Notizbuch 1957-58

Inhalt: 39 Entwürfe zu 39 Gedichten, 1 Dramenkonzept (1 Endfassung), Motiv-Notizen
Datierung: 8.4.1957 – 14.6.1958
Textträger: Hellbraunes Notizbuch, Bleistift
Umfang: 130 beschriebene Seiten
Publikation: GEDICHTE (12 Gedichte), Verstreutes (3)
Signatur: A-5-d/01 (Schachtel 29)

Bilder: Ganzes Buch (pdf)
Spätere Stufen: Manuskripte 1957, 1958, Typoskripte 1957, 1958
Kommentar: ab S. 124 Motiv-Notizen
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften (ohne die Motive)

Montag, 08 April 1957       )

Der Frosch

„Nicht dass ihr glaubt, ich ertrage
nicht, was meine Mutter erlitten,
ich brächte, der ich alles leiste,
dies nicht zustande:
05 einen Knaben zu gebären und ihm das Geheimnis
meiner Macht, meines Ruhmes zu lassen.
Nur ihm, nur ihm will ich kundtun,
warum es dem einfältigen Grosshans gelang,
die Hunde vor meinem Thron zum Singen zu bringen,
10 und die steinernen Bilder im Garten,
auf den Zinnen des Hauses zum Lachen. // 004
Ihm will ich es sagen,
im innern Gespräch, das ich mit ihm
führe geheim vor seiner Geburt.
15 Denn nur in diesem Tragen,
nur in diesem Schmerz entsteht die notwendige Einung, 
daraus der Erbe wird meines ewigen Reiches.
Das stets nur ein Gott wie ich selber beherrsche.“
Spricht der Kaiser
20 und bricht in das von den Ärzten
bereitgehaltene Goldtuch den Frosch
mit vielem Gekotze und Blut,
sodass sich die Diener die Nase zuhalten. // 005
„So aus Kot wächst die Schönheit,
25 abgerungen dem Widerstand des Gemeinen¿,
der Gott steht am Ende“,
stöhnt der Kaiser,
indes man den Frosch, in Prozession
bringt in die vorbereitete Kammer an der äusseren Mauer.
30 Damit er dort wachse hinterm goldenen Gitter,
empfange die Huldigung des aus- und einziehenden Volkes.
Aber am Tag, wo man den Kaiser fand im Schwert seines Sklaven,
feiste, blutige Qualle am Boden, // 006
verbrennen mit Reisig die Knaben der Vorstadt den Frosch,
35 der durch die Stäbe des Gitters
entkommen war,
verbrannten ihn, aus Furcht, den Erben des ewigen göttlichen Reiches.

Samstag, 13 April 1957       )

Das Grab

„Ich habe das Grabmal,
da man mir von Duft und von Lichtern
des Nachts öfters erzählt
– Staune – geöffnet
05 und fand sie daliegen die Schwester.
Und sie liess mir, – staune –
den Ring ihres Fingers,
lächelnd,
sodass ich ein Glänzen
10 wahrnahm in ihrem Mund,
ein Glänzen sah unter den Lidern,
ein Glänzen im Ohr, in den Löchern der Nase.
Und ich war gesund.“ // 008
„Wisse, das war das Gold,
15 das ihr der Kaiser gegeben, 
zum ewigen Leben im Grab,
das hält ihr der Seele letztes
Gefolge zurück,
das nun im Leibe irrt und nicht
20 die gesperrten Tore durchdringt,
immer aber hinauswill
und so aus dem Leichnam
den Lebendigen lächelt.“
„Irren will ich nicht mehr
25 und bleiben an der Schwelle des Grabes,
der Schwester leichten Schlummer nächtens betrachten, // 009
die ungeduldig flügelnden Falter befragen, 
an ihren Türen.“

Mittwoch, 17 April 1957       )

Zu einem Drama

Zu einem Drama, Situationen

1) A. fährt in die Vorstadt, findet den verlorengegangenen Freund, am Eingang zu einem (alten) Grabmal. Erhält nur unbestimmte Auskunft. Erzählung, undeutlich, von einem Mädchen, das er verfolgt habe, das hier verschwunden sei.

