem ich das Urteil erwartete als eine Formalität,
erklärte mich für völlig gesund.
Und sofort begann ich in der Nacht jeweilen,
wenn meine Mutter stöhnt, 
20 weil sie nicht atmen kann, an meinen Handleser zu denken
von der Piazza Colonna, der mir sagte,
ich käme bei einem Autounfall ums Leben;
es wäre dies vielleicht nicht das Schlimmste.

Mittwoch, 12 Januar 1955       )

Der Engel im Busch (Notizen für ein Stück)

Motorboote im Kanal – Alte, schmutzige Paläste – davor Knaben spielend: sprechend – Dann Inneres des Palastes, der Engel irrend in den Palmbüschen, über die Spinne erschreckend, die Glasglocke überwächst ihn – Heimkehr der Knaben, Gespräch mit der Mutter: einer zerschlägt die Glocke im Spiel – Zerfall des Engels wie einer Mumie

Samstag, 15 Januar 1955       )

Der Schnabel ist nun begraben …*

Der Schnabel ist nun begraben
und voll von Erde, immer gesättigt,
während die von Sonnenwachheit gequälten
Augen nun tröstet der Erdschlaf.
05 Die Flügel stehn, an den alten Flug
von den Winden zitternd erinnert,
allein noch im Himmel.
Des Umarmung aber hindert jetzt
das Laub für eine Weile.

Dienstag, 18 Januar 1955       )

Monolog des Engels …

Monolog des Engels

Dies ist der Wald, ich erkenn ihn,
darin ich so lang ging, darin
die Bewegung meiner Flügel
das Licht war, das einzige Licht,
05 eh ich eintrat in die Strassen
mit der von den 
kreuz und quer gespannten Drähten
hängenden Wäsche,
bevor ich eintrat in die Stadt Jerusalem,
10 die mich immer herbeiruft
und wenn ich dabin, mich nicht erkennt.
Wie sollte sie auch: viel zu gross sind meine Flügel
und stossen auf allen Seiten an die Mauern,
wischen ab den Staub und die Spinnweben
15 und klemmen sich ein in die rostigen Fenstergitter,
sodass ihre Federn abgebrochen niederflattern // 071
und sich mischen mit den Federn der
hämisch gurrenden Tauben. Und ich bin nur
ein dumpfer Falter, über den man sich höchstens wundert,
20 weil er, ganz unpassend, am Tag fliegt.
Aber hier ist mein Wald wieder, in den ich lange ging
und darin das einzige Licht war die Bewegung
meiner geputzten, glänzenden Flügel.

18.1.55 // 072

Monolog des Engels (II)

Da bin ich wieder im Wald, darin
so lang das einzige Licht war die
Bewegung meiner Flügel.
Eh ich herab kam in die Felder
05 von Bethlehem, wo mich die Hirten
fast verwechselten – und einige taten es wirklich –
mit den grauen Tauben, die überall die
Zäune verdrecken: und wie sollte
ich mich wundern darüber,
da doch meine Flügel
beim Streifen an die Telefondrähte
10 Federn verloren, die mit denen der Tauben
auf dem Boden sich mischten:
wie gurrten die hämisch! Nur wer genauer hinsah,
hielt mich für einen dumpfen Falter, // 073
der, aufgeschreckt, am Tage herumflog. –
Doch hier bin ich endlich wieder 
15 oben in meinem Wald, wo das einzige Licht bleibt
die Bewegung meiner geputzten, glänzenden Flügel.

20.1.55

Der Engel läuft zur Treppe rechts, die Treppe hinauf, indem er mit dem Flügel an die Palmbüsche streift, sodass es knistert. Zuweilen bleibt er stehen und greift ins Geäst (3), als müsste er sich von seinem Vorhandensein überzeugen. Zuletzt, im ersten Stock, entdeckt er den grössten und schönsten Busch über dem Portal. Er eilt entzückt, strahlend darauf zu und schüttelt lachend daran: Eine grosse schwarze Spinne sinkt langsam an ihrem Faden herab auf sein Bein, auf seinen Unterschenkel unterhalb des Spitzenrands seiner Hose.

21.1.55 // 074

Die Spinne (sich langsam herablassend):

Meine Zimmer sind auf
dem Hochhaus und schaun über den
ergrauenden, den ermattenden Golf,
der in schmutzigen Wogen kriecht
05 an den sandigen Strand mit den
gelben Gräsern. Ich wollte diese
Wohnung eigentlich nie beziehen,
aber man hat sie mir gelobt
wegen der Aussicht auf Neapel
10 und hinüber auf Capri.

Und ich folgte ihrer Meinung und
schämte mich meiner Angst
vor dieser grauen Stadt und vor dem
Beben des Bodens, darauf sie
jeden Morgen gegen die Dämmerung wartet.

(Sie fällt schnell auf den Unterschenkel des Engels:)

Nun stehn hinter mir die leeren Reste // 075
15 des Hochhauses. Und ich sitze
unten auf dem dürren, spärlich bewachsenen
Strandplatz, heil¿ und allein.

22.1.55

Der Engel: Wolke, die das Mondlicht verwischt

Die Spinne: Regen, der sich der Sonne vermischt

Der Engel: Ohne im Regenbogen zu klaren

Die Spinne: Kerze, die unter der Hand erlischt,

Der Engel: nicht zu lesen die Schrift im Buch

Die Spinne: nicht schlafenden Augs zu bedenken den Fluch

Engel: winzig¿ duftloser Kranz,
löschst du meine goldenen Flügel,
sinkst du, finstere Blüte,
in den Tanz,
fällst in die Maschine, wo sies
am wenigsten erträgt. Spürst du nicht, // 076
wie wieder wächst aus mir
das alte Glashaus,
25 das ich eben gelassen habe für immer,
das alte tanzlose Glashaus
voll dem Duft trockener Veilchen,
wie damals auf dem äussersten Stadtturm von
Bethlehem, als ich vom Feld geflohen war
und mit den Fledermäusen strich
durch die Nachtgassen,
mit mir riss die vergessene Wäsche von den Leinen
und nur wenige Betrunkne erschreckte,
die nach Hause gingen:
wie ich damals auf dem äussersten Stadtturm
stimmlos vor Angst, das Glashaus aus
mir hinausrief, das mich bewahrte
bis zur nächsten Drohung,
so bläht sichs jetzt wieder.

