Materialien: Briefe

Inhalt: Briefstellen zur Gedichtproduktion
Signatur: Vgl. Angabe bei den einzelnen Texten

Kommentar: Die Auswahl ist beschränkt auf einige wenige Briefe, v. a. aus der Verlagskorrespondenz;
vgl. auch einige Briefentwürfe Raebers in den Notizbüchern
Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

Dienstag, 02 November 1948       )

An Peter Schneider, 2.11.1948

[…]

Hier die Verse des Oktober: ich werde immer sicherer in meiner Aussage. Bild und Wort und Gedanke verschmelzen sich mir immer stärker. Desto mehr bedrückt mich, Du kannst es Dir wohl denken, die Resonanzlosigkeit der ganzen Arbeit. In ihr steckt meine eigentliche Aktivität. Aber es nimmt, ausser Dir, kein Mensch Notiz davon. Meinen hiesigen Freunden zeige ich nichts mehr: sie finden Verse zum vorneherein langweilig.

[…]

Dienstag, 18 Januar 1949       )

An Peter Schneider, 18.1.1949

[…]

hier einige der Verse vom letzten Jahr in neuer Bearbeitung: es wäre mir gut, wenn man sich bei einem Druck an diese zweite Fassung hielte. Du wirst den Unterschied gleich sehen, ich habe da und dort mehr präzisiert, durch Streichen, oder indem ich einen stärkern Ausdruck setzte. Auch in der Zeichensetzung tendiere ich jetzt eher zur Sparsamkeit. Man darf es hier vielleicht doch mit der Schulkonvention nicht allzu genau nehmen.

02 Wenn ich die Produktion seit letztem Frühjahr, also seit der Zäsur, überblicke, so scheint sie mir doch eine Art Einheit zu besitzen: die gleichen Motive kehren immer wieder. Damit ist die Gefahr der Manier gegeben. Doch gibt es dafür innere Gründe: sie drücken alle die gleiche Grundvision aus. Die Bilder werden sich also im gleichen Augenblick ändern müssen, wo es auch die Welt tut, für die sie zeugen. Und sie ist immer in Bewegung, wie ich hoffe.

[…]

Dienstag, 18 Juli 1950       )

Von Max Rychner, 18.7.1950 (Die Tat)

Sehr geehrter Herr Räber,

01 ich habe Ihre Gedichte mehrmals und zu verschiedenen Zeiten gelesen und habe zwei davon zurückgelegt zum Abdruck. Auf diesen legen Sie ja das Hauptgewicht.

02 Mir scheint, Sie haben recht: weiterhelfen können nur Sie allein sich; auf dieser Stufe bringt Bereden kaum mehr Förderung. Ich bin erstaunt, wie Sie Niveau und Klang rein durchhalten in diesen Gebilden, die aus gewollter Entfernung tönen oder antönen. Als Findlinge und Fremdlinge darin fielen mir Begriffe auf wie: Mitte, das Reinere, Wesensgebilde – die ohne Kraft daliegen; auffiel mir auch die menschenleere Landschaft in ihrer mythischen Vereinfachung, selten mit einem eigenen schauenden Blick angegangen.

03 Soviel Verhaltenheit, die immer wieder ansetzt, eine Botschaft durchscheinen zu lassen, deren Kern noch mehrdeutig flimmert! Wie durchgehend dicht // stehen die Zeilen beieinander; keine flaue Stelle. Die Lektüre aller Gedichte auf einmal wirkt freilich etwas gleichförmig; ich glaube, es wären noch andere, schwierigere Formen zu versuchen, um selbst diese angewandte lebendig zu erhalten.

04 Aber das alles wissen Sie wohl auch. Ich freute mich, Ihren Versen zu begegnen und hoffe, dass das künftig immer wieder der Fall sein werde.

Mit freundlicher Begrüssung
Ihr
Max Rychner

Mittwoch, 13 Dezember 1950       )

An Peter Schneider, 13.12.1950

Lieber Peter,

hier der Vineta-Druck einiger meiner Gedichte: er ist nur zum Teil nach meinem Geschmack, das Exlusiv-Bibliophile erscheint mir bei einer Erstausgabe nicht ganz sachgemäss. Aber ich muss Rosenberg dankbar sein, dass er mir den Druck überhaupt angeboten hat: Wenig ist doch immer noch mehr als nichts!

Da es nur vierzehn Gedichte sind, fiel die Auswahl einseitig aus: ich wählte möglichst gleichartige, einigermassen im Zusammenhang stehende Stücke, so ergab es sich, dass anderes, dessen Veröffentlichung sich ebenso gut rechtfertigen liesse und diesem oder jenem nicht weniger gefallen würde, zurücktreten musste. Das liegt in der Natur des Unternehmens.

Soviel ich weiss, kommen in der nächsten Renaissance-Nummer weitere drei Stücke. Sie sind vielleicht doch etwas verschieden vom Ton des Bändchens: diese Mitteilung nur für den Fall, dass Du noch anderes zu sehen wünschest. Denn – hartnäckig, wie ich bin – habe ich die Hoffnung, dass ich doch einmal in Deiner Reihe die Ehre haben könnte, noch nicht aufgegeben. Obwohl die Lektüre von Silja Walter eher bedenklich stimmen muss: diese leicht fliessenden Verse verkaufen sich wohl ganz anders, als es meine umständlichen Produkte je könnten. Sie sind zu reflektiert, mit viel zu grosser Anstrengung geschöpft und geformt, als dass sich hoffen liesse, sie würden sich irgend einmal in absehbarer Zeit zu einigermassen sangbarer und damit auch leichter verkäuflicher Lyrik entwickeln.

Nun, ich vermute auf dem rechten Weg zu sein und glaube, dass uns heute nicht eine spätromantische, aus dem Urgeist des Volkstums oder ähnlichem gespiesene Manier verbindlich sein kann, sondern dass in unserer Lage, wo jeder auf den Kern seiner geistigen Wirklichkeit zurückgeworfen ist, nur die Tradition bestimmen // kann, die uns zur reinsten Darstellung des Geistigen auffordert: die Tradition der Antike, des Barocks, die unter den Neueren vielleicht am ehesten George und Borchardt aufgenommen haben. (Womit ich ja nicht etwa die Bedeutung eines Trakl z.B. herabmindern möchte: solche Figuren stehen zu weit ausserhalb jeder Reihe – aus reiner Gnade unmittelbar gleichsam – als dass sie hier angezogen werden könnten.)

Mit allen guten Wünschen für Weihnachten und das Neue Jahr der Deine

Montag, 16 April 1951       )

Von Robert Konrad, 16.4.1951 (Essence)

Herrn Kuno Räber
Basel / 16. 4. 51

Sehr geehrter Herr Räber,

01 Vielen Dank für Ihre Manus; ich habe sie inzwischen "grob" gesichtet und folgende m.E. schlackenreinsten zurückbehalten:

Wo denn anders ist dieser Strauch
O dieses Tages schnell geschmolzne Zeit
Das heraufstieg in den Wald
Auf der Insel gehn die gestrandeten Schiffer
Obgleich die Tore dröhnen
999999999999999999999

02 Diese sind sozusagen frei von lyrischen Clichébegriffen und allem zuviel. Das Zuviel und die abstrakt philosophischen Begriffe im Sinn der unausstehlichen Niet<z>sche"lyrik" (Scheinsteg und Scheinfluss!) tun einigen Abbruch.

03 Ich habe ein paar feine Bleistiftstriche unter die betreffenden Stellen gesetzt, nicht in dem Sinn, dass ich Sie korrigieren möchte, sondern immer im Gedanken, dass man sich gegenseitig helfen sollte und zwar vorneherum.

Mit freundlichen Grüssen
Ihr
R Konrad

Beilage: Rest des Manuskripts

Dienstag, 17 April 1951       )

An Markus Kutter, 17.4.1951

Basel, 17. 4.51

Lieber Markus,

01 eigentümlich, an Deinem römischen Aufenthalt fühle ich mich immer beteiligt. Das merke ich daran, dass ich so oft daran denke, dass ich Bekannten oft davon erzähle […].

02 Was Du sagst von der Schwierigkeit, die eigene Arbeit umfassend zu beurteilen, spiegelt auch genau meine Erfahrung. Anderseits kommt es doch sehr darauf // an, wer einen kritisiert. Nicht jeder ist kompetent. Das ist mir gegenwärtig, weil ich heute einen Brief vom Essence-Konrad erhielt, worin er sich zu Gedichten, die ich ihm sandte, kritisch äussert. Ich kommen nicht drum herum zu glauben, er habe das Entscheidend[e] darin nicht erfasst, er habe ein Stil-Gefühl, das ihm einen Zugang zu meiner Art zu sehen, zu denken, zu gestalten, verbiete. Vielleicht ist das bloss meine verletzte Eitelkeit, ich weiss es nicht. Aber eine gewisse Kritik lehne ich undiskutiert ab: sie kommt mir nicht an die Sache. Sie trägt Kategorien an meine Arbeit heran, die mich gar nicht interessieren, z. B. wenn man von „abstrakt philosophischen Begriffen im Sinn der unausstehlichen Nietzsche‚Lyrik‘“ spricht und mir die Kernbegriffe einklammert und mit Bleistift unterstreicht, wenn man mir gewisse Häufungen, die ich bewusst mache (Häufung ist ein Stilmittel wie ein anderes) als „Zuviel“ ankreidet usw. Da versöhnt mich die Schlussbemerkung, „dass man sich gegenseitig helfen sollte und zwar vorneherum“ nicht: ich kenne vorläufig diesen Herrn Konrad nicht und interessiere // mich nicht dafür, was er von meinen Gedichten hält. Ich würde mir nie anmassen, an den seinen herumzustreichen. Ich bin sehr für gegenseitige Kritik. Aber da muss man sich klar sein über eine Ebene, die man gemeinsam bewohnt. Man muss voneinander wissen, was man will. Sonst sticht man in der Luft herum, zwingt dem andern sich selber auf und erreicht nichts damit. – Genug mit dieser Expektoration: auf jeden Fall geruht er, fünf Gedichte in seine Zeitschrift aufzunehmen, das ist mir schliesslich die Hauptsache. Und so werde ich mir Mühe geben, um ihm in meiner Antwort deutlich aber höflich meinen Standpunkt darzulegen. Dieselben Verse übrigens, die ich ihm schickte, lege ich diesem Briefe bei: ich bitte Dich sehr, durch meine Auslassungen gegen Konrad Dich nicht abschrecken zu lassen und mir Deine Ansicht zu sagen, sei das nun ablehnend oder zustimmend: in jedem Falle ist es mir wichtig zu wissen, wie die Produkte auf Dich wirken.

[…] //

03 Meine äussere Lage hat sich insofern verändert, als wir nun zwei Zimmer, wovon das eine sehr gross ist, die in einander gehen, bewohnen. Wir haben Platz in Hülle und Fülle. Mein Arbeitstisch ist ein Schmuckstück: eine gute Louis Quinze-Imitation mit eingelassener dunkelgrüner, schwarz gemaserter Glasgussplatte. So schreibe ich wie auf einem schimmernden Wasser. Ich bilde mir ein, das inspiriere mich. Sonst ist alles gleich: ich suche eine Stelle ohne Erfolg. Vorletzte Woche habe ich das luzernische Sekundarlehrerexamen ganz anständig bestanden. Das wird sich hoffentlich auf die Dauer auswirken. Ich bemühe mich hier um ein Volontariat: auf der Bibliothek sind sie schon überfüllt. Vielleicht gelingt es am Historischen Museum. Dort ist zwar der mir nicht ganz // sympathische Reinhardt. Aber so im Kirschgarten alle Uhren und Öfen zu katalogisieren, wäre für eine Zeitlang eine erheiternde und lehrreiche Beschäftigung. Ich würde dann versuchen, mir den halben Tag frei zu halten. So gelänge es leichter, zwei Göttern zu dienen.

04 Meine Frau hat Deinen Brief mit ebenso grosser Freude gelesen wie ich: sie lässt Dich sehr grüssen.

Dein Kuno

Freitag, 20 April 1951       )

Von Markus Kutter, 20.4.1951

Rom, den 20. April 1951

[…]

Zu Deinen Gedichten: Ich hätte im einzelnen dies oder jenes auszusetzen; Du vernachlässigst manchmal Dinge, die man nicht vernachlässigen darf. Aber das hat wenig Bedeutung neben dem andern, für das ich Dir nur meine ehrlichste Freude aussprechen kann: // Es ist eine volle, schöne und ganze Welt, die über diesen Gedichten steht und als deren tragende Säulen sie erscheinen. Du wünschest, dass Dir Penelope den Schlüssel zu meinem Garten gebe; nun – in Deinen Gedichten liegen Deine Gärten offen da. Du bringst Deiner literarischen Arbeit im Leben viel mehr Opfer als ich, der ich immer mit einem Fuss in der „Welt“ stehe und in mancher Beziehung wohl ein unkünstlerischer Mensch bin; aber ich hatte noch nie so sehr das Gefühl, dass sich Deine Opfer gelohnt haben und wirklich lohnen, als da ich diese Gedichte ansah. Alle Deine Bilder stehen in einer heimlichen Kongruenz, sind alle von ungenannten Punkten her zusammengehalten und von dort aus auch sinnvoll, und das machte für mich, der // ich schwer genug um die Einheitlichkeit meiner Aussage kämpfe, ihren unnachahmlichen Wert aus. Daneben sind, wie gesagt, einzelne Desiderate unwesentlich; wenn Du es aber wünschest, so will ich sie Dir einmal aufzeichnen, nur nicht gerade jetzt, da ich sie erst zwei Tage angesehen habe.

[…]

Dienstag, 01 Mai 1951       )

An Robert Konrad, 1.5.1951

Kuno Räber,
Socinstrasse 1a,
Basel

1.5.51

Sehr geehrter Herr Konrad,

01 für Manuskript und Brief danke ich Ihnen. Es wird mich freuen, von meinen Versen in Ihrer schönen Zeitschrift zu finden.