2) Sie finden es unten in der Gruft im Gespräch mit dem zur Schau gestellten (im Glassarg) Leichnam: Parallelgespräch // 010 der, unbemerkten, Freunde.

3) Die zwei führen die verwirrte Frau in ein Lokal. (A. hatte B. um seine Anwesenheit gebeten, er fürchtet sich.) C. tritt dazu. Er vertritt den Leichnam, sucht von der Nutzlosigkeit, Unmöglichkeit von Beziehungen zu überzeugen. Das Mädchen (die Frau) und A. fasziniert. B. gerät in den Vordergrund.

4) B. besucht die Frau (trifft sie): seine Lebendigkeit (Primitivität) gefährdet ihre Abstraktheit.

5) C., hypochondrisch, vollkommen leibgierig, erhält A.s Einverständnis, B. zu töten (die verschiedenen Motive!) Ebenso die Frau. // 011

6) Das geschieht aber nicht. C. schreckt vor sich selbst zurück. Oder: wird von B. entdeckt, die Polizei führt ihn ab. Er verzweifelt, weil es ihm nicht gelingt, sich durchzuführen ....

A flieht, unternimmt eine Weltreise, begeht Selbstmord, tritt in eine Armee ein. Wird von dem Paar als klein, unbedeutend, schwankend, als Versager zurückgelassen.


Szenario für „Das Grab“, Fortsetzung:

Zu 2) Nur das Parallelgespräch der Freunde ist ganz zu hören. Das Gespräch der Frau mit dem Leichnam nur halb. Den Part des Leichnams muss man aus den Reden und Reaktionen // 012 der Frau erraten.

Zu 3): C. vertritt den Leichnam so weit, dass er dessen Part aus der vorigen Szene, den der Zuschauer bisher nur in Andeutungen kannte, nur ahnt, nun explizit bringt, als eigenen spricht. Der Schrecken und das Grauen, die Erschütterung der Frau ohne Grenzen.

Zu 4) B., im Gegensatz zu A., ganz ungerührt: für ihn die Geschichte um den Leichnam und C. Mystizismus. Dadurch die Frau für einen Augenblick fasziniert, überwältigt, fällt ihm für eine Stunde anheim. // 013

Zu 5) C. fordert die Tötung B.s aus Leidenschaft zum Geist, aus Hass gegen das Sinnlich-Seelische, gegen das „Fleisch“. Erringt so A.s Einverständnis, obwohl der B. liebt. Ebenso das der Frau: Ihre Gewissensbisse wegen des Vorhergegangenen bewegen sie dazu.

zu 6) A. schwenkt wieder um, verrät den Plan (wie?) an die Polizei (?), an B. (?). C. triumphiert noch im Scheitern seines Plans. A. bleibt zurück, zerfleischt sich selbst, verachtet sich selbst. Er ist das Grab, der Leichnam verwest in ihm.

Freitag, 03 Mai 1957       )

Der Tod in Blumen

Der Wind reisst,
trägt endlich die Blüten,
die schon ins Faulige duften,
zur Seite; da liegt der von Düften
05 erstickte Schläfer
weiss, hinein auf der Woge
der Düfte geglitten
in die Mitte des Wirbels,
wo die Sonne dem Saurier
10 nie mehr in die Brust stürzt,
sodass er in Lämmer gesänftigt
über den Himmel sich (ver)streut. // 015
Phantom,
blau, grau, golden,
15 gedreht, golden,
grau blau: Phantom,
im Wirbel gedreht,
verzehrt, Stille inmitten:
Und der Wind trägt die Blüten,
20 die Blätter, die schwer
ins Faulige duften
zur Seite
und Staub von der Strasse
in Ohren und Nüstern und in den halb
25 geöffneten Mund:
Ihm steht still das Phantom, schwarz, // 016
mitten im Wirbel.