(Das Letzte mit steigender Angst. Die Flügel falten sich wieder eng an seinen Rücken. // 077 Er starrt auf die Spinne, die ruhig auf seinem Schenkel sitzt. Und mit jedem Atemstoss bläst er am Glas, das zuerst wie eine Posaune aus seinem Mund wächst, dann sich zurück und über ihn wölbt, endlich sich um ihn, der immer noch die Spinne angstvoll fixiert, schliesst und erstarrt.) // 078


Dritte Szene.

Der Schauplatz derselbe. Das Tor ist weit offen. Die Knaben stürmen herein. Der Erste hält mit der Hand ein Horn hoch, ein glänzendes verchromtes Signalhorn, wie es Luxusmotorboote oft haben. Immerfort unter dem Druck der Hand, singt es seine vier Töne.

Der zweite Knabe: Wo hast dus her? Wo hast du das gefunden, Strolch?

Der dritte Knabe: Dass das keiner bemerkt hat! Aber sie werdens noch merken, wenn du so laut machst, da muss man nicht lang suchen.

Der erste Knabe: Der merkte doch nichts, der Herr der hier ausstieg: habt ihr ihn nicht gesehen. Da draussen liegt die Kiste: eine grossartige Kiste.

Der dritte Knabe: grossartig vielleicht. Aber so ein Horn dran, weisst du, das find ich etwas spleenig, ds ist doch // 079 altmodisch, kommt mir halb vor wie eine Posaune, (und die braucht man nur noch bei historischen Umzügen, wenn der neue Bürgermeister aufzieht oder der Präsident zu Besuch kommt)

Der erste Knabe: Der merkt nichts, der Herr, der da ausstieg. Der hatte die Nase in der Luft. Ich glaube, er spinnt etwas. Da hast du ganz recht, er ist wohl etwas spleenig. Aber die Kiste ist toll. Und da wollte ich etwas davon haben. Und das glänzt doch, und man hörts doch

Er drückt wieder die vier Töne.   31.1.55

Dann denkt er einen Augenblick nach, und fährt weiter:

Als ich noch ganz klein war, da waren wir einmal in Ferien in den Alpen. Meine Eltern mieteten ein kleines Haus am Hang des Pilatus über dem Vierwaldstättersee. // 080

Der zweite Knabe: Das ist nicht wahr, ihr wart immer in den Voralpen in einem kleinen Nest mit einem grossen hölzernen Kurhaus, das aussah wie eine Musikdose oder eine Sparbüchse, die man in den Andenkengeschäften kaufen kann, nur viel grösser, riesig gross. So hast du es selber erzählt.

Der dritte Knabe: Das stimmt.

Der erste Knabe: Da gehn wir immer noch hin. Aber das war früher, da ging ich noch nicht in die Schule. Und damals, nur einmal waren wir in dem kleinen Haus am Hang des Pilatus. Und eines Abends, es war schon dunkel, da spielte mein Bruder draussen vor der Hütte und kletterte auf das Mäuerchen – es gab da ein Mäuerchen wie von einer Terrasse, darüber war die Weide für die Kühe, und darunter, am einen Ende der Brunnen, wo wir immer das Wasser holen mussten. Und da lief mein Bruder hin und // 081 kletterte auf das Mäuerchen.

Der dritte Knabe: Aber mein Bruder ist um die Zeit schon zu Bett, immer, der kann nicht rauslaufen, wenn es dunkel ist.

Der erste Knabe: Es ist doch nicht immer zur gleichen Zeit dunkel. Und damals war es schon ziemlich früh dunkel. Aber die Zeit weiss ich nicht, ich kannte die Uhr damals noch nicht.

Der dritte Knabe: Die kennst du heut ja noch nicht.

Der 1. Knabe: Schweig still, frecher Kerl, das ist nicht wahr (Er gibt ihm einen Faustschlag, der andere wehrt sich.)

Der 2. Knabe (trennt sie): Das ist doch egal, erzähl weiter.

Der 1. Knabe: Nein, jetzt will ich nicht mehr.

Der 3. Knabe: Da gehn wir halt heim

(Der zweite und der dritte Knabe wenden sich grüssend zum Gehen).

Der 1. Knabe: Gut, ich erzähl weiter, aber ihr dürft mir nicht mehr dreinreden. // 082 Ehrenwort.

Die beiden andern (geben ihm die Hand): Gut, Ehrenwort.

Der 1. Knabe: Mein Bruder kletterte also auf das Mäuerchen und lief da auf dem Rand hin und setzte die Füsse immer so, dass er ja immer auf den Steinen blieb und ja nicht auf das Gras trat.

Der 3. Knabe: Woher weisst du denn das, du warst ja nicht dabei.

Der 2. Knabe: Das kann er ja nachher erzählt haben. Sei jetzt ruhig.

Der 1. Knabe: Ihr habt gesagt Ehrenwort.

Die beiden andern: Ehrenwort.

Der 1. Knabe: Wir, meine Schwester und ich standen mit den Eltern drinnen am Fenster und schauten auf die andere Seite hinaus, dort sah man nämlich den Scheinwerfer vom Stanserhorn, das ist ein Gipfel über dem See, und der dreht sich immer, und // 083 sein Strahl streicht über die Alpen ringsum, und dreht sich immer ringsum. Und immer, wenn er sich uns zuwandte, blendete uns das Licht direkt in die Augen.