02 Zu Ihren Einwänden gegen meine Arbeit nur dies: Kritik kommt wohl immer nur schwer zum Ziel, wenn der Kritisierende auf einer andern Denk- und Empfindungsebene zuhause ist, als der Kritisierte. Und Sie und ich bewohnen offenbar doch recht verschiedene Länder. So, um offen zu sein, kann ich mit dem, was Sie unter ‚schlackenrein‘, unter ‚lyrischen Clichébegriffen‘, unter ‚zuviel‘ verstehen, keine Vorstellungen verbinden. Meine Normen beziehe ich aus der Antike, wohl noch mehr aus der Barocklyrik und Calderon, von den Modernen am ehesten aus Borchardt und George. Freilich Originalität müssen Sie bei mir nicht suchen: sie interessiert mich überhaupt nicht.

03 Dies nur im „Gedanken, dass man sich gegenseitig helfen sollte, und zwar vorneherum“.

Mit allen guten Wünschen bin ich Ihr

Sonntag, 06 Mai 1951       )

Von Markus Kutter, 6.5.1951

Rom, 6. Mai 1951

[…]

Deiner Aufforderung, etwas über Deine Gedichte zu sagen, komme ich nur unter der einen Bedingung nach, dass Du meine allgemeine Einstellung ihnen gegenüber, wie ich sie im letzten Brief erwähnte, nicht vergissest. […]

02 Doch nun zu Einzelheiten. Bisweilen machst Du metrisch eigenwillige Formen, deren Notwendigkeit mir nicht verständlich ist. Vers 5 in „Was ist im trüben Moor“ (ich zitiere nach Gedichtanfang): warum lässt Du in diesem sonst regelmässigen Gedicht nach der vierten Hebung zwei unbetonte Senkungen stehen? wo Du „sie lastet“ durch „lastend“ ersetzen könntest? Im Gedicht „Irrgeworden vor dem Ueberhellen“, ebenfalls im 5. Vers die rhythmisch hässliche Endung „Trostlicht den“ welche den Ablauf des Gedichtes unterbricht. // (Im dritten Vers stand bei mir „Falle Spirals“ was ich wohl richtig in „Falls Spirale“ abgeändert habe.) Das Gedicht ist mir sonst aber eines Deiner besten. Es ist auf eine Art in sich verschlossen und selbst in einen Kreis verschlungen, die es geradewegs als Architektur erscheinen lässt. Es gehört jener „Kuppelwelt“ an, die eine Grundfigur Deiner Gedichte darstellt, und deren mögliche Verkörperung ich mir hier im Pantheon und anderen Kuppeln ansehe. – Eine ähnliche Geschlossenheit im Gedicht „Schwemmt der Fluss“, dort aber auch im zweitletzten Vers das leere „an dem“, das sich jedoch kaum ändern lässt, es sei denn, man setze den „Spendestrom“ in den Genitiv, wodurch das „an dem“ wegfiele. – Was das „zufällig“ in „Kühle tropft“ betrifft, das Streicher beanstandet, so würde ich // ihm doch beistimmen, vor allem auch aus metrischen Gründen, vor allem, da unsere Sprache bei diesem Wort nicht recht weiss, wo der Akzent liegt, auf zú oder auf fällig. Es ist dies eines der Gedichte, dessen Aussage mir übrigens nicht evident geworden ist. Im Gedicht „Wäre dieser Strom“ kann ich mich nicht abfinden mit dem letzten Vers, der als einziger sechs Hebungen aufweist und so einfach nicht recht im metrischen Schema Platz findet. Auch der Terminus „Brand“ zum Schlusse ist für jenen Leser, der nicht den Kosmos deiner Bilder angenommen hat – oder ihn nicht kennt! – mit zu unbestimmter Aussage erfüllt.

03 Wir haben ja in Basel schon einmal davon gesprochen, wie einzelne termini, die bereits // eine gewisse Bedeutung haben, nicht leicht neu verwendet werden können. Du musst es mit Dir selbst ausmachen, welchen Grad von Authentizität Worte wie: Unterwelt, Engelheer, gnadenglänzende Taube, der vom Siechtum ausgesparte Knabe, Lebensgärten, Väterhallen etc. besitzen. Ich halte sie nicht für unmöglich oder entwertet; ich glaube aber, dass sie nur mit dem höchsten Bewusstsein auch ihres überkommenen Wertes angewendet werden dürfen.

04 Vielleicht dass es Dich noch wunder nimmt, welche Gedichte ich als ein verantwortlicher Redaktor zur Publikation annähme. Es wären:

"Wo denn anders ist dieser Strauch"
„Schwemmt der Fluss“
„Irrgeworden vor dem Ueberhellen“
„Was ist im trüben Moor“ //
„Auf der Insel gehn“
„Vor dem offen auf den Strand“
„Das heraufstieg in den Wald“

Verschlossen blieben mir die Gedichte:

„“Wirr fährt hin und her“ (obwohl gerade in ihm einige Verse seltsam klar aufleuchten)
„Vergänglich ist auch dieses Bildnis“
„Kühle tropft“
„Dem der heimlich aus von Tänzern“
„Von den Gipfeln ist die fremde Taube“

05 Beim wiederholten Lesen ist mir auch etwas aufgefallen, was zwar überhaupt nichts gegen die Qualität Deiner Verse sagt, aber vielleicht ihre Annahme bei Redaktoren (erstaunlicherweise auch bei einem Streicher!) erschwert: Sie beziehen sich vielfach auf eine Welt, die in der deutschen Literatur eine geringere Rolle spielt als in romanischen Literaturen. Ich meine // eine katholisch – geschichtliche Welt. Man hat sich nach meiner Meinung nicht oft genug Gedanken darüber gemacht, wie protestantisch im Grunde seit Lessing und Herder die deutsche Literatur ist. Du musst verstehen, dass ich das nicht im Sinne eines Credos meine, sondern in der Beschaffenheit, der Substanz der dichterischen Welt. Deine Welt aber ist etwas anders; als Beispiel nenne ich die Gedichte:

„Die Taube trägt die heilige …“
„Wer da Gold wirft“
„Obgleich die Tore dröhnen“

und andere mehr. Sie atmen alle eine andere Luft. Und vielleicht sind sie auch mir fremder.

Im Grunde aber sind dies alles Dinge, die man im Gespräch bereden sollte, in einem Brief lässt sich derlei schwer sagen. // Ich habe Deine Gedichte hier auch einem Deutschen, Baron Bock von Wülfingen, der an der Münchner Pinakothek arbeitet, vorgelegt. Auch er hat manches als ausgesprochen schön und echt empfunden, sodass Du also die Kärtchen à la Streicher nur bedingt ernst zu nehmen hast. Ich will sie auch noch einem andern Deutsch-Römer vorlegen und gebe Dir dann wieder Bericht.

Dienstag, 07 August 1951       )

Von Max Rychner, 7.8.1951

Sehr geehrter Herr Räber,

ich habe gelesen und dreimal gewählt: 
Eine schwere Dolde,
Wäre dieser Strom,
Nimmer fand ich die Rose.

So fand ich es am besten für Leser, die zum erstenmal den Zugang zu Ihren Versen finden müssen.

An einem Gedicht habe ich einen Zusammenlauf von Abstrakta angezeichnet, die mich in dieser Häufung nur als Schall erreichten. Sonst fand ich in der Verbindung von Straffheit und Schwebe wohlgeglückte Gebilde, erfreuend gekonnt. //

Als Gefährdung sehe ich:

α) Monotonie;

β) Nicht individualisierte Bilder (Strom, Berg, Wald), die den Leser zu keiner Vorstellung zwingen, sondern ihn aus der nur idealtypisch vorgestellten Welt entlassen; daher denn auch:

γ) Gewählte, aber kraftlose Worte, die in andern Dichtungen ihre Würde gewannen, sie aber in jeder neuen neu gewinnen müssen. Sie sollten zuoberst in einer spürbar gemachten Hierarchie stehen, nicht allzu demokratisch unterschiedslos nebeneinander.

Darf ich Ihnen das zu bedenken geben? Ich glaube, dass man rundum schauen muss, um ungefährdet dort zu stehen, wo man stehen soll. Hat Konrad Weiss bei Ihnen eine Rolle gespielt?

Mit freundlichem Gruss der Ihre
Max Rychner

Donnerstag, 16 August 1951       )

Von Markus Kutter, 16.8.1951

Basel, 16. Aug. 51

Lieber Kuno

ich bin Dir auch noch meine Glossen zu Deinen Gedichten schuldig – hier sind sie und zwar schriftlich, da man schriftlich vorsichtiger ist und doch auch sicherer:

02 Allgemein: Die „schwachen“ Termini, das heisst jene, deren Wert nicht feststeht und traditionell eher abgegriffen ist, kommen weniger zahlreich vor (verzeih den schulmeisterlichen Ton, aber er lässt sich nicht umgehen); ich nenne „Hallen des Todes“ [Dort aber], der Mond, der mit „Prangen“ [Reiner, reiner …] hinsinkt, die „Brände“ [In die Tiefe, wo …]. – Zugenommen haben die „räberschen“ Termini, das heisst jene, die eine ganz spezifische Färbung Deines poetischen Willens enthalten. In diesem Sinne höchst gelungen betrachte ich: „wo der Schatten kühner kämpft“ [Nur Bedrängnis …]; „in der Stunde, wo die Kinder des Vaters täglich sich treffen“ [Dort aber] (einem andern als Dir müsste man freilich den hölderlinischen Klang dieser Verse zum Vorwurf machen!); „unter zapfenreicher Fichte“ [Glanz im unbefleckten Osten]; // und dann besonders schön „der Gespräche stiller Zwischenlauscher“ [Der Schwan]. Der Schwan scheint mir von diesen Gedichten überhaupt mit Abstand das reichste und sicherste; bei ihm wird das Kreisprinzip (Uebereinstimmung des ersten und letzten Verses) zu einer richtigen musikalischen Besessenheit; es ist Dir gelungen, einen Hin- und Rückgesang zu schaffen, dessen Aussage noch mehr durch die Melodie der Worte als ihren sprachlichen Ausdruck, das heisst ihre direkte Bedeutung, getragen wird. Ich meine das so, wie es bei Mallarmé gewisse Gedichte gibt, die schon beim ersten Anhören auf musikalischem Weg eine Aussage vermitteln, die sich nachher bei genauer Betrachtung als dieselbe herausstellt, die von den Worten gegeben wird. –

03 Am wenigsten kann ich mich befreunden mit „In die Tiefe“ und „Reiner, reiner ist heut“. Beim ersten ist der Relativsatz nach „Stern“ bis „Bränden“ bildlich nicht plastisch, in seiner Länge wohl sogar ungeschickt, da das „nicht ein Schimmer“ // zuweit von seinem Hauptsatz abgetrennt wird., In Vers 5 ist man nicht sicher, ob sich hinter dem „er“ der Schimmer oder ein Adler als eigentliches Subjekt versteckt. Ueberhaupt habe ich nicht – es wird auch meine Schuld sein – begriffen, welche Welt und welcher Welt Personen sowie Mächte mit dem Magier, dem Sohne, der offenbarten Zahl etc. angerufen werden. Das Gedicht ist für mich hermetisch und dann doch nicht musikalisch genug. Grammatikalische Schwierigkeiten habe ich auch beim zweiten Gedicht; so ist mir Vers 9 unbegreiflich. Blenden die Todesfürsten trüglich in falschem Licht? Unschön finde ich die Repetition Vers 4 und 5: „mit Prangen“, „mit Flügeln“. Den Heiles Schilden steh ich skeptisch gegenüber; sie erinnern mich ohne böse Absicht an das Strassburger-Denkmal vor dem Bahnhof SBB. Uebrigens fällt mir auf, wie rhythmisch differenziert der erste Vers gestaltet ist: - v – vv – vv -, während die andern // recht harmlos ihr Schema ausfüllen. – „Glanz im“: das „schmetterlingsgleich“, auf das es ankommt, ist nicht geglückt. – „Dort aber“: den Klang des ganzen Gedichtes finde ich gefährlich schön, da er so stark an anderes erinnert. Einzelnes: am „Tor des Gewölbes“ finde ich blass. Nach „Schleier“ muss wohl ein Komma gesetzt werden, wenn man nicht gar, der Verständlichkeit halber, einen neuen Vers anfangen lassen will. Beim Schluss finde ich „die Leuchte schattenlos“ dem „ewig die Stunde“ an Intensität weit überlegen. In „Alter Frau Melancholie“ stört mich persönlich der Einschub mit dem Dämon, dem Gebirge, der Hallen Säulen. Die Verse um das „in Armes matter Beuge“ finde ich unendlich besser, und ich würde versuchen, in diesem Bilde weiterzuschreiben, ohne auf den dunkeln Dämon zu reden zu kommen, der für mein Gefühl sowieso auf einer anderen mythologischen Ebene liegt. //

04Wie die aufgebrochne Rose“: ich mache Dir die gewisse sententiöse Knappheit nicht zum Vorwurf; andere werden es schon noch tun. Das „Urbild überwindet Abbild“ hört man nicht ganz ruhigen Gewissens, es ist in einem Gedicht doch etwas gewagt. Dem Schwan kommt nach meinem Gefühl am nächsten „Nur Bedrängnis“. Freilich kann ich dort mit der Burg nicht viel beginnen, vor allem da sie als weises Gemäuer aus dem Silber zu scheinen scheint. („Weise Gemäuer“ finde ich als Versanfang unpassend, da es gegen den Rhythmus verstösst; denn alle übrigen Verse fangen sonst mit eigentlich zwei Unbetonten an und benützen den Rhythmus der Zahlreihe 3-4-1-2, mit Betonung auf 1. (Beispiele bei Goethe: Kleine Blúmen, kleine Blätter; oder: Als ich auf dem Euphrat schiffte!) – Das letzte „Schlafes“ würde ich aus denselben rhythmischen Gründen wahrscheinlich durch ein „Schlafs“ ersetzen, aber das ist nebensächlich. //

05 Dies meine gedanklichen Glossen. Wie gesagt bin ich am meisten vom Schwan getroffen worden und dann von einzelnen Bildern in andern Gedichten. Der Kreisschluss des Gedichtes als Zusammenspiel der ersten und letzten Strophe scheinen mir in Deiner poetischen Welt richtig und schön; Du brauchst Dich seinetwegen noch lange kein Manierist schimpfen zu lassen. Für alle Gedichte gilt sonst, was ich früher schon sagte: ich habe bei Deiner Produktion oft die Vorstellung eines Amphitheaters, dessen verschiedene Plätze und Reihen sich langsam mit einzelnen Gedichten füllen bis ein komplettes theatrum mundi vorliegt. –

[…]

Samstag, 26 Januar 1952       )

Von Markus Kutter, 26.1.1952

Basel, den 26. Jan. 1952

[…]

Nun aber zu Deinen Gedichten, die wichtiger als meine Hypochondrie sind. Mein Urteil wirst Du freilich wieder unter den üblichen Vorbehalten zur Kenntnis nehmen müssen, auch unter dem, dass ich eigentlich für Gedichte nicht recht zuständig bin. – Ich zitiere wieder nach den ersten Worten oder nach dem Titel:

02 Römische Campagna: Je ne saisis pas. Nur die ersten zwei Verse empfinde ich als richtig. – Einzelnes: zu „feig“ (drittletzte Zeile): das ist eine häufige Konstruktion bei Dir, dass Du ein Adjektiv adverbial gebrauchst in einer Konstruktion, die einen solchen Gebrauch eigentlich sehr schlecht erträgt. Im dritten Vers wundere ich mich wieder über den unschönen Wechsel des Rhythmus nach den ersten zwei Versen, die rhythmisch vollkommen sind. Vergleiche klanglich: „Die Ruine leuchtet“ mit „Was ist's, das uns“! Das Gedicht muss meiner Meinung nach neu gemacht werden, und zwar nicht von der Idee, sondern von der bildlichen Anschauung her.