Dienstag, 21 Mai 1957       )

Die Heilung

Nicht küssen lässt sich der Engel die Füsse:
Er nimmt diese Absicht
hin mit Nachsicht und Lächeln:
Glaubst du, dass ich,
05 weil ich im Buschhemd und zerrissnen
Farmerhosen da bin im Park,
gelehnt an den Abfallkorb,
eine Banane angegessen
und neckisch hinterm Rücken versteckt, // 017
10 glaubst du, dass ich
deswegen berührbarer wäre
als andere Engel?
Der Geheimrat wusste es wohl,
als er ihn von weitem sah
15 von seiner weissen Bank aus,
wie er weit hinten stand inmitten
der Kinder und der
scheltenden Mütter,
er wusste es wohl,
20 dass dieser gekommen war
in den gleichgültigen Sonntag,
ihm seine Heilung zu sagen. // 018
Gewiss war es ihm dann,
als die Sonne fester den Nebel umnahm
25 und die Kinder entglitten,
schnell: da blieb er
drüben zwischen den schweren
Todkastanien stehn,
den duftenden, obwohl es
30 schon anfing zu rieseln
und selbst das stupsnasige Mädchen,
das verlegen zwischen den Bänken
auf- und abging,
sein Rad nahm und wegfuhr –
35 er hatte, um den Duft von schlechter
Seife und Parfüm zu vermeiden, // 019
die Bank schon dreimal gewechselt –
Dem Geheimrat lächelte er,
bot ihm ein Stück der Banane.
40 Aber die Füsse, nein,
die liess er nicht küssen,
obwohl der Geheimrat,
schon den Stock auf den Boden
gelegt hatte und sich
45 anschickte zu knien,
ungeachtet dass so der schwarze
Sonntagsmantel in den Kies
in den Sand sank:
Er hob ihn auf und steckte // 020
50 ihm in den Mund
den ganzen Rest der Banane.
Es regnete schon sehr stark.

Samstag, 25 Mai 1957       )

Das Atelier oder das Himmlische Jerusalem

Der Meister sitzt vorn in der Nische
ermüdet und isst schnell ein
belegtes Brot zu einem Glas kalter
Milch. Die Scheinwerfer
05 versperren mit grellen
Balken die Nische
vor den Blicken des Chors, // 021
der sein Lied, aus der Nische
vom Dirigenten belauscht,
10 auch jetzt in der Pause, noch übt.
Ein schwarzer Vorhang verschliesst
den Ausgang ins Gelände
der sonst verfallenen Filmstadt,
wo Frauen und Kinder Kulissenreste aufsammeln.

15 Verspätet kommt noch der eine
und andre Statist an den Vorhang.
Dort hält ihn die eine der Wachen an,
leuchtet mit ihrer Lampe in seinen Ausweis,
indes die andre weiter hin und her patroulliert, // 022
20 in die Ödnis leuchtet, die freilich
das wenige Licht in ihre Löcher schnell einschluckt,
und nie über die von weissen
Pflastersteinen gezogne Linie hinausgeht.
Die hohen Augengestelle¿
25 fahren plötzlich heran.
Die Scheinwerfer werfen
die Balken den Choristen ins Aug,
die sich schnell beugen und gleich
zu schwitzen beginnen.
30 Der Meister steht auf, indes er,
schon die eine Hand hebend,
sein Trikot mit der anderen straff zieht.

Montag, 27 Mai 1957       )

Das Glashaus

Nur dazu öffnen die Diener mein Glashaus,
zuweilen, damit sie
mich tragen sehr schnell hinauf in die Luft,
sodass mich beim Aufstieg oft die Zweige der Wipfel
05 schmerzhaft peitschen
und mir dann die Sinne taumeln,
fürchtend, ich falle gleich hinab in die Öllache
auf dem Boden vor der grossen Tankstelle.
Dort hupt man, dort ruft man
10 und hört nicht den Zank,
den die Nachbarsengel entfachen // 024
mit meinen Engeln
sodass sie mich fast fallen lassen,
Hinab und hinauf taumle ich so
15 hoch oben und schwitze an Hände und Füsse.
Aber drinnen im Glashaus nützt es mir wenig,
dass ich die Hand ausstrecke, um einen,
der draussen vorbeigeht, zu grüssen:
ich zerschlage die Wand zwar,
20 aber die Scherben werfe ich ihm zugleich ins Gesicht,
er läuft schleunig und grusslos
weg und wischt sich mit dem
Taschentuch das Blut von der Stirn.
Ich darf nur ganz vorsichtig
25 ein anderes Mal, die Hand ein wenig // 025
heben, wenn jemand mich grüsst,
darf nie die Scheibe vergessen.