Der 3. Knabe: Das ist doch klar, das musst du nicht sagen. Aber was hat das mit deinem Bruder zu tun?

Der 2. Knabe: Sei jetzt doch ruhig, sonst erzählt er nicht mehr.

3.2.55

Der 1. Knabe:
Mein Bruder lief also auf der kleinen Mauer, so (er breitet die Arme aus und geht schwankend ein paar Schritte), und plötzlich, weil er es sosehr vermied, auf das Gras zu treten, fiel er hinunter, und als er aufstand, tat ihm der Fuss weh und er konnte nicht mehr richtig auftreten. Er schrie natürlich fürchterlich.* Und wir liefen alle aus dem Haus herzu und sahen ihn herumhumpeln mit verheultem Gesicht. Und da gab ich ihm, um ihn zu trösten, eine // 084 bunte Ansichtkarte, die ich am Tag zuvor von meiner Patin bekommen hatte, und um die er mich sehr beneidet hatte. Darauf war ein grosser Meerdampfer, weiss und prächtig im dunklen Wasser. Er hiess "Principessa Mafalda".

* Er ist nämlich etwas zimperlich und wehleidig.

 Der 3 Knabe: Wie du ja auch. Das seid ihr alle.

(Der 1. Knabe schlägt nach ihm, der 2. trennt sie wieder)

Der 1. Knabe: Und wie er sich da freute, grad aus dem Heulen heraus, da machte er ein Gesicht grad wie der Mann der aus dem Motorboot stieg. Und darum, ja darum hab ich, glaube ich, auch die Hupe genommen.

4.2.55

Der 3. Knabe: Den hats. Er ist ganz weg.

(Er grinst und stösst den 2. Knaben an) // 085

Der 2. Knabe: Ich glaub auch, es stimmt etwas nicht mit ihm.

(Schüttelt den Kopf. Der 3. Knabe will dem ersten die Hupe wegreissen. Der läuft weg, die Treppe auf der einen Seite hinauf, der dritte auf der andern. Der zweite ihm nach, um ihn zu halten. Aber schon ist jener oben, trifft auf den ersten vor der Glasglocke, will ihm die Hupe entreissen. Sie ringen. Der erste Knabe wirft, da er keinen andern Ausweg weiss, die Hupe weg. Sie zerschlägt die Glasglocke, trifft die Brust des starren Engels. Der fällt, spröder, vertrockneter Stoff, im Nu als Staub auseinander.)

Die Stimme der Mutter: (sich nähernd: das Licht aus einer sich öffnenden Tür fällt von der Seite herein) Passt aber, wenn ihr euch schon balgt, auf den Engel auf. // 086 Es ist das letzte Stück von der Weihnachtskrippe eurer Urgrossmutter.

(Die Spinne schwebt an ihrem Faden langsam wieder ins Gezweig des Palmbuschs zurück. Die Knaben sind weggelaufen)

Ende  5.2.55

Donnerstag, 10 Februar 1955       )

Die Zehntausend (a*)

„Die Aktienmärkte lagen behauptet“
unter dem Puder der Blüten,
dem Wimperschatten der Zweige,
aber als die Zehntausend
05 knieten in den Bächen enthauptet,
in den Bächen, die
schmutzig und grau, voll von Blüten,
in den Rinnsteinen, die Trottoirs
entlang flossen. Und das
10 Blut mischte sich ihnen,
und rötete sie nochmals, nochmals.
Die Aktienmärkte lagen mühsam behauptet,
als der Wind und der Sturm fuhr durch das
Glockenspiel des Turms, herab von den schneeigen Kuppen.
15 Herab von den schneeigen Kuppen fuhr durch das
wirrstimmige Glockenspiel des Turms
der Sturmwind auf den Platz, wo unter
dem Rand des Trottoirs im schmutzigen // 088
Wasser des Rinnsteins knien
20 die zehntausend Enthaupteten:
Ihr Blut färbt nochmals rot
die bräunliche Ermüdung der Blüten.
Und das Glockenspiel, gestört ausser der Zeit,
erhebt wirre Stimmen.
25 Während die Märtyrer,
herabgestürzt vom Felsen auf den Platz
röteten nochmals mit ihrem Blut .....
Die Passanten, ergrauend
vom plötzlichen Anblick, und frierend
30 im Sturm, von den in die Nase
gewehten Blüten süss zum
Brechen gereizt,
flohn mit emporgeschlagenem
Kragen und vorgehaltnen
35 Schirmen in die Häuser
und schalteten, aufatmend, ein den
Fernsehempfänger, zu sehen,
gereinigt, entrückt der
frierenden, blutigen Nacktheit des offenen // 089
40 Platzes das Spiel vom
Martyrium der Zehntausend. Und so 
vergassen sie, was sie gesehn.
Und so, so wurden gerührt ihre Herzen.

Freitag, 11 Februar 1955       )

Die Wirtschaftsseite II (b*)

„Auch der Stahl steht im Markt“
und blendet allein noch, wenn der
Sturmwind von der Schneekuppe
herab durch das wirrstimmige
05 Glockenspiel des Turms bläst –
man hat es zur Unzeit geweckt.
Er wischt die von Ermüdung gebräunten
Blüten hinein in die schmutzigen
Bäche, die quollen heraus aus den Regenrohren
10 in die Rinnsteine und dort fliessen am Rande
des Trottoirs. 
Aber nochmals röten sich, nochmals
die Blüten, erhaschen ihren Morgen zurück 
vom Blut, das nun mit dem Regen 
vermischt, langsam herrinnt
15 von den Leibern der Märtyrer,
die man auf den Stahl,
der steht mitten im Markt
hinabgestürzt hatte vom Felsen,
die er nun, allein blendend, // 091
20 durchdrang. Und ihr
Blut rötet die braun
ermüdeten Blüten in den Regenbächen des
Rinnsteins.