03 S. Maria della Vittoria: Unvergleichlich besser, auch wenn meinem Empfinden recht fern. Raebersche Bilder von vollkommener Prägnanz in Vers 6 und Vers 9. Ich meine immer, dass Du in Richtung solch gewalttätiger Bilder, in denen sich Abstraktes und Anschauliches auf so innige Weise verbündet und verbindet, arbeiten solltest. Zu bedenken wäre hier vielleicht, ob nicht das zweimalige o! durch etwas anderes ersetzt (wenigstens einmal) werden könnte. Vor allem das Nebeneinander von „eh beglückte“ und „O wie sind die Wiesen kahl“ finde ich etwas leer. //

04 Wie doch fallen jäh die Flammen: Ueber diesem Gedicht habe ich lange gebrütet. Seine metrische und gedankliche Konstruktion dünkt mich überaus interessant mit der eröffnenden, mottoartigen Strophe und den zwei parallel gerichteten Strophengruppen. Die Ausführung empfinde ich aber nicht auf der Höhe diese Architektur. Grammatikalisch unerlaubt scheint mir vor allem die zweite Strophe: es ist nach meinem Dafürhalten auch bei freier Behandlung der Sprache nicht möglich, jemandem etwas zu zücken. Zücken bezeichent doch nur die Bewegung des Herausziehens, des Aufblitzens zur Not noch, aber nicht des gezielten Stosses. „Peinigt jeden ohne Wahl“ ist mir zu dünn. Wie dem Gedicht beizukommen ist, weiss ich freilich auch nicht.

05 Allzu leicht nicht: Eines jener lehrhaften (im guten Sinn) besser: sentenziösen Gedichte, in denen Du eine ganz besondere Art der Aussage gefunden hast. Das Poetische entsteht hier immer durch eine bewusst unübersichtlich gehaltene Auffächerung der Grammatik, wie man es bei hölzernen Lehrgerüsten für Betonbrücken sieht, <wo ein Gewirr von Sparren die eingentlich erstrebte Form verstellt.> Es entsteht ein gewisses logisches „dépaysement“ des Lesers, die einzelnen Verse schwimmen beinahe selbständig vorüber, und doch ahnt man einen sicheren Zusammenhang. Unerlässlich ist dabei, dass dieser sichere Zusammenhang tatsächlich auch ganz streng logisch vorhanden ist; in diesem Gedicht scheint mir der zweite Satz (ab Vers 11) nicht vollkommen logisch durchgeführt zu sein; vielmehr nicht vollkommen evident: man erwartet eine Entbehrung, die dann schon durch eine Beere in Erwartung der Fülle gesetzt werden könnte; demgegenüber scheint aber die Süsse, die man lüstern erfährt, schon zu stark. Ich weiss nicht, ob ich mich klar ausgedrückt habe. Schön finde ich den Anklang an Ostern und Weihnacht, sprachlich ist das Gedicht aber schwächer. Mir hat es zuviele abstrakte termini: Erfüllung, Sattheit, Süsse, Gaben, Vorpfand.

06 St. Johann im Lateran: Die Ouvertüre dieses Gedichtes ist eine der besten, die Du je geschrieben hast. „Nahe krächzt, nahe das Schöpfrad“ finde ich sowohl in Bild wie Assoziation wie Vokal- und Konsonantenspiel überaus aufregend und geglückt. Die Fortsetzung ist diesem Anfang nicht gewachsen. Ich höre – wahrscheinlich ganz grundlos – immer Klopstocks Tropfen am Eimer. Kannst Du aus diesem Gedicht nicht noch etwas Grossartiges machen, wenn Du Dich überall so nahe an den poetischen Gegenstand // hälst und klammerst wie in den ersten zwei Zeilen? Du musst von abstrakten Begriffen wie Reichtum, Schatz, Letzung unbedingt weg, sie verderben Dir alles. Lies meinetwegen Rimbaud und trainier Dich ganz zynisch auf übertriebene Bilder, die Dir die Sprache beinahe zerreissen.

07 Trennung trägt: Auch ein Gedichttyp, für den Du so etwas wie Urheberrechte geltend machen darfst. Das kreisförmig in sich selbst zurückgebogene Gedicht. Ich finde es gut, muss aber in Einzelheiten pedantisch sein: der Delphin ist auf dem i betont, delphis heisst er schon im Griechischen. Es geht nicht an, ihn im selben Gedicht verschieden zu akzentuieren. (Ich weiss wohl, dass es als Präzedenzfall Altar und Altäre gibt, doch existiert dort kein griechisches Wort.) Dürfen Lockungen wehn? „Aber mich trägt“ stört in seinem Rhythmus die andern Trochäen empfindlich. (Im selben Vers muss es wohl heissen: leck erschiene, und nicht: lecker schiene, oder nicht? Für den zweiten Fall würde mich die Assoziation zum gastronomischen lecker irritieren.)

08 Wer das Fleisch noch duldet: Gleich beim ersten Lesen schien es mir das beste Gedicht. Hier nehme ich sogar den falsch betonten Delphin in Kauf, weil er nur einmal, und dann unzweifelhaft im Rhythmus eingespannt, vorkommt. Am schwächsten sind Vers 13 und 14. Was bedeutet es sprachlich, einen Gang und eine Regung zu handeln?

09 Den manche Wolke: Ist mir nicht evident geworden. Den Endreim des dritten Verses liebe ich nicht; Heym stellt die Adjektive auf diese Weise nach, aber es ist immer eine Verlegenheitslösung. Die axial-symmetrische Konstruktion des ganzen Gedichtes finde ich reizvoll, darf man aber sucht und Flucht (langes und kurzes u) reimen?

10 Abend auf der Piazza Colonna: Wieder ein unerhörtes Bild zu Beginn, auch sonst ein sehr starkes Gedicht. Desto schlimmer das adverbial gebrauchte nachgestellte Adjektiv „weich“ in dem vierten Vers. Mauerbraun – Benn hat hier vielleicht recht mit der Warnung vor Farben. Kannst Du nicht die stoffliche Beschaffenheit an Stelle der Farbe schildern? Rote Lichter dagegen halte ich für gelungen.

11 O der Schlinge: Irgendwie sind das (Vers 4 und 6) neue Töne in Deiner Lyrik. Mir scheinen sie richtig. Heute muss // jede Lyrik „the waste land“ durchschreiten. Richtig für Dich auch insofern, als sie Dich von den abstrakten Begriffen wegbringen. Sei doch konsequent in dieser Richtung. So wie es jetzt ist, spielt das Gedicht noch zwischen zwei Stilen.

12 Treibt ihr noch: Gelungene lyrische Sentenz. Ich habe nichts dazu zu bemerken. Am besten gefällt mir – trotz seiner Begrifflichkeit – das „fest zugleich darin“. Hier hilft die rhythmische Sauberkeit sehr zur Vorstellung.

13 Ianiculus: Gehört nach meinem Empfinden zu den schwächeren Gedichten Deiner Sendung; ich habe wieder geradezu heftige Assoziationen ans Strassburger Denkmal, wenn ich vom heilen Schilde höre. Auch das Vokabularium ist eher kraftlos.

14 Das wären sie also. Hab ich zuviel genörgelt? Man ist so schrecklich empfindlich, wenn man an die Mühen denkt, mit denen man jedes Gedicht aus seinen letzten Reserven hervorreissen muss. Du hast es nach wie vor in der Hand, meine Kritik nach Belieben herunterzuschrauben, falls Du in Deiner produktiven Freiheit beengt wirst. Für die Sendung an den Merkur musst Du auf jeden Fall aber noch auswählen. Wenn Du willst, bin ich bereit, Dich den Basler Nachrichten einmal aufzuschwatzen; ob es gelingt, weiss ich freilich nicht. Aber ich würde versuchen, Dich mit ein paar Sätzen einzuführen. Versorg mich also weiter mit Produkten.

15 Was die Prosa anbelangt, vor der Du Dich in metaphysische Entschuldigungen zu flüchten beginnst: Vielleicht hat Dein Bruder schon recht, nur übersieht er das Handwerkliche an der ganzen Sache. Eine Wendung zur Prosa vollzieht sich nicht nur in den Hintergründen, sondern muss auch im Handwerklichen erzwungen werden.

[…]

Dienstag, 29 April 1952       )

Von Markus Kutter, 29.4.1952

Basel, 29. April 1952

Lieber Kuno,

vielen Dank für Deinen Brief und die Gedichtsendung. Hier zum ersten meine Bemerkungen:

02 „Vor Himmels Röte schmilzt“: womit ich mich nicht ganz zurechtfinden konnte, ist, dass ich mir ein „Haus mit metallener Wandung“ nicht deutlich machen konnte. Es korrespondiert für mich mit keiner Wirklichkeit, weder einer empirischen (dass ein Spital oder ein Gefängnis gemeint sein könnte) noch einer poetischen, bildlichen (dass ein „Haus mit metallener Wandung“ eine Sache ist, die es auf Grund dieser dichterischen Bezeichnung nun einfach zu geben hat und gibt). Sonst gefällt mir das Gedicht in seiner an- und abschwellenden Entwicklung; ob das „aber“, // mit dem die zweite Strophe beginnt, wirklich notwendig ist oder aus einer seit Hölderlin grossen und gefährlichen Tradition dasteht, musst Du selber entscheiden. Am wirklichen Genuss hindert mich, wie gesagt, dass ich nicht eigentlich die Ausgangssituation des ganzen Gedichtes begreife. –

03 „Keiner kennt die Pinie wieder“: Ich habe nichts auszusetzen und finde es ein sehr schönes Gedicht, das mich berührt hat.

04 „Ichthys“: Hier steh ich vor allem mit dem Reimwort am Schluss, mit „fahn“ auf dem Kriegsfuss. „Fahn“ hat so einen bestimmten Geruch, man weiss nicht recht ist es „fangen“ oder „fahren“ oder sonst ein Verb mit beliebigem Wert – // auf jeden Fall passt es in seiner ganzen, etwas blassen Altertümlichkeit in die übrige, nach meinem Gefühl beherrschte und gekonnte Heftigkeit der andern Verse. Gerade ein Ausdruck wie „Geknirsch der Strassenbahn“ in seiner präzisen Tatsächlichkeit bringt einen höchst wohltuenden Ton in Deine Verse. „Alle Lyriker sind Realisten“ – irgend so etwas sagt Benn in seinem Vortrag; aus keinem andern Grunde vermag aber gerade das „den Schergen fiel er hin“ nicht mehr zu befriedigen. Denn „Schergen“, so weit das Wort heute noch eine Bedeutung hat, sind ja Gerichts- oder Polizeibeamte, behaftet mit dem Geruch gewisser Willkür – und das meinst Du wohl nicht. Ich würde vorschlagen, // „Schergen“ durch „Krämern“ zu ersetzen, falls Du so etwas gemeint hast. (Für das „fahn“ fällt mir kein Ersatz ein; ich glaube aber nicht, dass man es stehen lassen kann, vor allem nicht am Ende des sonst gross angelegten und aufregenden Gedichtes.)

05 „Dunkeln Bluts Rubinenblume“: Der Symbolismus dieses Gedichtes wird mir nicht ganz deutlich; die beiden ersten Verse der letzten Strophe finde ich sowohl im Bild wie in der Grammatik unverständlich. Was soll es heissen, dass des Gartens Alb die Blume in den Retter der Nachtverzweiflung scheucht? (denn so wird man die Konstruktion auflösen!). Hier musst Du Klarheit schaffen. //

[…]

06 „Streife mit den Schwingen, Vogel“: Ich finde nichts dazu zu bemerken; im Ganzen scheint es mir ein Gedicht, das mehr an Deine früheren erinnert und nicht zu genügender Kraft und Evidenz vorgetrieben ist.

07 „Kröte und Pelikan“: Gehört wieder in Deine symbolische Märchenwelt, die ich reizvoll finde, auch wenn ich den Schlüssel dazu nicht immer besitze. Dunkel bleibt mir hier die Aussage der ersten zwei Verse, so sehr sie mir poetisch gelungen scheinen. Beim letzten Vers der zweiten Strophe habe ich mich lange gefragt, // ob seine Konzentration, die beinahe schon Wortspiel ist, noch angängig sei. Wahrscheinlich ja, wenn auch nicht ganz ohne Bedenken. Sehr einleuchtend, auch gerade im Vergleich mit dem vorherigen, ist mir die rhythmische Geschlossenheit des Gedichtes, der einheitliche Zug, der durch alle Verse geht und sie bindet.

08 „Brach das Füllhorn“: vielleicht das wichtigste Gedicht dieser Serie. (Bei moderner Poesie wird es immer wichtig, wenn sie sich mit sich selber und ihrer eigenen Lage abgibt.) Ich halte es auch weitgehend für gelungen. In der zweiten Strophe fällt mir „nachtverschlossnen“ als völlig bildtoter Begriff auf; wegen der // überzähligen Hebung im letzten Vers der letzten Strophe bin ich Dir nicht gram, doch meine ich, dass man noch merkt, dass Du Dir darüber Gedanken gemacht hast: die Hebung steht nicht so selbstverständlich da, wie sie sollte.