Donnerstag, 30 Mai 1957       )

Der Fischteich

Es genügt, dass ein Auto beim Parken
einem andern in die Stossstange fährt
und sie verbeult,
die Dame und zwei ältere Herren,
05 den einen mit Halbglatze,
auf der Terrasse von ihrem Eis
aufschiessen zu lassen // 026
Und das kleine Mädchen
im Schottenrock auf den Stuhl steigen
10 und alle ihre Gesichter nach dem Ort
des Missgeschicks richten zu lassen:
Neugier genügt.
Es genügt, dass die Sonne
sich einen Augenblick hinter Wolken zurückzieht,
15 damit sie alle, als hätte man es ihnen also verwiesen,
sich wieder setzen und sich ganz auf ihr Eis konzentrieren,
es genügt,
auch für das Mädchen im Schottenrock,
damit es wieder vom Stuhl steigt:
20 Ein Tadel genügt. // 027
Es genügt, dass die Fliegen
hin- und her durch die Luft
schwärmen, damit wieder offen
der Teich liegt mit dem immer unmerklich erneuerten Wasser,
25 damit die unberührbaren Fische,
die dem Helios heilig sind, schwimmen.
Mehr als alles, Erinnerung, das genügt.

Samstag, 01 Juni 1957       )

An Hermes

Totenführer,
du wirfst aus den wachsenden Flügel,
bevor du im grauen Pullover
die blonde Uhrwerkpuppe
05 anhältst und in deinem Wagen
mitnimmst. Hier bist du
für einen Augenblick nochmals
entführender Bote.
Doch das Ticken des Uhrwerks
10 hält den Sturz eben noch auf:
Jetzt geht man ins Kino // 029
weg von dem Mund, der von Durst
ausgedörrt, wenn du fährst,
überall wartet, offen,
15 überall offen. Doch dann tickt
blonder, immer blonder das Uhrwerk.

Donnerstag, 20 Juni 1957       )

Der Fisch

Die Fischhändlerin leert den Eimer auf die Strasse: Es fällt nicht ins Gewicht gegen den glühenden Asphalt
und ist schon, bevor es die Strasse begriff, nicht mehr da und verdunstet.

Seit ich einmal, herumfahrend in meinem
Wasser, durch meine Kiemen dies stille,
dies kühle, dies flüssige treibend und ziehend,
Betrachtung des namenlosen, darin ich 
05 still lebe, das mich dahinträgt.

Seit ich einmal hinauf stiess, gelockt
von einer Stelle höheren Glanzes und grösserer Wärme:

von dort, hiess es, war
irgendwoher einmal der Meteor,
10 der Fremdstein, die fremde Koralle // 031
herabgekommen und hatte von den unsern viele getötet.
Nun liegt sie da, in den Augen Seesterne,
auf der Brust Polypen:
Bild eines Hochfischs. Wie verzehrt uns
15 Begier, ihm ähnlich zu werden. …

Seit ich einmal hinaufstiess in die Richtung,
wo höherer Glanz und grössere Wärme
mir den Ort des Eintritts verhiessen:
fürchte ich mich:
20 denn ich stiess in die Leere. Was
uns alle umgibt,
die kühle, die flüssige namenlose Betrachung // 032
war nicht mehr da:
Nichts war da und eine unerbittliche Hitze.
25 Mir stockte die Bewegung der Kiemen.
Die Flossen fanden nicht mehr das Allgemeine,
dagegen zu fächeln.
Es war das Ende der Welt.

Kam der Hochfisch herab von dort?
30 Gehn wir dahin und verlieren 
Kiemen und Flossen?
Durch wieviele Tode?

Nun aber sinkt ein anderer Hochfisch herab,
weich und faulend, auf den weissen, harten: // 033
35 Sind wir nur noch letzte Söhne des Hochfischs,
eine Abart, die sich erhielt,
weil es dort, jenseits, im Leeren, 
zu leben unmöglich?