Donnerstag, 17 Februar 1955       )

In der Mitte sitz ich dieses Karussels …*

In der Mitte sitz ich dieses Karussels
in der Mitte über der Musik,
überm Brunnen, der die Töne giesst
in das weite Becken aus des Karussels:
05 schneller sind die andern weissen Pferde,
laufen eilig, eilig rings herum.
Wohin laufen meine Brüder Pferde?
Immer hier sind sie und immer immer dort.
Immer laufen meine Brüder Pferde,
10 und die Brücke läuft doch sichrer fort,
rufend läuft der Mann mit den Ballonen,
mit dem gelben Vogel, schwirrend an der Schnur:
sichrer schwirrt der gelbe Vogel, sichrer
geht der träge Mann mit den Ballonen,
sichrer geht er hier von meinem Brunnen weg:
15 als ihr Brüder Pferde, die ihr schnaubend // 093
immer schneller lauft,
Ihr bleibt immer nass und übersprüht von dem Geriesel
der Musik aus meinem Mittelbrunnen,
wo ich steh und staun im Karussell.

20 Die Wasser strömen unter mir weg
und füllen dieses runde Becken,
und sein Schäumen füllt des Gartens Ohr,
bis auf die Zapfen,
die von der Pinie nieder
25 von Zeit zu Zeit fallen
und würzen mit ihrem Harz
den Wein, die treiben immer in Wirbeln.
Immer im Wirbel, ihr Brüder Pferde,
treibt ihr und bleibt immer im Brunnen.

Dienstag, 22 März 1955       )

Im Brunnen

Unten tief im Brunnen sitzend
habe ich dich gleich erkannt:
als du mir, der ängstlich schwitzend,
ob er nackt und hungrig sitzend,
05 bleiben müsse, warfst herab ein Festgewand. 

Unten tief im Brunnen sitzend, 
hab ich dich doch gleich erkannt, 
als du mir mit Seidenlitzen 
und mit Steinen die im Dunkeln deine Sonne widerblitzen, 
10 warfst herab ein Festgewand. 

Soll ich an die Sonne steigen,
soll ich aus dem Schlamm und Sand
mit dem Festgewande steigen.
Lass mich nur im Grunde bleiben, // 095
15 hier mein Herr und Herrscher sein:
wenn ich aus dem Brunnen stiege,
dann wo bliebe, das du mir herabgesandt,
dann wie bliebe ganz und rein dein Festgewand?

Wirf mir Brot und wirf mir Schinken
20 einmal nur, wo still ich sitzend
freue mich am matten Blinken,
deiner Seide, deiner Steine,
an des Tages Widerblinken,
hungrig bin im Dunkeln sitzend.

25 Unten tief im Brunnen sitzend,
habe ich dich gleich erkannt:
als du mir, der nackt und doch vor Ängsten schwitzend,
warfst herab ein Festgewand,
warfst herab dann auch die Speise // 096
30 und zuletzt zur Aufwärtsreise
warfst herab die lange Leiter;
aber diesen Taggeleiter
will ich nicht. Auf meine Weise
will ich Herr und Herrscher sein.

35 Bleib du nur im hellen Land.
Unten tief im Brunnen sitzend,
dank ich dir und denke dein:
schon am eitlen Festgewand
habe ich dich gleich erkannt.

Freitag, 01 April 1955       )

Requiem für seine Mutter

Nah liegst du im Dunkel, wo
deine Träume süsslich faulen
und dein Blut, das lang floss
mit den Schiffen, den schwarzsegligen,
05 den vielen, deiner Trauer, und den
wenigen hellen der Freuden,
durch die Städte, deren du keine
zu betreten vermochtest:

nah liegst du im Dunkel, wo schon
10 der Wurm an deine Kammer
pocht dem Ufer des
tiefen Sees, vor dessen
Schlamm und blumenlos
blinder Fläche du dich immer gefürchtet.

15 Gefürchtet, als du den
Bruder am Ausgang überraschtest // 098
und aufschrakst, weil er
dich ansah, ertappt auf einsam unheimlichem Weg.

Du sahst ihn verschwinden im Schilf
20 und zum ersten Mal, als ers mit Armen zerteilte,
das Wasser des Sees,
dem du jetzt nah liegst,
wo es schon leis pocht an deine Zelle.
Da steht still der Blutstrom, und vor
25 Anker liegen deine vielen schwarzsegligen
Schiffe und deine wenigen hellsegligen,
die es lang trieb durch die Städte,
deren du keine zu betreten vermochtest, wie sehr
du auch batest, dass man dir
30 hinunterlasse den Steg zur Landung. // 099

Sitzen auf dem roten Sofa im Turm
mit dem Ritter, der die
Windfahne hält;
mit den Schwestern sitzen
35 und von den Freundinnen plaudern.

Du sitzest unter den Schwestern im Zimmer
und schaust durch das Fenster
hinein auf den Blutstrom mit den
vielen schwarzsegligen Schiffen
40 und den wenigen weisssegligen .....