09 „Nächtens stürzt der Strom …“: Die Bilderwelt scheint mir sehr schön und dichterisch tragend; was mir fehlt, ist die Klarheit des ganzen Gedichtes und auch etwas die rhythmische Geschlossenheit. Ich entbehre überhaupt den Reim nicht sehr gern; er ist doch ein wichtiges Hilfsmittel. Das „Schau, sie bekleckert“ geht für mein Empfinden à coté; meine Bedenken gegen Worte wie siegeshell kennst Du.

10 Aehnlich berührt mich auch das andere Gedicht „Wenn uns // andern immer speit die Wölbung“: ich frage mich, was Du eigentlich vor Augen hattest, welche römische Grotte mit Säule. Ich würde aus solchen Vorwürfen Sonette machen, und gäbe im Titel den genauen Gegenstand an, auf den sie sich beziehen. Für beide Gedichte aber gilt, dass Du ein sehr starkes konstruktives sprachliches Können hast; die Sätze sind zwar oft etwas hart, aber überaus bestimmt und genau ineinander gebaut.

11 Bei den korrigierten Gedichten stört mich im ersten („Trennung trägt“) noch immer das klappernde „Aber“ im zweitletzten Vers; beim „Abend auf der Piazza Colonna“ finde ich die zweite Korrektur „am Gemäur zu kaun“ ganz missglückt, da // sich diese beiden Worte mit dem unterschlagenen e kaum aussprechen lassen. Da war mir das Mauerbraun noch lieber. Die Reimgruppe „kaun“, „schaun“ und „graun“ macht mit dem verschwiegenen Endungs-e jetzt überhaupt einen unbeholfenen Eindruck.

12 Soweit meine naseweisen Bemerkungen, über die Du nach Deiner Weisheit hinweglesen musst. Was meine private Lehre vom Rhythmus anbelangt, so hat sie an einem kleinen Orte Platz: als Mensch, der nicht mit Musik lebt, habe ich mich seit gut zwei Jahren auf ein rhythmisches Schema beschränkt ohne unglücklich zu sein: vierhebige Jamben, in die ich manchmal trochäische Akzente schmuggle. Vielleicht ist diese unkritische Bescheidenheit // eine französische Deformation; Benns gewaltsame und oft wirklich grossartige Rhythmen sind sicher „deutscher“ und dem Genie der deutschen Sprache gemässer, aber ich beherrsche sie nicht. Auch ist mir das Konstruktive gegenwärtig viel wichtiger.  […] //

13 Ganz allgemein aber: Borchardt nähme ich nun gerade nicht zum rhythmischen Vorbild. Er hat zwar ungeheuerlich viel von Dichtung verstanden, ist aber in seinen Werken – meinem Eindruck nach – nie wirklich schöpferisch in die Geheimnisse der Lyrik eingedrungen. Tausendmal lieber würde ich da Benn empfehlen, auch wenn ich sehe, dass sich Dein Temperament mit dem seinen wahrscheinlich in wenig Punkten verträgt. – […]

Donnerstag, 19 Juni 1952       )

Von Paul Huber, 19.6.1952

Lieber Kuno,

[…]

Also zunächst einmal herzlichen Dank für Deine Gedichte. Nachdem ich mich gestern vom über alles bewunderten Schiller etwas losgemacht habe, habe ich heute Deine Opera aufmerksam durchgelesen und finde, dass diese Sammlung einige sehr gute Stücke enthält. Sehr gut, gewichtig in Form und Gehalt und überzeugend im Bild wirkte auf mich das Gedicht mit der Barke der Hoffnung. Auch im Gedicht „Ichthys“ ist mir Deine eigenwillig gemischte Bildwelt zu einem überzeugenden symbolischen Ganzen geworden. Weniger gespannt, mehr nur als eine dichterisch hergesagte Bildsymbolik wirkt auf mich „Kröte + Pelikan“: Dieses Gedicht kennzeichnet jene Seite Deines Schaffens, die mir nicht so sehr zusagt: Es fehlt mir im Gedicht jene Strenge, die den Leser selbst dann ins Gedicht zwingt, wenn ihm die visuelle Gedankenlyrik zunächst nicht geläufig ist: Zudem verlangt der in Deinen Gedichten oft wichtige Pol des „Eklen“, dass er durch eine straffe Gespanntheit der Sehnen des Gedichts von einem lässig Verwesenden, Ekelerregenden, zu einem dichterisch mächtigen Gegenpol gegen das „Lichte“ wird: Das scheint mir gelungen zu sein // in dem starken Gedicht „Abend auf der Piazza Colonna.“ Hier ist auch der Vorstellungsbereich allgemeiner zugänglich. Wo er das nicht ist, – und das ist bei Dir sehr oft der Fall – da braucht es eben jene gestalterische Härte + Gespanntheit, die das Minimum darstellt, dessen der Leser an Allgemeinzugänglichem bedarf, bis er auch leicht esoterische Bilder in sich eindeutig nachvollziehen kann. Ein Extremfall in dieser Hinsicht ist für mich das Gedicht mit „Davids Bild“, aus dem ich immer noch nicht recht klug werde, das ich aber wegen dieser „Strenge“ trotzdem nicht übergehen kann. Ein Gedicht von grossem Atem ist „von des Himmels Röte schmilzt …“. Einzig in der Mittelstrophe scheint mir die Lesehemmung des relativen Anschlusses „der unersättlich säuft“ zu wenig gerechtfertigt zu sein: Ohne gestalterischen Sinn liest man zuerst unsinnig: Flammenmund, der …, um erst in in einem zweiten Ansatz das Relativum auf Kelch zu beziehen … – Sehr geglückt scheint mir die Verwendung des Abraham - Isaak - Motivs in „Die manche Wolke hüllt …“ zu sein. Schon der erste Vers dieses Gedichts, dieser grossatmige Blankvers, versetzt in die Situation der Grösse dichterischer Aussage. Aehnlich wirkt der Hexameter der ersten Zeile in „O der Schlinge entwunden …“. Auch dieses Gedicht ist stark. Nichts anfangen kann ich mit der Paraphrase zu Berninis Theresia in Ekstase, das Du mir seinerzeit schon auf den schönen Neujahrsgruss geschrieben hast. Es ist mir zu sehr Paraphrase, wobei der Gegenstand der Paraphrase selber zu wenig in sich ruht, zu sehr selber schon Auflösung bedeutet, als dass er dem Gedicht Halt geben könnte. Die Bildreihe von „Wer das Fleisch noch duldet …“ spricht mich wenig an. – Wenn die Grösse und Gespanntheit der Diktion einmal beiseitegelassen wird, dann ist erforderlich, dass das Gedicht in einer schlichten Eindeutigkeit der Vorstellung lebt, wie „Treibt ihr noch am niedern Ufer …“. In „Keiner kennt die Pinie wieder …“ ist dieses Postulat mit einer Grösse der Vorstellungswelt glücklich verbunden, während „Streife mit den Schwingen, Vogel …“ auf mich trotz dem symbolisch hohen Anspruch eher lässig wirkt.

02 Du siehst hoffentlich in diesen paar Bemerkungen nich nur Unverstand, sondern mein gerade durch diese Gedichte neu gewecktes Interesse an Deinem Dichten. Wenn es Dir gelingt, vom symbolischen Bildmischer immer mehr zum zwingend kraftvollen Gestalter zu werden, dann wirst Du sehr gute Sachen zustande bringen, wie schon in der vorliegenden // Sammlung das nach meiner Ansicht Gute das Schwache bei weitem überwiegt: Die grösste Gefahr sehe ich in der Lässigkeit bei reicher symbolischer Bildschau. Es würde mich freuen, wenn Du mir schriebest, ob ich mit meinen Bemerkungen nach Deinem Empfinden ganz daneben geraten habe. Und schicke mir wieder Gedichte!

[…]

Sonntag, 19 April 1953       )

Von Paul Huber, 19.4.1953

Lieber Kuno,

[…]

Die Gedichte entsprechen nach meiner Ansicht ziemlich genau dem, was Du selber geschrieben hast über Deine gegenwärtige Lage. Das Gedicht "Die Lampe" möchte ich immerhin weit über die andern stellen. Es behandelt in einfacher, evidenter Weise ein meines Erachtens grosses Symbol. Lass diesen bedeutenden Stoff nicht los und mache noch etwas Bedeutenderes draus. Es sollten die Sehnen des Gedichtes etwas gespannter sein. Vermeide jeglichen beschaulichen Quietismus. Vision ist Ruhe gewordene höchste Aktivität, nicht Quietismus. Ich sehe noch zu wenig Notwendigkeit in den sprachlichen Besonderheiten dieses Gedichtes, z. B. im Weglassen des Artikels, in der Inversion "wirft sie" (3. Zeile) – Ich weiss schon, dass z. B. der Artikel unter Umständen zu stark vergegenständlicht, aus dem Allgemeinen herauslöst. Bei Dir wirkt das Weglassen auf mich oft etwas manieriert, gerade als Scheu vor der gegenständlichen Sache, Mangel an Wille zur Inkarnation, und als sublime Scheu vor dem jambischen Auftakt. Ich gäbe viel für das "die" vor Lampe, oder etwa für das "sie" vor "fürchtet" – natürlich nicht einfach so hingesetzt, aber für eine Veränderung Deiner Schweibweise in dieser Richtung. Du hast einen kräftigen Schuss Realismus nötig, sonst bekommt man mit der Zeit den Eindruck, Deine Symbole wie Konditoreifiguren, in Watte und Seidenpapier gehüllt, zu erhalten. Marzipan und überreife // Pfisiche sind gut – Brot und Wein sind bedeutender!

02 Den Mangel an Härte empfinde ich vor allem in "Afrodite". Die letzte Zeile, die dem vorher verwendeten überkommenen Requisitorium das neue Leben geben sollte, fällt nach meinem Empfinden ab, sodass man die Wiedererweckung eines Topos hat, und statt einen kräftigen eigenen Lichtstrahl in das Szenarium des Topos zu sehen, hört man das Geräusch der Feuersteine, aus denen kein herzhafter Funke springen will.

03 Muss nicht beim Gedicht "Die Lichtung" die Reflexion allerhand von dem ergänzen, was der sprachlich und vor allem bildhaft spontanen Evidenz in Bezug auf das Tanzsymbol abgeht? Wenn man das Gedicht mehrmals liest, beginnt der langsam wiegende trochäische Rhythmus zu sprechen. Bringt er es fertig, in seinen milden Morphiumrausch Fels und Baum unter der Sichel einzuwiegen? Geht das nicht fast eher auf ein Wiegenlied los, als auf ein Tanzlied? Auf jeden Fall ist es bedeutend schwerer, nur Fels + Baum unter der Sichel zum Tanz um den in die Lichtung getretenen Menschen zu bringen, als eine grössere Menge von Dingen. Man fühlt sich veranlasst, nach der Deutung der einzelnen Symbole zu suchen, (Fels, Baum etc.), und nimmt sie nicht einfach als das All hin.

04 Aus dem "Pfauenlied" werde ich nicht recht klug. Doch, gerade jetzt ist's mir aufgegangen! // Besser spät als nie! Wieder einmal ein neues Symbol für das Höhlengleichnis! Das Pfauenrad ist herrlich dafür – aber für viele Leute sind die Blumen zu kräftig, zu wenig dämmerig, um einen Lichtgegensatz zu erlauben. Du erweckst Lichtvorstellungen, also sinnliche Eindrücke, und trotzdem muss man sie wieder los werden, um nicht durch andere sinnliche Eindrücke logisch falsch geführt zu werden (Aequivozität von "mischen" in der 2. und 3 Zeile der letzten Strophe z. B.). Und eben, der optische Hauptkontrast ist nur intellektuell zu erleben. Der Einfall, die Pfauenblumen der andern Welt und die irdischen Blumen zu kontrastieren, ist kostbar. Die Durchführung überzeugt mich nicht recht. Wäre die Schwierigkeit des mangelnden direkten Kontrastes im Optischen nicht durch die Einführung eines zeitlichen Nacheinanders oder dergl. zu überwinden? Oder wäre nicht ein echtes Kunstmärchen zu dichten um diesen Kern herum?

[…]

Freitag, 17 April 1953       )

Von der Redaktion Deutsche Rundschau, 17.4.1953

Herrn Dr. Cuno Raeber
Tübingen
Fürststr. 17

Sehr geehrter Herr Doktor Raeber,

Herr Reichsminister a.D. Treviranus hatte die Liebenswürdigkeit, uns mit Ihren Gedichten bekanntzumachen. Wir haben sie mit Aufmerksamkeit und lebhafter Anteilnahme gelesen, wenn wir uns auch nicht entschliessen konnten, das eine oder andere zur gesonderten Veröffentlichung in der Deutschen Rundschau anzunehmen; denn unsereres Erachtens besteht ein innerer Zusammenhang zwischen den Gedichten, der nur in einer Buchpublikation deutlich werden kann. Freilich ist es in Anbetracht der Situation der meisten deutschen Verlage schwer, einen Rat zu geben, welcher Verleger das mit einem Gedichtband immer verbundene Risiko unternehmen würde; vielleicht wenden Sie sich einmal an den Bechtle-Verlag in Esslingen, oder auch an Eugen Diederichs in Düsseldorf, die beide entsprechende Publikationen in jüngster Zeit herausgebracht haben.

Das Manuskript dürfen wir Ihnen anbei mit unserem verbindlichen Dank zurückreichen.

Mit den besten Empfehlungen

DEUTSCHE RUNDSCHAU
Redaktion

Dienstag, 28 April 1953       )

An Paul Huber, 28.4.1953

Tübingen, 28. 4. 53

Lieber Paul,

eben komme ich zurück von einem Aufenthalt in Ronco und einem Abstecher nach Parma und Verona und finde Deinen Brief hier zwischen einem Berg von Zeitungen, der sich in den drei Wochen aufgetürmt hat: zufällig, wie ich die Zeitungen wegwerfen will, fällt er heraus.