Der Hochfisch war, vielleicht, nur eine Übertreibung.
40 Hier muss man bleiben in der blauen, kühlen Betrachtung
und die durch Wärme und Glanz verdächtigen Stellen vermeiden.
Aber ich wohne ab morgen in dem einen noch leeren
Ohr des harten, in der Welt nun schon heimischen Hochfischs: // 034
Dort ist die Erinnerung an das, was zu erforschen ich aufgab,
45 eben erträglich und rund 
umfängt mich die Mahnung vor aller
Ausschweifung:
Und täglich sag ich mir zehnmal, am besten
nachmittags, vor:
50 Nichts gibt es, nichts gibt es ausser hier.
Dort draussen lebt niemand, dort ist nur die Leere.

Freitag, 21 Juni 1957       )

Der Biertrinker

Vielleicht könnte man zweifeln,
als Leser von Büchern,
am Sinn des Daseins für einen Menschen,
der nur mit seiner Frau, die die Haare rot färbt,
05 und dem sommersprossigen Söhnchen,
das ein Haus aus Biertellern baut,
den Mund von Erdbeereis ganz überschmiert,
friedlich sein Bier trinkt:

wenn nicht zuweilen eine Bewegung
10 seiner Schulter erinnerte an die Bewegung, mit der
der Sohn der Sonne auf Emesas Mau- // 036
er den Purpur um sich warf:
als die Soldaten[,] den Gott jubelnd erkannten.
Wenn nicht zuweilen ein Glanz im Winkel des Augs
15 und ein Zucken im Winkel des Munds
gleich wäre dem Zucken, dem Glanz im Auge des Cäsars,
als er am Fenster in Lutetia erstmals den Ruf hörte:
Augustus! –

Vielleicht könnte man zweifeln als Leser von Büchern.
20 Aber das Lächeln des einen Kinds für das Eis,
sein Jubel über das Haus // 037
aus Biertellern ist ja der Ruf
der Jubel der Legionen für Spenden.
Das Lächeln der Frau ist das Lächeln der neu erhöhten Augusta.
25 Die Schaumkrone des Biers ist der goldene Lorbeer: 

Da gibts keinen Zweifel,
man sei denn durch Bücher verdorben

Nachtrag:
Der Biergarten unter dem Tor (der Mauer) von Emesa (und auf der Place Dauphine): Der Biertrinker ist der Cäsar, der eine wie der andere. In seiner Bewegung kommt seine tiefere, ältere Identität zum Vorschein.

Samstag, 22 Juni 1957       )

Fontana tiburtina

Wasservorhang fällt
zu deinen Füssen, Neptunus,
und verbirgt den Flüchtling im Felsgang.
Deinen Vorhang erbittet der Flüchtling,
05 Neptunus,
zunächst den Kammern,
wo die Pumpen ihn wirken.

In der Nacht dann
irrt nackt der Flüchtling, Neptunus,
10 lauscht nach dem Ächzen der Pumpen. // 039
Du hast vergessen, betrachtest
das ruhige Becken, Neptunus:
müde zu wirken, befiehlst
Ruhe den Pumpen.

15 Meinst du, der Flüchtling betrachte
wie du das ruhige Becken?:
ihn erschrecken die Fische, wenn sie
ihm tückisch nahn aus dem Grund.
Ihn bedroht dein ruhender Dreizack.
20 Bewege wieder die Pumpen,
verbirg den Flüchtling im Vorhang,
störe die Stille, Neptunus. // 040
Nimm weg den nahenden Goldfisch,
das Segelschiffchen,
25 das der Knabe vergass, die Stille
bläht sie und treibt sie. Bewege
die Pumpen und wirke den Wasservorhang, Neptunus.

Montag, 15 Juli 1957       )