Donnerstag, 21 April 1955       )

Totenklage

Wenn er die Orange zerschneidet,
achtet er drauf, dass ihm der Saft
nicht den weissen Kragen verspritzt,
den er zwar jeden Tag wechselt.
05 Aber er ist nervöser als sonst
wegen des Wechsels der Lebensumstände:
dass er nun die Stadt plötzlich verlassen musste
und herausziehn in dieses Kloster, wo es 
nur Mönche gibt, die sein Leben bessern wollen,
10 weil sie nichts Andres zu tun haben
(und das geistliche Leben ist auf die
Dauer nicht jedermanns Sache):

Aber das ist doch noch besser,
als in dem Stadtpalast zu bleiben
und sich wie weisses Fleisch immer von neuem
15 von der Tunke des Jammers von fünfzig // 101
dazu bestellten Frauen neu übergiessen,
ganz durchdringen zu lassen<.>

Hier wenigstens ist es trocken 
und niemand verlangt von ihm Trauer
20 um dieses ängstliche Mädchen, das er
nur wenig und förmlich gekannt hat 
(im Bett braucht man gottseidank nicht
zu sprechen). 
Hier kann er zusehn, wie man, nachdem
die Sonne unterging hinter
der kahlen Kuppe, der Woge
25 eines erstarrten Meeres, die fünf Beete
mit Rosen mitten im Gemüseplatz giesst,
und dann, damit man nicht sieht, wie er gähnt,
hineingehn und drauf achten, dass er
beim Schneiden der Orange
30 den weissen Kragen nicht verspritzt mit dem Saft.

Sonntag, 08 Mai 1955       )

Unbesonnen

Heftig wirft die Rothaarige
die Haustür zu
und ruft: „Warum lässt du sie immer offen,
Du weisst doch, ich hasse den Durchzug?“
05 dem Mann nach, der aber schon
um die Ecke davonfuhr<.>

Dafür erschreckt sie den König,
der hinten im Garten ganz ruhig
sass den ganzen Morgen
10 und nicht einmal den Kopf
wandte. Jetzt schiesst er auf,
und der Sturm steigt überm Meer
und die Heuschrecken ersticken
die Glut der Beete, eh noch im Schloss
15 ganz still liegt die Tür, die die
Rothaarige zuschlug.

Montag, 09 Mai 1955       )

Der Leuchtturm (a*)

Noch das Surren im Ohr vom Flug
über das Meer finden sie
die Mutter im
Sand liegen, das Gesicht auf der Reise-
05 decke, im schwarzen Festkleid
und Mantel. Aber sie
hört dem jungen Mann zu, der ihr vorliest:
Und ihrer Augen Vorwurf
scheint wider das unbewegliche
10 Portlicht[,] des Leuchtturms,
das anklagt den Abend
mitten im Ring der fahlen
Felsen duftlosen Felsen, die
würgen die Bucht.

Montag, 09 Mai 1955       )

Der Leuchtturm (b*)

Der Leuchturm will vergeblich
den Griff der duftlosen Felsen
lösen um die fahle Abendbucht. // 104
Da liegt die Mutter im schwarzen
05 Festkleid schwer atmend im Sand,
das Gesicht auf der Reisedecke
und hört dem jungen Geck zu, der ihr
vorliest eine leichte Novelle:
Wenn es nur dem Leuchtturm gelänge,
10 zu lösen den Griff der Kette
der duftlosen Felsen, die die Bucht
würgen: Starr ist der Abend
und die Leuchte
des Turms unbeweglich und matt.
15 Der Leuchtturm steht voller Angst und
wagt nicht sich zu drehen.
Und nun erkennen sie auf einmal die Insel,
wenn der Sand knirscht.

Montag, 16 Mai 1955       )

Zaudern

Wir wenden uns weg vom Turmaufzug
– da sind so viele am Sonntag –
und folgen den Rauchbändern,
die uns hinüber zum Hafen
05 und zu den Kranen ziehn.
Aber der Turm stemmt mächtig sich
auf und den Bändern aus Rauch widerspricht er
und den Kranen, die in der zufällig
von den beflissenen Wolken entblössten
10 Sonne zum Wasser
und zu den Abfahrt erwartenden
Kähnen uns winken.
Das ist mühsameres Volk, das dort hin-
abgeht. Dem Turm zu folgen macht
15 lachen.
Aber es sind so viele Leute am Sonntag.
Und zu Fuss hinaufzusteigen in dem
Gedränge, wer erträgt das,
die Fahrt mit dem Aufzug aber kostet
20 80 Pfennig, und das ist
mir heute, gegen Ende des Monats, zu viel. // 106
Die Fenster der Kirche
schauen noch holzblind,
und die Gesimse verdecken
25 hinter Gerüsten Beulen vom Angriff
Der Turm steigt spröd und grünt 
kupfern.

Montag, 23 Mai 1955       )

Die Mächtigen

Nur der Schirm schwebt statt
roten Schmetterlings
über den regnerischen
Rasen, erinnert mit den
05 andern Schirmen der vor
dem Hagel flüchtigen
Einkäuferinnen an den
entfernten Garten, wo
die Blumen alle den Kindern gehören.
10 Nun überblendet das vom Augenblick
vorgeworfene Bild der
grelle Lieferwagen „Winterhuder Malzbier
seit Jahrzehnten“,
und die beiden Männer vorn mit Schirmmützen
nehmen
jeder einen starken Schluck aus der Flasche:
15 ermüdet sie doch die Macht
über so vieler Augen empfindliche Paradiese.

Mittwoch, 25 Mai 1955       )

Die Novizen

Vögel sind sie schwarz im kahlen Februarmorgen,
wenn ihnen der Ball zufliegt,
den heissen im Frostlicht,
ihnen ihr Gott zufliegt in der Speise
05 und zugleich der Zweifel, ob nicht
dieses Brot sei zu früh und anstelle
der Strassen draussen
und der plötzlich und unerwünscht
zufliegenden Bälle
10 und der Gesang zum Harmonium
„wenn Christus der Herr …“
einfach geschenkt, vor dem Krächzen
der Orgel, die der Mann dreht ohne
Beine am Eingang zur U-Bahn,
15 wo der Luftzug den Weihrauch des
dankbaren Lächelns die Treppen hinabträgt.