02 Es ist mir immer interessant zu hören, was Du von meinen Produkten hältst. Diesmal freilich hatte ich eher das Gefühl, die Zensur eines sehr wohlwollenden Lehrers zu lesen. Und ich frage mich, was für ein Verhältnis Du zu meiner Arbeit hast, wenn Du z.B. schreibst: „Du hast einen kräftigen Schuss Realismus nötig ......“ usw. Und schon vorher diese Imperative, die offenbar nicht nur diesen oder jenen Akzent setzen, sondern doch fast meine Verfahrensweise überhaupt verändern wollen! – Ich meine, um eine Einzelheit herauszugreifen: wenn Du meine Arbeit über die Jahre hin verfolgt hast, so musstest Du merken, dass der „Realismus“ offenbar nicht mein Weg ist, dass ich auf Grund meiner Voraussetzungen gezwungen bin, das, was ich will, auf andere, meinetwegen un„realistische“, Weise zu erreichen. Du darfst das natürlich bedauern, ich zwinge Dich nicht, meine Verse schön zu finden, Du darfst mir auch sagen, dass // Du es bedauerst. Aber eine Voraussetzung geistiger Beziehung bleibt doch, dass man die Arbeit des andern im Prinzip als gegeben hinnimmt, nicht, dass man Vorschläge zu einzelnen Änderungen nicht machen soll – ich nehme solche immer wieder an – aber eine Grundhaltung wie „Realismus“ oder Un „realismus“ kann nur festgestellt und kritisiert werden. Aber Du kannst nicht vom andern erwarten, dass er sie ändert. Damit gerät das Gespräch an seine Grenze: wenn ich Dir „Marzipan und überreife Pfirsiche“ vorsetze, Du aber „Brot und Wein“ vorziehst, so kannst Du das bedauern, aber Du musst Dich damit abfinden, dass Du bei mir nur ein und das eine und nicht das andere bekommst. Wenn Du das nicht willst, musst Du auf weitere Lieferungen aus diesem Geschäft verzichten.

[…]

Dienstag, 03 November 1953       )

Von Markus Kutter, 3.11.1953

Basel, 3. Nov. 53

Lieber Kuno,

[…]

Also zu den Gedichten: ich sehe jetzt völlig ein, warum Dir eine Novelle oder überhaupt eine Geschichte in Prosa nicht gelingen konnte: Dieser Anspruch an die Prosa, der mir aus den Sätzen Deines „Pfaus“ (übersendet diesen Sommer) entgegentrat, verträgt es allerdings nicht, dass // man, wie Valéry es einmal gesagt hat, irgendwann den Satz schreiben muss: La marquise descendit les marches du perron. Gerade dieser „Pfau“ ist mir, ich weiss nicht warum, schon bei der ersten Lektüre ins Fleisch gefahren; dieses poème en prose (auch Baudelaire konnte keine Romane oder nur ganz schrecklich missratene schreiben) hat nicht eine unbarmherzige, sondern barmherzige sprachliche Präzision, etwas, das die Worte genau bis in ihren hintersten Hohlraum ausfüllt, sodass, im Bild zu bleiben, ein vollkommener moulage entsteht, etwas ohne Löcher und Brüchigkeit.

02 Eine gleiche, beinahe angreifende Präzision <hat> das Gedicht mit dem Gang und der säugenden Wölfin [= Der Gang]: das ist sehr stark, und in solchen // Sachen erreichst Du Deine eigentliche Stärke. Ich seh nun wirklich langsam den Zeitpunkt gekommen wo Du in Druck gehen musst, in einem Band von etwa 80 – 120 Gedichten; wenn Du in Deutschland nichts findest, so kann ich mich hier bei meinem kleinen Verläglein verwenden, wenn leider auch nur in kleinerer Auflage. Ich würde Weihnachten übers Jahr als Erscheinungstermin vorschlagen und Dir die Zusammenstellung eines savamment komponierten Bandes im Lauf der nächsten Monate (bis Sommer 54) empfehlen.

03 Zurück zu den Gedichten: für mich wichtig in der neusten Sendung „Der Entrückte“, vor allem des entwaffnenden und eigentlich zu Herzen gehenden letzten // Verses wegen. Den „Schuh“ bin ich fast versucht, auf meine Situation zu beziehen, wo mich Deine Gedichte in sehr gefülltem Alltag treffen – dabei wundert mich immer die so ganz natürliche Affinität, die Du zu 1001 – Nacht – Welten besitzest oder zur Welt der goethischen Pandora (etwa „Elegie“ und „Die verwandelten Schiffe“). Immerhin möchte ich gerade für diese traditionsgehaltenen Stücke meinen, dass sie erst dann zu einer voll gedeckten Währung werden, wenn mindestens in einem Vers, einem Schlussbild, einem Bild überhaupt, diese Konvention (der Begriff ist nicht negativ, er ist neutral!) in Deiner ganz persönlichen Aktualität hineingespült und in ihr aufgelöst wird. //

04 Zum Technischen: mir fällt weniger auf als bisher. Ein Detail: In „Das Riff“ ist der Rhythmus doch getragen von 4- bis 5-füssigen Trochäen (Ausnahme 2. Vers). Dann darf man nach meinem Ohr nicht den Schlussvers 6-füssig machen, er kommt sonst nicht mit und will rhythmisch nicht fertig werden, das bringt das Gedicht um die Vollendetheit. Vergleiche etwa das vollkommen geglückte Gegenteil im „Gewitter“, wo eine Reihe von Dreisilbern durch einen zweisilbigen Vers absolut schön und definitiv abgeschlossen wird. Dasselbe auch in der „flüchtigen Taube“ – ebenfalls eines meiner engern Auswahl. –

 

Mittwoch, 04 November 1953       )

An Peter Schneider, 04.11.1953

Mein lieber Peter,

mit den Fragen, die Du an meine Verse stellst, triffst Du, glaube ich, ins Zentrum der Problematik der Kunst überhaupt, vor allem heutiger Kunst. Die Auflösung der verbindlichen Welt früherer Epochen, der Umstand, dass heute jeder in seiner eigenen Welt lebt, erschwert zweifellos das Verständnis des Gedichtes sehr, und zwar, wie Du richtig sagst, weil das Bild, das bei dem einen die Gedankenassoziation hervorruft, beim andern jene, und in beiden Fällen ist es unsicher, ob sie mit der vom Dichter im Augenblick der Produktion gemeinten, etwas zu tun hat.

02 Aber: das Stoffliche ist ja beim Gedicht nur eines, gleichsam der Anlass zur Gestaltung, wobei es ganz auf das Wie ankommt: ob dieser Stoff an diesem Ort nun zu recht steht, ob er so ganz Form geworden ist, dass man von einem Gedicht sprechen kann. Weil das den grossen Künstlern der Antike z. B.gelang, finden wir ihre Werke heute noch bedeutend, erfüllt, gross, lebendig, obwohl die Welt, die ihnen die Stoffe lieferte, nicht mehr unmittelbar die unsere ist, obwohl ihre Götter nicht mehr einfachhin die unseren sind. Diese Welt wird die unsere, // diese Götter werden die unseren, insofern es den Dichtern gelingt, insofern sie die Macht haben, sie durch ihr Gedicht zur unseren zu machen. Ähnlich liesse sich von der Kunst des Mittelalters, der Chinesen, Inder usw. sagen.

03 Warum aber kann ihnen diese Einschmelzung ihrer Welt in die unsere, in die so ganz verschiedene Welt eines jeden von uns immer wieder gelingen? Weil in uns allen – ob man sich nun dafür auf Platon oder C. G. Jung beruft, tut nichts zur Sache, alle Kommunikation beruht auf diesem Faktum – bestimmte Urbilder angelegt sind, sowohl im Dichter wie im Leser, die durch das Bild des Dichters erregt werden, aufgerufen werden. Die Bilder sind ein konventionelles Element in der Dichtung, ein Element höchster und zugleich tiefster, unausgesprochener Konvention. Und der Unterschied zwischen den einzelnen Bereichen, aus denen die Bilder hier und dort kommen, zwischen dem antiken, christlichen, orientalischen, dem Bereich der Traumsphäre (die heute sehr beliebt ist) ist verhältnismässig unwichtig, ist auch viel geringer, als man im ersten Moment glauben möchte. Es kommt ja nur darauf an, dass diese Bilder, dass der Stoff des Gedichtes möglichst durchsichtig auf das allein Wesentliche, auf den Lichtkern hin ist. Wenn du überdies vom Gedicht noch verlangst, dass es bestimmte Gedanken, sogar die Gedanken des Dichters im Leser reproduziere, so bist Du, scheint mir dem heute üblichen Missverständnis anheimgefallen: es ist niemandem verboten, ein Gedicht, ein Kunstwerk zum Anlass für Gedanken zu nehmen, und das kann gut und fruchtbar sein. Aber dies ist wohl in keinem Fall Sinn und Absicht des // Gedichtes: Die Einigung, Begegnung, die das Gedicht mit dem Leser herzustellen vermag, wurzelt doch wohl in einem anderen Bereich, als dem der rationalen Intellektualität, wenn sie auch bis dorthin emporragen mag. Aber hier halte ich mich nun wiederum nicht mehr für zuständig.

[…]

Samstag, 05 Dezember 1953       )

Von Paul Huber, 5.12.1953

Lieber Kuno,

von Deinen Gedichten, die ich in einem lang ersehnten Moment relativer Ruhe nochmals gelesen habe, gefallen mir am besten „Die Blume“, „Die Fische“ und „Der Flüchtling“. In den beiden ersten lebt in einer mich völlig überzeugenden Aussage ein bedeutendes Schicksal, das mehr als privaten Charakter hat. Im „Flüchtling“ wird eine geballte sinnlich-aesthet. Kraft glücklich zusammengehalten durch die Wiederholung der Anfangszeile. Es ist spannend, wie bei Dir das Thema der Esoterik, des Fremdseins, (Flüchtlings etc.) immer wieder aesthetisch anschaubar wird in ruhenden Bildern. Es wird dadurch von einem möglichen romantischen Verströmen des Ichs zu einem objektiv immer wieder darstellbaren Motiv. „Die Blume“ hat mich eigentlich erschüttert durch im Gedicht ausgesprochene Situation: in höchster Statik, der gegenüber die Gedichte des westöstl. Divans noch fast wie frei strömender Sturm + Drang anmuten, wird hier der Verlust der stabilitas anschaubar gemacht. Wie lange wirst Du es hier aushalten? Auf der einen Seite sehe ich die nicht sehr spannende Möglichkeit des quietistischen Anachoreten, der das Wasser in irgend einem Krug jenem Wasser vorzieht, in dem sich das unendliche Licht spiegelt: ihm ballt sich offenbar das freie Element nicht mehr zur Kugel! (Schöpft des Dichters reine Hand, Wasser wird sich ballen.“ (Divan)).

02 So gelungen auch „der Gang“ ist, das Gedicht steht mir auch etwas auf dieser Seite des im Kruge gereichten Trankes. // Auf der andern Seite sehe ich neues dichterisches Abenteuer, basierend auf immer neuem Erfahren. Vielleicht führt das neue Erleben zu immer wieder anders gestalteter Aussage der gleichen Zwischenstelung. Ich bin gespannt auf das weitere.

03 „Votivbild“ und einige andere reizen den Leser; aber ich frage mich, ob hier nicht der Verzicht auf ein spontanes Publikum, auf „Oeffentlichkeit“, wie sie Winckelmann etc. an den Alten gerühmt haben, nicht zu sehr einfach hingenommen wird.

[…]

Dienstag, 16 März 1954       )

Von Walter Höllerer, 16.3.1954 (Akzente)

Sehr geehrter Herr Doktor Raeber,

01 ich habe auf drei verschiedenen Wegen Mskrr. von Ihnen erhalten: durch Herrn Bender, durch Herrn Podszus vom Suhrkamp-Verlag und durch Herrn Günther von der DVA. Einige Ihrer Gedichte haben mir sehr gut gefallen. In letzter Minute hat sich ergeben, dass ich für Heft II (1. April) der 'Akzente' noch drei Seiten zur Verfügung habe: ich habe sie für Sie angesetzt und hoffe, dass Sie damit einverstanden sind.

02 Wir haben 7 Gedichte herausgesucht: Der Pfau, Der Baum, Der Trauerbaum, Die verwandelten Schiffe, Der Gang, Der Schläfer, Der Entrückte. Es scheint mir, dass sich diese Stücke zu einer Art Zyklus zusammenschliessen lassen. Ich habe die Gesamtüberschrift: 'Der Gang' vorgeschlagen.

03 Das Heft ist bereits im Druck. Ich wäre Ihnen daher sehr dankbar, wenn Sie dieser Auswahl, Anordnung etc. zustimmen wollten: denn eine grössere Veränderung würde es notwendig machen, dass wir diese Seiten zunächst weglassen müssen, und bei dem Raummangel, wie er in unserer Zweimonatsschrift chronisch zu werden droht, ist nicht abzusehen, wann ich mit Ihren Gedichten dann zum Zuge komme. – Natürlich erhalten Sie vorher Fahnenabzüge. – Das Honorar wird voraussichtlich ungefähr 120.- DM betragen.

Mit freundlichen Grüssen
Ihr
Walter Höllerer.
Donnerstag, 25 März 1954       )

Von Hans Rudolf Hilty, 25.3.1954 (Hortulus)

Sehr geehrter Herr Doktor Raeber,

01 Herr Dr. Peter Keckeis in Küsnacht-Zürich war so liebenswürdig, mir Gedichtmanuskripte von Ihnen vorzulegen. Wie Sie von Ihm vielleicht schon wissen, habe ich einiges für meine Zeitschrift hier behalten. Fürs erste erscheint nun im Märzheft (das dieser Tage ausgeliefert wird) Ihr Gedicht "Auf der Insel gehn die gestrandeten Schiffer …". Anderes folgt in den weiteren Heften. Ich hoffe, Ihnen mit diesen Veröffentlichungen eine kleine Freude zu bereiten, und ich hoffe auch, dass Ihnen meine Zeitschrift gefällt. Belege des Märzheftes werden Sie in den nächsten Tagen erhalten.

02 Leider kann ich nur sehr kleine Honorare bezahlen (und auch diese nur dank freundlicher Unterstützung durch eine Stiftung). Für das Gedicht im Märzheft stehen Ihnen 10 SFr. zu. Darf ich Sie vielleicht bitten, mir noch zu melden, ob ich Ihnen diesen Betrag nach Tübingen senden soll oder an eine Schweizer Adresse, oder ob ich ihn einfach vorläufig zu ihren Gunsten auf meinem "Hortulus"-Konto soll stehen lassen? Ich kann das ganz richten, wie es Ihnen am angenehmsten ist.