Die Staubwolke

Ist diese Wolke, die dort am Horizont herauf stiebt,
der dunkle mächtige Pilz, der wächst,
ist er das Heer des mächtigen persischen Königs?
Wenn die Lanzenträger heranstöben,
05 wären sie freilich enttäuscht,
denn sie fänden nicht den Kaiser hier im Purpurzelt,
sondern nur mich, einen durstigen und lang nicht mehr gewaschenen
Reisenden, von dem sich der Genius, mit bang verhülltem Gesicht // 042
schon gar nicht mehr wegzuwenden brauchte
10 (o, ein Genius verhüllt und wendet sich nur in purpurnen Zelten):
Und blitzte auch eine Lanze hervor aus der Wolke,
sie träfe einen rostigen Kühler: das löste
die Disziplin des Heeres schnell auf,
und die Reiter sammelten sich schnell um den Wagen:
15 die Marke, das Alter die Zahl der Pferdekräfte zu erfahren.
Kein Genius wandte sich weg, aber die Luft entwich schon lang aus den Reifen<.>
Aber vielleicht schiesst niemand mehr eine Lanze,
vielleicht haben die alle schon neuere Wagen gesehen
und reiten weiter und treiben nur Herden, // 043
20 beachten mich gar nicht.
Gerade noch übrig ist die Wolke, die eine Menge von Reitern
aufwirft, gerade noch übrig,
und die Wüste und die Angst und der Durst des Reisenden
für eine Weile. Das purpurne Zelt,
25 der traurige Genius, das Heer der Perser und die tückische Lanze,
das steht bereits nur noch in Büchern.
Und die stehn in meinem Hirn, und das glüht in der Hitze.
Aber ich will jetzt wissen, was bringt wohl die Wolke,
die Wolke am Himmel wird grösser.

Samstag, 20 Juli 1957       )

Die Sibylle

Nur in den ersten Nächten des Frühlings
singt die Sibylle: die braunen Gebirge
sind dann für eine Weile
grün und ihre Stimme erregt
05 die Büsche des Steilhangs zum Blühen.
Meine Seite bleibt leer,
das sind nicht Nächte zum Schreiben.
Aber das ist ein Zwang,
der meinen Zimmernachbarn
10 hinab in die Hotelbar treibt
zu den Schnäpsen, den langwimprigen
Blicken, den schlecht geröteten Lippen.
Mich treibt die Stimme der Sibylle zum Schreiben. // 045
Die rauhe uralte. Aber es ist nicht genug,
15 es reicht nicht. Ich laufe zum Tempel,
sie flieht in die Cella.
Noch gerade das geblumte
Kleid erkenn ich. Sie hat sich verborgen.
Der Mond aber strahlt jetzt erst
20 voll, die Hänge duften verderblich:
wie verschieden sind doch die Rhythmen:
die Droge Sibylle wirkt auf sie erst jetzt am stärksten.
Mich erschrecken schon wieder Ruinen,
Blüten erinnern an Gräber.
25 Ich laufe hinab zu den Fällen
des Anio; sie übertönen // 046
die nun zerkratzte Stimme der Sibylle im Hirn
und jene Strofe Hölderlins,
der von weitem nur die Süsse
30 dieser Landschaft erfuhr.
Für ihn gab es noch dies „vonweitem“,
Uns bedrängen die alten
Landschaften der Sehnsucht.
Sie sind zu leicht erreichbar.
35 Wir sehnen uns nach Osten,
wo es nicht Tempel, nicht Sibyllen gäbe,
wo man uns ganz allein mit uns liesse.

Samstag, 19 Oktober 1957       )

Die Ruine und die Königin

Nicht einmal der behandschuhten Hand,
die aus der Staatskarrosse ihm zuwinkt,
bedarf er,
der – kreuz und quer vom Hundegebell durch die
Waldung gejagt, 
05 den Waldhang hinauf:
ihm genügt es: hinabzutauchen in die zerbröckelnde
Kuppel, 
zu schwimmen durchs Licht gegen die offne Laterne.
Dem Schwimmer durch die Gruft,
wo die Knochen der Nonnen // 048
10 auf gemeisselten Thronen sitzen,
öffnet sich bald die öde zerbröckelnde Kuppel,
moosiges Becken, wo ihn das
Licht hinauszieht durch den Abfluss der
Laterne, hinweg, dorthin, 
wo er nicht einmal des Trosts
15 der behandschuhten Hand mehr bedarf,
die aus der Staatskarrosse ihm zuwinkt.