Sonntag, 29 Mai 1955       )

Am Fluss

Die Leute kaufen Kuchen zum Tee
und der Bucklige, den steifen Hut auf dem Fensterbrett
liest in der Illustrierten,
als ob nicht die Schiffe
05 schon begonnen hätten,
die Stadt hinabzutragen ins Meer.
Und nur weil man in den Werften 
noch das Schwatzen der
Damen laut überhämmert
10 um auch die letzten Schiffe fertig zu machen,
haben alle zum Lachen noch eine Frist.
Aber wenn sie wieder als letzte im Zug
die spanische Fahne hinab
der Dockwand entgleiten sähen,
15 rüsteten sie sich mit Eifer
zur Abfahrt
wie deine Augen, die schon
mich liessen zurück und schwimmen im
mittleren Feld der Dockwand entlang
20 hinab mit der spanischen Fahne.

Samstag, 11 Juni 1955       )

Die Spinne steigt an ihrem Faden wieder zurück …*

Die Spinne steigt an ihrem Faden wieder zurück auf den Busch und sagt:

Da kommt ja schon, glücklicherweise, ein Boot, das mich aus meiner Verlegenheit rettet; denn auf die Dauer wäre es mir auf dem Sandplatz vor lauter Trümmern langweilig geworden. Abgesehen vom Mangel an allem Komfort. Das Boot trägt mich hinaus auf den Dampfer, dessen Sirenen die Abfahrt schon ungeduldig anzeigen. Es wäre ja besser, einen Damm in den Golf hinauszubauen, dann könnten die Schiffe anlegen und man käme schneller hinaus. Aber man schaue die Leute an, die das Boot rudern: in dunklen Uniformen und saubern Schirmmützen alle, mit wichtigen Mienen. Man kann es ihnen nicht nehmen, sie müssen ja leben. Und // 111 sie sollen leben: sie sind ja die einzigen, deren Hütten aus alten Konservenbüchsen und abgestossnen Zeltblachen der Marine stehen blieben. Das sind sie schon, und das Schiff drüben lädt freundlicher ein. Ausser den Sirenen hört man vom Verdeck den Lautsprecher schallen: „O Mare lucida¿ …“ Das ist nicht neu, aber gutgemeint.

Donnerstag, 07 Juli 1955       )

Im Zimmer

Er wühlt sich hinab in die
Falten voll Falter der
Gardinen und durch die
Hadeshöhle, wo das
05 Bild der Gärten ihn,
erwartet im Linnen,
beisst in Schulter und Schenkel,
denen die Kleider, entrissen,
rings auf dem Boden
10  schaun eifersüchtig auf ihn,
der nun¿ mit seinem 
Schenkel den Schenkel umfasst,
mit seiner Brust die nackte
berührt, die er fand im der Höhle
15 aus Dämmerung der schwankenden
Strassenlaternen und aus der
Gardinen Falten voll Faltern,
in den Linnen leuchtend:
auf die Lippen, die nun // 113
20 kosten das Fleisch,
nachdem sie schon säuften,
säuften ohne Besinnung und Halten,
bis durch das Schlüsselloch
25 das unfassliche Treppenhauslicht
in die neuaufschmerzenden,
dürstenden Augen hereinfällt.

Dienstag, 27 September 1955       )

Mistral (a*)

Die Sonnenmilch blendet und tropft
in die Meerenge herab,
und füllt sie schäumend,
sodass das Wasser die Klippen
05 emporstürzt und mit verletzten Knien zurückzieht,
Odysseus.
Und hinter dir wartet die einsame Dame, die den
Weg zwischen den Inseln
dem einzigen Schiff weist, das weiss und
riesig¿ durch den blendenden Sturm
10 lustfährt,
das Flugzeug, die grosse Wespe, hockt ihm hinten auf.
Doch Platon wird keine Zeit ....

Dienstag, 27 September 1955       )

Die Wespen (b*)

Zu lang setzte sich die Wespe der Versuchung am
Rand der Kaffeetasse aus,
als dass sie nicht schliesslich hätte darin umkommen
müssen,
hinab stürzen in die dunkle und süsse
Brühe und wollüstig verzweifelt die
Beine und Flügel darin umrührend verenden.
05 Die andere Wespe schaut hinunter
vom Mund der Coca-Cola-Flasche, die ich
– bin ich doch durstig – eben bestellte
und erwägt das Schicksal der Schwester,
ob es mehr Lockung oder mehr Warnung sei:

10 wie das gelbe Flugzeug, das dem einzigen
Schiff, das durch den blendenden Sturm
lustfährt, hinten aufhockt // 116
und noch nicht weiss, ob es in die
Sonnenmilch, die in
die Meerenge herabtropft und sie
schäumend auffüllt,
sodass das Wasser die Klippen emporstürzt
und mit verletzten Knien zurücksinkt,
noch nicht weiss, ob es in die Sonnenmilch
stürzen soll, wo die einsame Dame
dem Schiff zwischen den Inseln den Weg weist,
hinter Odysseus, der die Klippen empor-
     stürzt und mit verletzten Knien zurücksinkt.
15 Und Platon hat keine Augen
     für die Wespe im Kaffee und
für die am Mund der Flasche,
obwohl ich dicht neben ihm am Platz sitze,
auch nicht für das Schiff, das allein
sein Flugzeug still durch
die Sturmmilch dahin trägt, // 117
denkt er doch mitten im Handel, wenn ihn
ein Fuhrhalter auf Muskeln befühlt
und wegen des ihn überspringenden Blicks
zum Ärger des spartanischen Händlers
misstrauisch den kräftigen Sklaven stehen lässt,
20 an die Gespräche in Syrakus zurück und an die
Nachtspaziergänge mit Dion.
Und als Annikeris kommt und ihn einlöst,
grüsst er ihn kaum und lässt 
sich willenlos führen.
Auch meine Wespe im Kaffee
bewegt sich nicht mehr,
ihre Schwester flog weg. Ich rufe den Kellner
zum Zahlen.