03 Und wenn Sie mir neue Manuskripte senden wollen, wird mich das jederzeit freuen.

Mit den freundlichsten Grüssen bin ich immer
Ihr sehr ergebener
Hans Rudof Hilty

Mittwoch, 07 April 1954       )

Von Akzente, 7.4.1954

Sehr geehrter Herr Doktor Raeber,

in Abwesenheit von Herrn Doktor Höllerer, der verreist ist, danke ich Ihnen für Ihren Brief. Die Änderung des Wortes 'Felsschlucht' zu 'Feldschlucht' in Ihrem Gedicht 'Der Baum' hat Herr Doktor Höllerer bemerkt, aber für eine nachträgliche Autorenkorrektur gehalten und für besser angesehen als 'Felsschlucht! weil es ungewöhnlicher und doch als Bild durchaus vorstellbar und überdies konsonantisch besser ist. – Die Verwechslung des Geburtsortes ist wahrscheinlich auf ein Missverständnis der Notiz in den 'Konturen' zurückzuführen. – Die Übersendung der Korrektur an die Druckerei war keineswegs störend.

Bitte entschuldigen Sie diese Versehen, die auf die überstürzte Drucklegung zurückzuführen sind.

In vorzüglicher Hochachtung

i.A. G. Holland¿

Donnerstag, 29 Juli 1954       )

Von Hans Rudolf Hilty, 29.7.1954 (Hortulus)

St. Gallen, den 29. Juli 1954

Sehr geehrter Herr Doktor Raeber,

für Ihre Manuskripte danke ich Ihnen herzlich. Ich habe im Sinne, die meisten oder vielleicht sogar alle Ihrer Verse miteinander zu bringen. Nur wäre es mir in diesem Falle angenehm, Sie könnten einen Gesamttitel über die Gruppe setzen: gewissermassen als Rechtfertigung dafür, dass ich von einem einzelnen Mitarbeiter so viel auf einmal bringe (was ich eben stets nur bei Zyklen tue, nicht bei einzelnen Gedichten). Ferner: Darf ich Sie noch bitten, mir den Titel Ihres seinerzeit im Vineta-Verlag erschienenen Bändchens zu nennen?

Mit wiederholtem Dank und vielen Grüssen
Ihr Hans Rudolf Hilty

Montag, 30 August 1954       )

Von Hans Rudolf Hilty, 30.8.1954 (Hortulus)

Zur Zeit auf dem Bodensee, 30. 8. 54

Sehr geehrter, lieber Herr Doktor Raeber,

Haben Sie herzlichen Dank für Ihre Karte aus Spanien. Ich versende nur ausnahmsweise Probeabzüge. So ist nun auch das Septemberheft bereits im Druck. Für Ihre Gedichte habe ich aus Ihren Vorschlägen den Gesamttitel „Etüden“ gewählt. Aus Raumgründen musste ich leider eines der zehn Stücke weglassen („Der Stein“). Die andern neun sind genau nach Ihrem Manuskript gedruckt. So hoffe ich, Sie werden mit der Veröffentlichung zufrieden sein. Wohin soll ich die Belege schicken (sie dürften in 8-10 Tagen ausgeliefert werden)? und wohin das Honorar? (Dieses kann ich natürlich auch zurückbehalten, bis Sie darüber verfügen).

Mit den freundlichsten Grüssen bin ich stets
Ihr Hans Rudolf Hilty

Donnerstag, 04 November 1954       )

An Thomas Räber, 4.11.1954

Deine Briefe und Karten aus England bestätigen mir, was ich bisher über dieses Land gehört habe: es wundert mich nicht, dass man dort, und in Amerika, offenbar die beste moderne Lyrik macht, vielleicht die beste moderne Dichtung überhaupt, indem doch das Gedicht sehr oft aus der Erfahrung der Diskontinuität der äussern Welt, des Mangels an Durchbildung, erwächst. Das Schöne neben dem Hässlichen, das Sinnvolle neben dem Verrückten, das Gute neben dem Bösen zu sehen, das erzwingt doch offenbar das Gedicht als einen Versuch, die geheime Verbindung aufzudecken vom einen zum andern.

02 Ich habe in den letzten Monaten eine Entgrenzung, Eröffnung, Erweiterung – so scheint mir – meiner Dichtung erlebt, die mir klar zu machen, daraus nun für jede einzelne Arbeit, für jeden Vers die Konsequenz zu ziehen, mich im Augenblick vollauf beschäftigen könnte. Das läuft, kurz gesagt, vielleicht darauf heraus: die ganze Welt kann in einem unmittelbareren Sinn Gegenstand der Dichtung sein, als ich das bisher für praktikabel gehalten hatte. Es gibt keine poetischen und unpoetischen Gegenstände mehr. Es kommt nur auf die Methode an: Poesie ist eine Methode der Weltdarstellung, der Weltbeherrschung, der Wirklichkeitsbeschwörung, wobei ich nicht meine, was ich bisher getan habe, sei falsch gewesen: das waren poetische Übungen an ausgewählten Objekten. Aber jetzt fange ich an zu fühlen, dass es schlechterdings keinen Bereich gibt, in den ich geistig einzudringen imstande bin, den ich, mit der Seele und den Sinnen betreten kann, der nicht zum Gedicht werden könnte, den ich nicht, wenn ich die Methode beherrsche, // meine Methode, ins Gedicht ziehen kann. – Item, das ist Theorie, ich werde Dir die ersten Beispiele bald zeigen: wenn möglich gedruckt; wenn das zu lang geht, schicke ich Dir das Manuskript. – Es ist diese, fast plötzliche, Erkenntnis wie, es fällt mir im Augenblick nicht anders ein, ein geistiger Rausch,ein Taumel. Und zugleich das Gegenteil: Ernüchterung, Desillusion, als ob ich endlich von einem Sockel herunter steigen, ein enges Zimmer verlassen hätte. Geholfen haben mir hier die Gedichte Ezra Pounds, der Marianne Moore, Marcel Proust; und Musils „Mann ohne Eigenschaften“, den ich jetzt grad lese, bestärkt mich.

[…]

Donnerstag, 30 Dezember 1954       )

Von Hans Paeschke, 30.12.1954 (Merkur)

Sehr geehrter Herr Raeber,

01 wir korrespondierten bereits mehrfach und bisher ohne Resultat. Umsomehr freuen wir uns, Ihnen heute mitteilen zu können, daß wir im nächsten Jahrgang einige Gedichte von Ihnen veröffentlichen wollen. Die Auswahl entstammt einem Konvolut, das uns über Herrn Alfred Günther von der Deutschen Verlags-Anstalt zuging.

02 Es handelt sich um die drei Gedichte: "Abend", "Lied aus der Wiege", "Die drei Kammern". Um ein viertes Gedicht geht noch die interne redaktionelle Diskussion. Sie betrifft das Gedicht "Die heilige Katharina", das mich persönlich stark beeindruckte.

03 Mein Mitherausgeber Dr. Moras und ich wären Ihnen jedoch sehr dankbar, wenn Sie uns zur Deutung bzw. Interpretation dieses Gedichtes noch etwas unter die Arme greifen könnten. Wir befürchten, eine<m> Teil unserer Leser möchte es mit dem Verständnis dieses Gedichtes ähnlich gehen wie uns. Hat das Gedicht Bezug auf eine bestimmte Legende der 'Heiligen Katharina'? Wenn ja, schiene es uns ratsam, in einer Fußnote oder Anmerkung diese Legende kurz anzudeuten, um damit dem Leser das Verständnis einiger sonst rätselhafter oder verrätselter Stellen – namentlich am Schluss – zu erleichtern. Ausserdem wären wir für einige kurze biographische Angaben sehr verbunden.

Mit besten Empfehlungen und Neujahrsgrüssen!

Paeschke

Mittwoch, 05 Januar 1955       )

An Hans Paeschke, 5.1.1955 (Merkur)

K.R.
Zeppelinstrasse 8,
Tübingen
5.1.55

Sehr geehrter Herr Paeschke,

01 "Die heilige Katharina" bezieht sich auf die Stelle aus der Legende der heiligen Katharina von Alexandrien, wo die Heilige im Gefängnis von einer Taube genährt wird, und auf die andere, wo ihr Leichnam von Engeln auf der Höhe des Sinai beigesetzt wird. (Darum ist das koptische Kloster am Fuss des Berges, soviel ich weiss bis heute, nach der heiligen Katharina benannt.)

[…]

02 Ein Versbändchen "Gesicht im Mittag" erschien 1950 in Basel, Gedichte immer etwa wieder in Zeitschriften und Zeitungen: "Die Tat" (Zürich), "Konturen", "Akzente", "Matière" (Zürich), "Schweizer Rundschau", "Hortulus" (St. Gallen), "Wort und Tat" (Wien). usw.

[…]

Sonntag, 29 Januar 1956       )

An Thomas Räber, 29.1.1956

Zu deiner Grundsatzerklärung über Gedichte habe ich kein Wort hinzuzufügen: ich bin genau Deiner Ansicht. Alles Esoterische – im Sinn des sich Abschliessenden, vulgus profanum Hassenden – ist mir zuwider. Soll heissen: ein Kustwerk muss jedem zugänglich sein, jeden treffen und betreffen, wenn er und soweit er imstande ist, sein Innerstes, sein Selbst zu öffnen und es aufzunehmen. Und hier liegt ja, wie Du richtig sagst, die ganze Schwierigkeit: wenn einer das Gedicht nicht versteht, liegt das daran, dass er nicht offen ist dafür oder daran, dass das Gedicht zu unverständlich ist, um hineinzufinden durch sein offenes Tor, eine Ware, die nicht in die Stadt kommen kann, nach der sie adressiert ist? Wer soll das im einzelnen Fall wissen? […] Denn ich selber meine immer, diese Bedingung, der Handlichkeit, zu erfüllen in meinen Gedichten: den Geist der Leser zwar vielleicht anzustrengen, aber zuvor ihn zu reizen und auf den Weg der rechten Anstrengung zu führen. Denn so etwa muss man es ja machen: reizen und so zu einer neuen Bewegung zwingen. Gelänge das meinen Versen nicht, so würden sie eine wesentliche Bedingung nicht erfüllen und wären schlecht. […]

Mittwoch, 22 Februar 1956       )

An Thomas Räber, 22.2.1956

[…]

Der „Merkur“ will im Juni Gedichte bringen, im September oder Oktober soll der neue „Jahresring“ mit einer weiteren Reihe erscheinen. Das geht sehr langsam mit dem Publizieren: mir gefallen die Gedichte des vergangenen Jahres – vor allem die vorletzte Serie, nicht die letzte, über die unsere Diskussion ging – schon nur noch halb. Ich habe den Eindruck, eine Methode zu stur angewandt zu haben, nicht zuletzt unter Deinem und Jensens Einfluss: ich habe die Inversion auch dort vermieden, wo sie richtig wäre, so bekamen manche Verse etwas pedantisch Hölzernes. Man sollte auf niemanden hören, oder doch nur mit grösster Skepsis. Es ist besser die eigenen Fehler zu machen als die anderer Leute. –

Sonntag, 27 Mai 1956       )

An Thomas Räber, 27.5.1956

[…]

Im übrigen habe ich einen dramatischen Versuch […] schon recht weit gebracht. Er kann gut werden, wenn ich dabei bleibe; und diesmal habe ich das Gefühl, dass ich es tue. Die DVA hat sich sehr brüsk von meinen Arbeiten distanziert; der Lektor, der mich mochte, ist pensioniert worden: ich fürchte nun Rückwirkungen auf den „Merkur“ und den „Jahresring“, die sehr abhängig, wie man mir sagt, von der Verlagsleitung sein sollen. Dann müsste ich wieder von vorne anfangen. Denn den guten St. Galler „Hortulus“ kann man mit dem besten Willen nicht für voll nehmen. –

[…]

Freitag, 08 Juni 1956       )

Von Hans Paeschke, 8.6.1956 (Merkur)

Sehr geehrter Herr Raeber,

ich ließ lange Zeit nichts von mir hören und freue mich, heute wieder, ebenso wie das letzte Mal, mit einer Art Volllzugsmeldung zu Ihnen zu kommen. Die Auswahl aus dem mittlerweile stattlich angewachsenen Konvolut Ihrer Gedichte hat uns wieder und wieder beschäftigt. Ich selbst ertappte mich dabei, jedesmal einige Ihrer früheren kurzen Gedichte mit anzukreuzen. Ich verstehe aber sehr gut, daß Sie lieber einiges aus Ihrer neuesten Produktion veröffentlicht sähen. Wir haben uns nun für das August-Heft zur Veröffentlichung der folgenden Gedichte entschlossen:

"Karussell"
"Der Fudschijama"
"Am Flußhafen"
"Die Jahreszeiten (Der tote Vogel)"

Zwei Gedichte befinden sich noch in Diskussion, nämlich

"Im Brunnen" und
"Die Wirtschaftsseite"

Dr. Moras gibt dem ersten, ich gebe dem zweiten Gedicht den Vorzug, wobei ich vor allem daran denke, man solle die Variationsbreite Ihres dichterischen Temperaments dokumentieren. Eine Aufnahme beider Gedichte mutet leider dem Raum, der uns im August-Heft zur Verfügung steht, zu viel zu. Wie ist Ihre Meinung in diesem Fall?

Herzliche Grüße  Ihres sehr ergebenen
Hans Paeschke

P.S. Die übrigen Gedichte legen wir heute wieder bei.