Sonntag, 03 November 1957       )

Der Engel

Zwischen den Säulen tritt er zwar manchmal hervor,
aber auch gleich wieder zurück,
eh ich mich, von der Rede des Führers,
als einziger der vielen Touristen, ihm zuwende:
05 immerhin genügt das leise Geräusch seines Flügels,
der an die Säule streift,
um mich zu erschrecken.
Vielleicht ist es wirklich ein Lächeln,
ein Wink mit der Hand, was ich sehe.
10 Doch zu lang geht es, bis ich meine Furcht, // 050
den andern Touristen
aufzufallen und den Führer zum tadelnden Innehalten
in seiner Erzählung zu bringen:
wie ich verstohlen, Feigling, nochmals zurück
15 blicke, ist nichts mehr
da, und die monotone Beschreibung
ersetzt den Einflug und den Aufenthalt
(auch mir, auch mir)
das Lächeln, den Wink eines leibhaftigen Engels.

Montag, 27 Januar 1958       )

Im Springen dürstet die Quelle …*

Im Springen dürstet die Quelle,
leckt auf die Finsternis,
leckt stockend nach der Helle:
o Grotte, o Bitternis.

05 Draussen bleibt die Helle,
ihr graut vor der Finsternis:
das Rinnsal wird nicht zur Welle; 
die Grotte, die Bitternis,

verhält das Springen der Quelle
10 im Kleinmut der Finsternis:
o Grotte, o Bitternis,
dir schmilzt nicht die Helle. // 052

Auf deiner Zunge die Quelle
leckt Salz und leckt Finsternis;
15 zu weit ist der Weg für die Welle:
o Grotte, o Bitternis.

Donnerstag, 01 Mai 1958       )

Das Einhorn

Du hebst das Horn,
du vergiftest die Winde
du hebst das Horn vor dem Wald,
vor den Blüten, den Teichen mit Rosen,
05 den duftenden, duftenden Grotten
voll von Schlinggewächsen,

Du senkst das Horn
und dringst hinein in den Wald,
da liegen die Blüten verfault
10 und verkohlt die riesigen Bäume.
Der Teich ist ein Moor, ohne Rosen.
Flüsterlöcher die Grotten. // 054

Du musst hier weiter, Einhorn,
Du musst durch die modrigen Gänge:
15 Gewunden sind sie, gleich deinem Horn,
doch nicht purpurn. Weh deinem weissen
Fell: denn da drinnen
liegt nicht Minotauros. Unter zerbrochnen
Glasdächern uralter Fabriken,
20 in den Trümmern rostiger Maschinen,
deren Verwendung keiner mehr kennt,
liegen die Mumien da; 
Könige wie aus Leder,
und ihre Krokodile mit abblätternden Schuppen // 055
25 (Blätter, duftende Blüten)
Augen, offen und grau
(im Teich die offenen Rosen).

Einhorn, hebe dein Horn, nochmals,
dann ist nur noch Staub,
30 und du watest,
wohin du willst, Du bleibst stehen.
Moder war noch ein Duft.
Labyrinth war noch eine Richtung.
Die Mumien waren ein Grausen.
35 Jetzt ist nur noch Staub,
und du watest im Kreis,
und nie mehr kommt eine Jungfrau.

Freitag, 02 Mai 1958       )

Windmühlen I

Der Wind vom Gebirge ist kalt.
Sie weichen vom Badestrand aus
und küssen sich abseits, in Grotten.

Der Wind vom Gebirge ist kalt,
05 aber nur er weckt die Räder,
nur er weckt die in der Windstille toten
Rosen: sie blühn in der Drehung.
Sausende Rosen des Winds, das Wasser
des Grunds aufsaugende Rosen. Die Paare
10 riechen sie erst, wenn die grosse // 057
Pampelmuse vom Tisch fiel.
Jetzt frieren sie vor den Grotten, die Rosen
sind grau. Auch denen, die allein
das sausende Beet bis zum Gebirge waren
15 rot zu sehen begabt.

Aber der Wind vom Gebirge war kalt.
Sie wichen vom Sandstrand aus
und küssten sich in der Grotte, verloren
die Blüte der Rosen: denn die kalte
20 Stunde des Winds allein ist die Stunde der Rosen.

Samstag, 03 Mai 1958       )

Quasi morto

Ich habe
den Berg mit dem weissen Parthenon vergessen.
Und das Haus des Erechtheus mit den Karyatiden
hab ich vergessen:
05 Hör ich das Wort Erechtheion
denk ich nur noch an den Pullover, den roten,
zwischen den Karyatiden:
Quasi morto.