Montag, 03 Oktober 1955       )

James Dean

Der Zweig vor dem Fenster bewegt sich
im Wind, beugt sich,
weicht aus vor dem Vorhang, der ihm nachfolgt,
zwei Freunde, für mein Auge, das die Noten ihres Tanzes
05 zu erraten, zu rekonstruieren versucht.

Der Donner der Flugzeuge bringt mich den Freunden nahe, 
die sich in ihren Häusern im Schlaf wälzen:
Sie sind verstreut überall und erkennen mich in den silbernen Drachen,
die mein Herbst an der unzerreissbaren Leine ihnen zuschickt.

10 Und du hast die Türe geöffnet, // 119 Cinemascope,
wo du hereinkamst und durch mich durchsahst,
ganz nahe herantratst, sodass ich fliehen wollte
und dann doch am Ende hineinsteigen musste aufs Riesenrad,
wo du hochoben sassest, still im Rummelplatz.
15 Warum denn stiess ich dich dann zurück,
als du herabkamst, mir in der 
    Schlägerei mit den Betrunkenen zu helfen?
Jetzt ist es zu spät, und du fielst, Achilleus,
am skäischen Tor, Paso Robles,
ich schickte dich hin, damit ich dich nicht mehr so nahe sähe,
das war mir unerträglich, und vergass,
dass du überall hinkommst und uns alle, die Blutigen,
20 in Troia, in deinem skäischen Tor schon gefangen hast.
Es ist nicht mehr nötig, nach Paso Robles zu gehen.

1955 * (nicht datiert)       )

[Notate]

01 James Dean verunfallt tödlich am Steuer seines Sportwagens bei Paso Robles, 24 Jahre. [S. 118, James Dean, 3.10.1955]

02 Das Schiff des Reeders Onassis mit seinem Privatflugzeug fährt ganz allein im Mistral über das Meer, durch die Strasse zwischen den Inseln.
Platon wird nach dem Scheitern seiner Mission in Syrakus auf dem Sklavenmarkt in Aigina verkauft, von seinem Freund Annikeris ausgelöst. Dion in Syrakus bei Dionysios geblieben. [S. 114, Mistral, 27.9.1955] // 121

03 Eine Wespe fällt in meinen Kaffee und verendet darin. Die andere ist vorsichtig und hält sich immer gerade noch am Rand der Coca-Cola-Flasche, bis sie wegfliegt. [S. 115, Die Wespen, 27.9.1955]

04 Nach dem Tod der Maria von Portugal zieht sich Philipp für einige Wochen in das Franziskanerkloster Aguilera zurück, um dem Gejammer der Hofdamen und der Mägde in Valladolid zu entgehen. Nachdem die Prinzessin in der St. Pauls-Kirche der Dominikaner beigesetzt ist. [S. 100, Totenklage, 21.4.1955]

05 In Niederguinea lebt der König allein im Wald: darf sein Haus nicht verlassen, kein Weib berühren, muss im Sitzen schlafen: wenn er sich legte, würde der Wind aufhören und die Schiffe könnten nicht mehr fahren. Er hält die Stürme in Schranken und sorgt für die Gesundheit der Atmosphäre //  122

06 Der Kaiser von Japan muss jeden Tag einige Stunden ganz ruhig sitzen, ohne sich zu bewegen, ohne den Kopf zu drehen. Sonst bricht Krieg oder Pest oder Hunger über das Reich herein.

07 „Auch der Stahl steht im Markt“ [S. 90, Die Wirtschaftsseite II, 11.2.1955]

08 Das Kind springt vor der Alphütte über dem See von der Mauer und verrenkt sich den Fuss. Zum Trost erhält es eine farbige Ansichtskarte mit der „Principessa Marfalda“ drauf. – Ein Scheinwerfer vom Gipfel jenseits des Sees bestreicht die Nachtlandschaft mit seinem Drehstrahl.

09 Ein Handleser sagte mir, ich würde bei einem Autounfall umkommen. Der Einbruch des Zustandes meiner Mutter in mein Sicherheitsgefühl. [S. 66, Der Handleser, 3.1.1955] // 123

10 Schweizerische Satire: Eine Kommission wird eingesetzt, die Mittel und Wege studieren soll, die Schweiz vor der Überschwemmung durch fremde Fernsehprogramme zu bewahren. Aber der „Wilhelm Tell“ stammt von einem Schwaben. [S. 59, Schweizerische Satire, 28.12.1954]

11 Der Dämon streicht durch das Haus und schüttelt das Trauergezweig, das wir in uns tragen; und es ist ihm kein Trost beschieden. (Lorca)

12 „welch ein Grauen aber befällt den Engel, wenn er eine – noch so kleine – Spinne auf seinem rosigen zarten Bein fühlt“ (Lorca) [S. 57, Der Kohlenschlepper dringt …, 15.12.1954]

13 „und wer in den Schlaf sich stürzen will, verletzt sich die Füsse an einer Rasiermesserschneide“ (Lorca) [S. 54, Und wer …, 8.12.1954] // 124

14 Vor dem Eingang des Hauses verspeist eine tiefschwarze Amsel mit feuerfarbenem Schnabel einen dicken Wurm (Musil) [Und wer …]

15 „Unruhe am Markt für Kühlschränke“ [S. 28, Der Zeitungsleser, 10.8.1954]

16 Die Novizen sitzen den ganzen Tag im Garten um einen mit dem Rechen gekräuselten Kiesplatz, das Weltmeer, in dessen Mitte ein Stein liegt – die Insel –. Wenn einer zu betrachten aufhört und einnickt, schlägt ihn der Meister mit dem Stock auf den Kopf. [S. 64, Es dunkelt schon in der Heide, 11.11.1954]

17 >Der Kaiser kommt ins Kloster, um die schönen Blumen zu sehen. Aber zu seiner Enttäuschung ist der Garten ganz leer, die Stengel alle geköpft. Schliesslich tritt er in das Teehaus, tief im // 125 Garten. Darin steht allein die einzige, vollkommene Blume. [S. 41, Beim Anzünden der Zigarette, 10.8.1954]