Sonntag, 11 November 1956       )

An Thomas Räber, 11.11.1956

[…]

Die Separata des „Jahresrings“ sind leider noch nicht gekommen: ich habe übrigens darin die Ehre, gerade nach jenem Doderer zu stehen. Übrigens war interessant: es gab da viele Leute, die meine Arbeiten kennen, und das ist wohltuend, sogar Verleger, die behaupteten (aus Höflichkeit?), sie möchen sie gerne drucken. Bevor ich dahinter zu kommen versuche, muss ich den endgültigen // Bescheid von Luchterhand (Darmstadt-Berlin) abwarten. Der Lektor will, aber er muss sich noch mit der Geschäftsleitung einigen. –– Vor vierzehn Tagen war Höllerer, der Redaktor der „Akzente“ hier und sprach über sein Buch „Transit, Lyrikbuch der Jahrhundermitte“ (Suhrkamp 1956), wo ich auch mit einigen Stücken drin bin, vor einem grösseren Publikum in der Innenstadt. Er sagte, es gebe im Augenblick drei Lyriker von Bedeutung in Hamburg und nannte mich als ersten, was mich sehr rührte. Zu mir privat sagte er, er habe mit Snell zusammen angefangen, dem Stifterverband der deutschen Industrie ein Stipendium für mich zu entwinden: das tat er, ohne mich je gesehen zu haben. So etwas gibt es. Was daraus wird, steht dahin. – […]

Montag, 24 Dezember 1956       )

Von Paul Huber, 24.12.1956

Lieber Kuno,

[…]

Ich danke Dir herzlich für die Gedichte. In der relativen Musse der Ferienzeit habe ich mich an sie herangewagt. Die Seelenwanderung an den Abgrund vor dem Fudschijama habe ich ziemlich leicht mitvollzogen. Mehr Mühe bereiten mir immer noch jene Gedichte, in denen Du eine eben geschaute Wirklichkeit in Dich hineinnimmst und sie dort zum Sinnbild werden lässt. Es scheint mir, gerade jene Verse, bei denen dem Leser keine Auflösung der Chiffre weiterhilft, jene also, in denen er genau gleichgestimmt mit Dir schauen muss, seien die kostbaren. „Der tote Vogel“ wirkt auf mich dem gegenüber eher als in ein konstruiertes Bild verborgener Gedankengang. – Ein schlichtes, schönes Lyricum: „Tag + Nacht“. – Bemerkenswert, wie die römischen Reklamen ihre moderne Prägung sofort verlieren und in die Märchenheimat Deiner Blickwelt aufgenommen werden : Nicht in allen Gedichten vermag ich dem Bogen zu folgen, mit dem Du ein äusseres Bild Dir einverleibst, Dir oder Deiner Traumwelt, in der Bilder lautlos aufsteigen, sich vermengen, verschwinden, in der kein Wind weht, kein Schritt durch den Raum hallt: das absolut unbezogene Insichberuhen eines jeden Moments in dem Versrhythmus: Schwereloses Sein? Verdünntes Sein? Erlösende Gelassenheit? //

[…]

Freitag, 27 Dezember 1957       )

Von Paul Huber, 27.12.1957

Kirchberg, am 27. 12. 57.

Lieber Kuno,

Nimm meinen Dank für Deine Gedichte und meine herzlichen Segenswünsche zum neuen Jahr, ohne dass ich beides mit viel Worten zu Deinen Gedichten begleite. Was Du auf den Umschlagsklappen des Bändchens über Dichtung sagst, halte ich für überaus gut. Dass es mir nicht leicht gelingen will, den Zusammenhang des Vielen in Deinen Gedichten mitzuvollziehen, mag daran liegen, dass ich nicht an dem Punkt stehe, von dem aus alles sich dem Erleben öffnet. Dass für Dich dieser Zusammenhang besteht, bestätigt mir der sprachliche Eigenbezirk, den jedes Gedicht ganz eindeutig bildet. Ich muss die Existenz Deiner Gedichte anerkennen; aber ihr Lebensgesetz ist mir fremdartig. Es wäre mir wertvoll zu erfahren, was Du denkst über Esoterik und öffentliche Verpflichtung der Lyrik. Deine Gedichte sind ja nicht subjektive Stimmungslyrik. Sie schaffen eine kleine objektive Welt für sich. Liegt das Zentrum dieser Welten am selben Ort, wo das Zetrum des "wirklichen" Kosmos liegt, so dass sich der unpoetische Kosmos ins Gedicht hinein nehmen liesse und umgekehrt?

[…]

Mittwoch, 30 April 1958       )

An Thomas Räber, 30.4.1958

[…] vorgestern Vorlesung hier im Tukankreis: nachher, mit Ingeborg B. und andern, Heimito von Doderer bei uns. Er hatte spontan immer wieder geklatscht und mir, wider alles Erwarten, begeisterte Reden über die Gedichte gehalten. […]

Ich habe noch kaum je solche Zustimmung erlebt wie nach dieser Vorlesung – und noch nie solche Verrisse wie heute in der Presse. Aber der Redakteur des Feuilletons der Süddeutschen hat sich schon förmlich entschuldigt für seinen – völlig zugeschlossenen – Korrespondenten. Die Zeitung werde mir Genugtuung geben. – […]

Freitag, 16 November 1962       )

Von Hilde Claassen, 16.11.1962

Lieber Herr Raeber,

01 Haben Sie vielen Dank für Ihren Brief vom 12. November und für das Ms der GEDICHTE. Ich habe es mit großem Interesse und mit großer Freude gelesen und bin bereit, diese GEDICHTE noch unserer nächsten Produktion einzufügen, sodaß sie im Frühjahr 1963 erscheinen können.

02 Sie haben recht, einige der Gedichte waren mir bekannt durch Veröffentlichungen, so NEAPEL: PALAZZO REALE und PANTHEON. Ich war sehr beeindruckt, die Gedichte zu lesen resp. zu hören, denn auch diese Gedichte verlangen danach, laut gelesen und gehört zu werden, und erfreut, wie sehr die Gedichte an Ausdruckskraft noch gewonnen haben, am meisten erkennbar etwa in den großartigen Gedichten
UNTER DEM GITTER
ENGEL IM REGEN
LABBYRINTH
BIENEN.

03 Es ist im Grunde müßig, einzelne der Gedichte herauszuheben. Bei jedem neuen Lesen begegnet man wieder einer anderen, für Sie typischen Ausdrucksform.

04 Nur eine Frage: haben Sie womöglich aus der letzten Zeit, also aus 1962 – diese Gedichte haben mir den stärksten Eindruck hinterlassen – noch einige wenige, die man hinzunehmen könnte, sodaß auf diesen Gedichte<n> das stärkste Gewicht liegt? Ich würde mich herzlich darüber freuen. Es sind jetzt 51 Gedichte.

05 Ich glaube, die Form unserer kleinen Gedichtbände hatte Ihnen besonders gut gefallen. Ich möchte in dieser oder einer ähnlichen Form auch dieses neue Bändchen bringen.

06 Ihren Klappentext finde ich sehr gut.

07 Alles Weitere dann in der nächsten Zeit. Für heute herzliche Grüße und vielen Dank, daß Sie mir das Manuskript schickten.

Ihre
CLAASSEN VERLAG
G.M.B.H

Dr. Hilde Claassen

Samstag, 17 November 1962       )

An Hilde Claassen, 17.11.1962

München, Ainmillerstrasse 1, 17.11.1962

Sehr verehrte, liebe Frau Claassen,

recht vielen Dank für Ihren freundlichen Brief! Die Form ihrer kleinen Gedichtbände hat mir im Ganzen gefallen d.h. Schrift und Papier. Der Einband dürfte nach meiner Meinung etwas fester sein, ausserdem würde sich eine richtige Buchhülle gut machen, etwa so wie bei den Gedichtbänden der Kaschnitz. Dort finde ich auch das Format besser: Buchhändler haben mir bestätigt, dass grössere, etwas unübliche Formate leichter ankommen.

02 Titel: Vielleicht wäre AM STROMRAND noch besser als FLUSSUFER. Beide Titel rufen etwa dieselben Assoziationen hervor, aber AM STROMRAND ist etwas profilierter, klingt härter.

03 Ich lege Ihnen hier noch ein paar Gedichte aus diesem Jahr bei. Ich hatte sie absichtlich ausgeschieden, weil sie mir weniger gefielen; aber das eigene Urteil ist ja nicht immer das beste, man braucht lange Zeit, bis man zu den eigenen Produktionen das richtige Verhältnis hat. Übrigens, nach meiner Zählung habe ich Ihnen genau 50 Gedichte geschickt, woher kommt das einundfünfzigste, oder habe ich mich verzählt?

Mit herzlichen Grüssen
Ihr

Freitag, 23 November 1962       )

Von Hilde Claassen, 23.11.1962

Lieber Herr Raeber,

01 Für Ihren Brief vom 17. November vielen Dank. Auch für die Gedichte STRASSE, SOMMERBAUM, KIESEL, STRASSENBAHNWAGEN, SOMMER, die Sie dem Brief beifügten. Ich bin mir noch nicht ganz klar darüber, ob ich sie alle werde einfügen können, evtl. das eine oder andere der früheren dagegen austauschen. Was meinen Sie? Es wären im ganzen, wenn ich sie alle hinzunehme, jetzt 55 Gedichte. Es waren vorher 50, nicht 51 – es war ein längeres darunter, sodaß unser Hersteller beim Kalkulieren die Fortsetzungsseite als ein Extragedicht gerechnet hatte.

02 Ich finde es verständlich, daß Sie dem Gedichtband einen festeren Einband wünschen. Eine richtige Buchhülle allerdings halte ich nicht für angebracht. Bei den letzten Gedichten von Frau Kaschnitz DEIN SCHWEIGEN MEINE STIMME hatten wir eine Cellophanhüllte umgelegt, die sich aber in der Praxis als nicht sehr haltbar und vorteilhaft erwiesen hat. Ich denke, man sollte einen festen Umschlag mit einer guten Schriftlösung machen.

03 Zum Titel: "Flussufer" finde ich weit besser als "Stromrand". Die Bewegung, das Strömende ist bedeutend sinnfälliger in "Ufer" festgehalten als in "Rand"; bei "Rand" habe ich die Vorstellung von etwas Starrem, Totem und merkwürdigerweise Rundem, jedenfalls etwas nicht Strömendem.

04 Einen Vertrag über die Gedichte lasse ich aufsetzen. Falls er heute nicht rechtzeitig zum Postabgang fertig wird […], folgt er Anfang nächster Woche.

Mit herzlichen Grüssen
Ihre
CLAASSEN VERLAG
G.M.B.H

Dr. Hilde Claassen

Donnerstag, 20 Dezember 1962       )

Von Hilde Claassen, 20.12.1962

Lieber Herr Raeber,

01 Haben Sie Dank für Ihren Brief vom 14. Dez. 1962 und die zehn Gedichte, die ihm beigefügt waren. Ich habe mich gestern eingehend mit dem Manuskript beschäftigt und bin dabei zu folgender Überlegung gekommen: Es gibt unter allen Gedichten, also denen aus den Jahren 1960, 1961 und 1962, einige wenige, die ich wegzulassen vorschlagen möchte; einige wenige andere, bei denen ich ein Wort oder einen Satz fortlassen würde, weil ich glaube, sie werden dann viel ausdrucksvoller und einprägsamer – aber die letzte Entscheidung darüber haben selbstverständlich Sie.

Im einzelnen:

1960
02 ausgezeichnet: PALAZZO REALE und PANTHEON; FENSTER hingegen schlage ich vor wegzulassen. Dieses ganz kleine Gedicht müßte von einer äußersten Prägnanz sein, aber das ist es, soviel ich das sehe, nicht.

03 Das sehr schöne Gedicht GINSTER würde gewinnen, wenn die beiden letzten Zeilen wegbleiben könnten.

1961
03 ELEGIE schien mir bei der ersten, bei der zweiten wie auch bei der dritten Lesung zu peripher; ich schlage vor, es fortzulassen.

04 Das Gedicht VOGEL fände ich ausgezeichnet, wenn man am Schluß sagen könnte "taumelt traumlos und erinnert sich nicht an eine dieser Küsten, die klirrend kichern."

05 DIE HUPE schlage ich vor fortzulassen.

06 FÄHRE – hier würde ich den letzten Satz "und das Blech zerstückelt" fortlassen.

07 NOVEMBER ist ein sehr schönes Gedicht, aber es stört mich ein wenig "undefinierbares Pelzwerk". Ich verstehe, wie Sie dazu gekommen sind, aber dennoch würde ich ein anderes Adjektiv einsetzen, das dem 'zerschliessenen' in der vorhergehenden Zeile verwandter ist.

08 SEESTÜCK schlage ich vor fortzulassen.

09 KINDERZIMMER. Ich schlage vor, dieses Gedicht mit Zeile 13 "Brücke" enden zu lassen. //

1962
10 BÄUME schlage ich vor wegzulassen.

11 WENN DER SCHNEE SCHON. Die letzte Zeile schlage ich vor wegzulassen, weil sie dem Gedicht eine Wendung ins Sentimentale gibt, die ihm nicht gemäß ist.

12 TERRASSEN. Könnte man nicht in der letzten Zeile ein anderes Wort für "unverfroren" finden?

13 FLUGZEUG. Hier schlage ich vor, in der vorletzten Zeile "dir" fort zu lassen.

14 LASTSCHIFF
   SOMMER
      STRASSENBAHWAGEN
          SOMMERBAUMdiese vier Gedichte schlage ich vor wegzulassen.

15 Bei dem Gedicht WARTEN schlage ich vor, das Wort "daß" in der ersten, vierten und siebten Zeile wegzulassen.

16 PARK schlage ich vor fortzulassen.

17 Die Gedichte PROZESSION und GRAB wären möglicherweise auch fortzulassen – hier bin ich mir aber nicht sicher, und ich erwarte Ihre Entscheidung.

18 MISE EN TOMBEAU würde ich raten, wegzulassen, ebenso SCHLACHTEN: LEOPOLDSTRAßE.

19 Bei dem Gedicht STEINBRUCH würde ich raten, in der 2. Zeile anstelle von "zutiefst" "tief" zu sagen.

- - -

20 Dieses sollen, wie ich schon sagte, Vorschläge sein. Bitte lassen Sie mich Ihre Ansicht wissen. Ich bin natürlich etwas im Zeitdruck, weil das Manuskript bald in Satz gegeben werden sollte. Ihr Klappentext kommt, wie wir das schon vereinbart haben, vorne als eine Art Vorwort; als Titel würde ich FLUSSUFER lassen. –

[…]

Mit herzlichen Grüßen und allen guten
Wünschen,
Ihre
CLAASSEN VERLAG
G.M.B.H.

Dr. Hilde Claassen.

Montag, 21 März 1966       )

An Markus Kutter, 21.3.1966

8 München 13, Ainmillerstr. 1, / 21.  3. 1966

Lieber Markus,

01 wieder einmal sitze ich in der Klemme und bitte Dich um Hilfe: der Bayerische Rundfunk schuldet mir augenblicklich 720 DM, die sich innerhalb der nächsten vier Wochen, wenn ich nämlich die laufenden Aufträge abgeliefert habe, auf über 1000 DM vermehren werden. Da er aber keine einzige von diesen Sendungen, sie liegen zum Teil schon mehr als zwei Monate da, vor Ablauf des Monats produzieren will oder kann (obwohl ich mehrmals um schnelle Sendung gebeten habe), weiss ich nicht, wie ich die Miete, das Telefon, die laufenden Kosten überhaupt bis zum Stichtag des 28. hereinbringen und der Bank geben soll. Diese hat mich bereits gemahnt, wollte mir auch schon diesen // Monat das Telefon sperren lassen, was ich dann noch im letzten Moment abwenden konnte. Um einen Kollaps auf Märzende zu vermeiden, wäre ein Wunder nötig. In den Bereich des Wunders würde es bereits gehören, wenn einer der drei Sender, bei denen seit Wochen mein zweites Hörspiel liegt, positiv reagieren und das Annahmehonorar noch diese Woche telegrafisch überweisen würde. [...]

02 Auf jeden Fall, trotz der Pein der Armut, geht es mir recht passabel. Soweit mir der ge//frässige Rundfunk Zeit lässt, schreibe ich mit Leidenschaft Prosa und bin auch so anmassend, zu denken, es werde jetzt endlich etwas dabei herauskommen, was über blosse Ansätze hinausgeht. Meine Gedichte aus dem Jahre 65 sind schon hier und da erschienen. Werner Weber hat sogar, hoffentlich hat Antoinette es gesehen, fünf von den neun Hasengedichten gedruckt. Ich erfuhr es durch Zufall. Vielleicht bequemt sich die NZZ einmal noch, mir ein Belegexemplar oder sogar ein Honorar zu schicken, wer weiss.

[…]

Samstag, 28 Mai 1983       )

An Franz Josef Görtz, 28.5.1983 (FAZ)

Kuno Raeber
Ainmillerstrasse 1
8000 München 40
28.5.1983

Sehr geehrter Herr Görtz,

01 es freut mich ebenso sehr, dass Sie meine Gedichte mit "grossem Interesse" gelesen haben, wie es mich betrübt, Sie mit keinem einzigen davon in dem Masse, das einen Abdruck in der FAZ rechtfertigen würde, überzeugt zu haben. Ich hoffe, Sie empfinden es nicht als allzu grosse Belästigung, wenn ich Ihnen noch einige weitere Stücke aus dem Manuskript unterbreite: vielleicht findet sich doch noch das eine oder andere dabei, das Ihren Ansprüchen genügt.

02 Ich glaube, es ist angebracht, dass ich Ihnen meine vielleicht befremdliche Hartnäckigkeit kurz erkläre: Die FAZ ist nun einmal das für die literarischen Entwicklungen im deutschen Sprachraum repräsentative Organ. Kein Autor, der Anspruch darauf erhebt, von den Zeitgenossen zur Kenntnis genommen zu werden, kommt um diese Tatsache herum. Wenn ich Ihnen also immer wieder Muster aus meinen neuen Arbeiten zuschicke und mich in dieser Übung auch durch regelmässige Ablehnung nicht beirren lasse, hat das seinen Grund einfach in meiner Meinung von der Bedeutung Ihres Feu<i>lletons und natürlich auch – das bitte ich Sie, mir nachzusehen – in meiner Meinung vom Wert meiner Arbeit.

Mit freundlichen Grüssen

Sonntag, 10 Juli 1983       )

An Hans Altenhein, 10.7.1983 (Luchterhand)

Lieber Herr Altenhein,

01 eben stosse ich, meine Verlagsangelegenheiten bedenkend, auf zwei Briefe, die ich 1980 erhielt. Den ersten, vom 4. Februar, schrieb Thomas Scheuffelen: er äussert sein Bedauern darüber, dass ich den Gedichtband REDUKTIONEN nicht Luchterhand überliess. Den zweiten, vom 20. Mai, schrieben Sie – es ging da hauptsächlich um die Rechte über ALEXIUS UNTER DER TREPPE – zum Schluss reden Sie von Ihrer Hoffnung auf ein gelegentliches Gespräch, "und sei es über Enttäuschungen".

02 Nun, an solchen fehlt es insofern nicht, als meine Landung bei Ullstein, nach mancherlei Irrfahrten, sich noch vor der Realisierung des ersten Projekts als halbe Bruchlandung erwies. Man überschüttete mich zwar mit Geld, warf aber das bereits ausgedruckte EI unmittelbar vor dem Erscheinen hinaus. Das Buch floh dann mit Erb zu Erb und machte seinen Weg, gewann schon vor der Publikation einen Preis, erfuhr in der Presse viele Würdigungen, teils kritisch zustimmende, teils enthusiastische. Nur ein Kritiker lehnte es schroff ab. Soeben noch hat das Schweizer Fernsehen einen Filmbericht darüber gedreht.

03 Aber jetzt stehe ich wieder da und weiss nicht weiter. Nicht nur, dass Erb die Publikation von zwei Arbeiten, die seit Jahren bei ihm teils schon unter Vertrag stehen (Essays), teils als zu veröffentlichende von ihm akzeptiert wurden (das Theaterstück VOR ANKER) noch nicht herausgebracht hat, jetzt erklärt er sich auch ausserstande den Band ABGEWANDT ZUGEWANDT zu publizieren, dessen Veröffentlichung für dieses Jahr 1983 er anlässlich meines sechzigsten Geburtstags vor über hundert Zuhörern feierlich versprochen hatte. Er begründet dies mit seiner finanziellen Not, meint tröstend "Aufgeschoben ist nicht aufgehoben". Bei allem Verständnis für seine Lage kann ich doch die Augen vor der Kalamität meiner eigenen nicht verschliessen: Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG widmete, ein einmaliger Vorgang, ABGEWANDT ZUGEWANDT zwei ganze Seiten, um dem Buch bei seinem Erscheinen die gebührende Aufmerksamkeit zu sichern; aber dann musste, da der Verlag kein Datum nennen wollte, // der Hinweis auf Verlag und Erscheinungstermin gestrichen werden. Praktisch bin ich also wieder einmal ohne Verlag, und das in einem Augenblick, in dem meine Arbeit mehr Beachtung findet als jemals, sie fände zweifellos noch mehr, wenn ich einen Verlag hätte, der sich darum kümmerte, der vor allem meine neuene Bücher, wahrhaftig nicht viele, in nicht allzu grossen Abständen präsentieren könnte. Man sagt mir jetzt öfter, ich solle mich doch, auch angesichts der Thematik von ABGEWANDT ZUGEWANDT, an einen Schweizer Verlag wenden. Aber abgesehen davon, dass ich nicht weiss, ob mir das gelänge, bin ich nur mit Massen daran interessiert: Dass das Buch, soweit es nicht einfach ein Lyrikband ist, von einer Problematik handelt, die zu einem wesentlichen Teil, nicht ausschliesslich, schweizerisch ist, scheint mir kein Grund dafür, es ausgerechnet dort zu veröffentlichen. Ausserdem habe ich genug Verlage gehabt, Vineta, Luchterhand, Claassen, Biederstein, nochmals Luchterhand, Ullstein, Erb – es reicht mir vollauf. Ich schicke Ihnen den Vorabdruck aus der NZZ, vielleicht besteht bei Luchterhand Interesse für das Manuskript – viele Leserbriefe, selbst aus Frankreich und einer sogar aus der Türkei, haben mir gezeigt, dass es Leute gibt, die auf das Buch warten.

Mit freundlichen Grüssen
Ihr

Dienstag, 26 Juli 1983       )

Von Hans Altenhein, 26.7.1983 (Luchterhand)

Lieber Herr Raeber,

01 zwischen dem schweizer Landessprachenproblem (auf das ich natürlich immer wieder stosse), den Anrufungen der See und vieler Städte (in der Tat steht "Frankfurt" für sich), und den mir unzugänglichen alemannischen Gedichten hin und her gehend, komme ich zu keinem Konzept eines Buches. Das ist natürlich kein ästhetisches Urteil. Vielmehr sind mir viele Ihrer Gedichte "einleuchtend", von melancholischer Unmittelbarkeit. Nur – das hilft mir und damit Ihnen nicht weiter. Ich muß leider absagen. Ich hoffe, Sie nehmen das mit bitterer Gelassenheit hin, und grüße Sie als

Ihr Hans Altenhein

Montag, 24 Oktober 1983       )

Von Lenos Verlag, 24.10.1983

Sehr geehrter Herr Raeber

mit separater Post sende ich Ihnen Ihr Manuskript "Abgewandt zugewandt" wieder zurück, da eine Publikation in unserem Verlag nicht in Frage kommt. Ich möchte Ihnen diese Ablehnung noch kurz begründen:

  • Lyrik verlegen wir an sich nur noch von unseren Hausautoren (dort im Rahmen des Gesamtwerkes), da es in der Schweiz kaum noch möglich scheint, ein interessiertes Publikum zu finden.
  • Ihre Dialektgedichte sind für uns Basler nur sehr schwer verständlich, da unsere Schnuure einfach anders als die Luzerner Schnörre ist. Deshalb sind die Gedichte sehr mühsam zu lesen.
  • Inhaltlich konnte ich mich mit Ihren Gedichten nicht anfreunden. Sie waren mir zu platt, oberflächlich: Tiefe erreicht man m.E. nicht durch Wortwahl, sondern durch Thematisierung.
[…]
Donnerstag, 11 August 1983       )

Von Zytglogge Verlag, 11.8.1983

[…]

Leider konnten wir uns nicht für die Veröffentlichung Ihres Manuskripts entschliessen. Zwar waren wir uns alle über die sprachliche und formale Qualität Ihrer Texte einig, sie blieb unbestritten; dennoch gab es Gründe zur Ablehnung: […] Vielmehr plagt uns das mangelnde Interesse des Lesers an der Lyrik überhaupt. Es reicht selten über den Freundes- und Bekanntenkreis eine Autors hinaus. Natürlich wäre es eine verlegerische Tat, wider diese Interesselosigkeit zu kämpfen, aber dazu ist unser Verlag zu klein. So müssen wir uns damit bescheiden, nur von Zeit zu Zeit einen Stein zu werfen. Jedenfalls wird es uns nicht möglich sein, in die nächsten zwei Programme einen Lyrikband aufzunehmen.

02 Wie ich mir wünsche, dass Sie für Ihre Gedichte einen Verleger finden, würde es mir Mühe bereiten, Ihr ausgezeichnet formuliertes Nachwort über das schweizerische Sprachdilemma zu empfehlen. Zu Ihren Aussagen könnte ich (und auch der Verlag) nicht oder nur mit grossen Vorbehalten stehen. So einfach lässt sich das Sprachdilemma – wenn es überhaupt eines ist – nicht mit einem Minderwertigkeitskomplex der Schweizer verbinden. Diese etwas einseitige und vielleicht fast bösartige Sicht hat wohl eher oder sogar viel mit ihrer "Isolation" in München zu tun. Anders kann ich mir die Aussparung wichtiger Tatsachen in Ihrer Arbeit nicht erklären. Einige Stichworte:

  • noch nie, auch nicht vor dem ersten Weltkrieg, wurden Deutschschweizer mit Zeitungen, Zeitschriften und Publikationen aus Deutschland derart überflutet wie in dieser Zeit. Das wäre nicht der Fall, wenn die Druckerzeugnisse nicht auch gelesen würden.
  • noch nie waren Deutschschweizer so vielen Informationen in deutscher Sprache durch Funk und Fernsehen ausgesetzt wie in dieser Zeit. […]
  • noch nie haben Kinder in der Schweiz (als Konsumenten eben dieser Medien) so hemmungslos und gut deutsch gesprochen.
  • während die Akademiker im deutschen Sprachgebiet sich vor dem Zweiten Weltkrieg ohne weiteres mit deutscher Fachliteratur durchs Studium bringen konnten, ist das in der heutigen Zeit für die meisten Studienrichtungen völlig undenkbar. Im Gegenteil, der moderne Akademiker braucht für seine Karriere und als berufliche Notwendigkeit einen Aufenthalt im englischen Sprachraum, wo er übrigens häufig und zugleich den lebenslangen Gefallen an der angelsächsischen Literatur findet. […]
    Für beide, Akademiker und Wirschaftskadermann, verliert das Deutsche seine zwingende Bedeutung und im Falle der Schweizer reduziert es sich sogar zur Beiläufigkeit. Exakt zu dieser Beiläufigkeit erhebt es sich aber beim zeitschriften- und fernsehhungrigen "Normal-Deutschschweizer", der noch vor dreissig Jahren sein Schuldeutsch auf ein paar Briefe und die regionale Zeitungslektüre verkümmern liess. Die Schriftsteller fallen als mehr oder weniger unveränderliche Konstante aus der Gleichung.
    Weil also der Intellektuelle die Rolle des Sprachträgers und -förderers kaum mehr wahrnehmen muss und der grosse Rest die deutsche Sprache nur konsumiert, hat sich das Verhältnis zu ihr von einer umfassenden Respekthaltung zum notwendig Beiläufigen verschoben.
    Diese Entwicklung kam selbstverständlich dem Dialekt zugute. Ihm musste sich, beinahe folgerichtig, ein nicht unbedeutender kultureller Raum öffnen. Einmal aufgefüllt besteht allerdings keine Gefahr, dass er sich ausweiten wird. Das zeigt sich jetzt schon.
    Aufgrund realistischer Feststellungen habe ich hier eine unvollständige Komponente skizziert, die, wie immer auch kritisch berücksichtigt, in Ihrem Nachwort fehlt. Diese Lücke in Ihrem Text empfinde ich als Mangel.
  • Schliesslich entbehrt Ihr Vorschlag, schweizerdeutsche Amtssprachen zu verwenden, der Logik. Sie schieben das Sprachdilemma lediglich auf eine andere Ebene. Wie könnte ein Innerschweizer sich entkrampfen, wenn er in einer späteren Phase beispielsweise das Baseldiitsch als Amtssprache akzeptieren müsste?

[…]

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