18 Die Raupe sieht einen Schmetterling, meditiert das Bild und wird selbst zum Schmetterling [S. 46, Raupe und Schmetterling, 9.9.1954]

19 Zum Gespr. im Garten: E. genährt vom Engel mit Wasser u. geröstetem Brot, nachdem er unterm Ginster geschlafen, geht 40 Tage, so gestärkt, durch die Wüste – auf dem Berg, nach Sturm, Erdbeben, grosses Feuer (Dann siehe A) [Teresa: Grundriss eines Gesprächs]

20 Teresa verbringt mit einer Schwester die Nacht in der Kirche einer Oase mit Eichen und Wasser. Ringsum, es ist August, tanzen die trunkenen Hirten u. Bauern m. ihren Mädchen zu Flöten, Tamburinen (Dröhnende Tamburine, schrille Flöten). Sie will hier ein Kloster gründen, in einer Hütte. [Teresa]

21 Die Tochter flieht vor der Hochzeit in ein Mönchskloster, wo sie der Vater nicht erkennt: sie tröstet ihn, als Mönch, täglich viele Jahre lang. // 126 Erst im Tod offenbart sie sich ihm, bittet ihn, das Geheimnis zu bewahren. Dann zieht er selbst in ihre Zelle. [S. 26, Die gefundene Tochter, 10.6.1954]

22 Der Jüngling stürzt, vom Sonnenpfeil durchbohrt, ins Wasser: am Ufer stehen die Mädchen und weinen, bis sie zu Pappeln werden. Die Flutwoge spült die Tränen, die zu Bernstein geworden sind, weg.

23 Die Sirenen berücken die Schiffer, bis einer von ihnen mit seinem Gesang und Leierspiel ihre Weisen besiegt. Nur einer springt hinab und schwimmt zur Insel hinüber: sie hatten schon die Taue ans Ufer zu werfen begonnen. [S. 33, Die Sirenen, 30.7.1954]

24 Der Gott erscheint den verzweifelten Schiffern in dunkler Nacht auf einer Felseninsel: sein Bogen leuchtet ihnen entgegen. Sie landen und errichten ihm einen Altar. // 127

25 Der eherne Riese wirft von der Küste Steine auf das Schiff, bis er sich am Knöchel, der einzigen verwundbaren Stelle am Felsen ritzt und verblutet: die Zauberin auf dem Schiff.

26 Der Einsiedler zieht vor der Jungfrau, die ihn bittet, dass er sie zu sich auf sein Lager nehme, weil sie sich vor den Tieren des Waldes fürchte, seine Kutte aus und legt sie auf die glühenden Kohlen des Herdes, und sich selber darauf; fordert sie dann auf, sich jetzt zu ihm zu legen. – Vorher facht er die Glut mit einem Holzscheit an. [S. 16, Der Besuch, 25.5.1954]

27 Zwei Löwen machen mit ihren Klauen dem Einsiedler ein Grab auf dem Berg, in das ihn sein Bruder hineinlegt. // 128 [S. 38, Der Zeitungsleser, 10.8.1954]

28 Die beiden Einsiedler: der eine hat den andern gefunden in der Wüste. Zum Mahl bringt nun der Rabe statt des gewohnten halben Brotes ein ganzes.

29 Die Kamele, von einem fernen Geber geschickt, bringen jedes Jahr den Einsiedlern die nötige Speise in die Wüste: kein Mensch, nur die Tiere wissen den Weg. Das erste trägt eine Glocke. [S. 22, Die Einsiedler, 26.5.1954]

30 Georg umarmt mitten im Winter die Säule in der Hütte, und sie schlägt aus, trägt Blätter, Blüten und Früchte, die fallen herab auf den Tisch zum Mahl: der Baum überwächst das Haus, hüllt es mit seinem Astwerk ein, die Vögel singen darin. Die ganze Stadt eilt herbei, zu sehen // 129

31 Der Liebhaber kommt in Gestalt eines Sperlings ans Fenster der Geliebten. Aber unter ihrem Blick weicht der Zauber, sodass er hinabzustürzen droht: sie lässt ihm eine Leiter hinstellen, damit er hinabsteigen kann. [S. 17, Der Zauberer, 10.5.1954]

32 Die Engel tragen den Leichnam der Jungfrau auf den Berg und setzen ihn in einem Marmorstein bei.
Vorher bringt ihr eine weisse Taube täglich ins Gefängnis zu essen. [S. 30, Die heilige Katharina, 28.7.1954]

33 Auf das Gebet der Jünger hin weicht das Meer zurück und sie finden ertränkten Clemens in einem marmornen Tempel, den Engel erbauten in einem schönen Sarkophag. Gott bedeutet ihnen, ihn dort zu lassen. Und jedes Jahr, am Tag seines Martyriums, weicht das Wasser und gibt den Pilgern den Weg zum Grab frei. // 130

34 Das Mädchen steht in der Mitte der tanzend Kreisenden und wird im sich verengenden Reigen allmählich in die tiefe Grube gedrängt. Sein Schreien übertönt der Gesang der Tänzer. [S. 16, Der Reihen, 10.5.1954]

35 Der Knabe steigt aus einem toten Fisch, der ans Land geschwemmt wird, oder aus einer Blume, die sich auf dem Wasser schwimmend öffnet.
Oder: Der Fisch trägt einen Toten ans Land. [S. 11, Der Knabe im Fisch, 21.3.1954]

36 Der Blumenstempel, der, in den Blättern verborgen, sich nur im Duft zu erkennen gibt [S. 6, Schwebst du, Biene, hinein …, 25.1.1954]

37 Licht, das den fernen Schiffern aus den höchsten Grotten des Athos hervorbricht.

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