Jetzt ist im Sand des saronischen Golfs
10 unser Irren zwischen Phaleron // 059
und Piräus nur noch ein Stummfilm.
Unser erster Gang zum Lykabettos, Hymettos
ein Sandspiel der Kinder.

Quasi morto
15 im Sand des saronischen Golfs
schmeckt mein Mund dein Ohr
salzig, schmeckt mein Mund
Salz und Öl deiner Schultern. 

Voll ist dein Ohr, quasimorto, 
20 am saronischen Golf von den Bienen, 
voll vom Gesumm des fernen Hymettos: // 060

Ich habe die Namen vergessen, 
Athen, Lykabettos, Hymettos, 
Phaleron und Piräus:
25 Salz und Öl deiner Schulter im Mund
und das Gesumm im Ohr, in deinem in meinem
der Bienen des fernen Hymettos:
O, quasi morto.

Montag, 05 Mai 1958       )

Flug über den Athos

Warum flogen nicht Kaiser Rudolf und Tycho
Brahe vom Hradschin hinaus in den Weltraum?
Warum nahmen sie nicht aus ihrem
Wunderkabinett eine Kugel
05 – von buddhistischen Mönchen in China
konstruiert – und flogen damit zum Mond?:

Sie hätten sich nicht gewundert;
denn sie waren auf alles gefasst.
Besser gefasst als wir,
10 die sich schon fürchten im Flugzeug über den Athos zu fliegen.
Nicht wegen der Löcher, // 062
in die es manchmal plötzlich hinabsackt.
Da gibt es höchstens Angst vor dem Tod,
Angst des Leibs und der Seele.

15 Die Geistesangst ist es, einfach
schamlos hinweg über den Giganten zu fliegen.
Zu wissen, dass Alexander von Norden
hier ans Meer kam,
dass Stasikrates ihn hier stehn sah:
20 Hinabstürzen in eines
der Sauglöcher, zerschellen
am Gipfel wär es nicht besser,
als so hinwegfliegen // 063
über den König, der Halt macht
25 nochmals für einen Augenblick,
bevor er zum Euphrat und nach Indien aufbricht?

Wir fliegen über Alexanders, des andern 
Dionysos Haupt. 
Wir rüsten die Boote zur Fahrt 
30 zum Uranos, zur Selene. 
Warum wir, warum nicht Rudolf 
und Tycho Brahe vom Hradschin? 
Sie waren auf alles gefasst. Und besassen
den geheimen Einhauch der Götter. // 064

35 Wir aber fürchten uns
schon zu fliegen über den Athos:
Nicht Angst des Leibs und der Seele,
Geistesangst ist es, einfach
schamlos hinweg über den Giganten zu fliegen.
40 Warum denn wir, warum
nicht Kaiser Rudolf und Tycho Brahe vom Hradschin?

Mittwoch, 07 Mai 1958       )

Metamorphose des Löwen

Das kleine Mädchen wird zwar schnell die Milch trinken.
Es wird die Milch schnell trinken und vergessen.
Aber der Löwe
wird ihm in der nächsten Nacht wieder aus der Ecke
05 hinterm Schrank entgegenkommen.
Wieder. Und einmal dann wird er
das Zimmer erfüllen mit Schnauze und Mähne.
Seine Schnauze ist dann ganz nahe
dem Gesicht des Mädchens, // 066
10 schaurig ists, sie zu küssen.
Aber es wird sie, zitternd zwar, küssen.
Und zum Lohn verwandelt sich der Löwe zum Prinzen.
Aber Prinzen kann man nur einmal umarmen,
Küsse vertragen sie nur als Löwen.
15 Dann erstarren sie und liegen,
Steinblöcke, Findlinge in den Ecken der Zimmer.
Darum sehen die Besucher
überall neben den Schränken, auf den Teppichen // 067
Steinblöcke liegen. Und alle tun,
20 als ob sie nichts sähen.

Viele Male wird das Mädchen noch in der Nacht weinen
und viele Gläser Milch trinken zum Schlafen.
Und am Ende wird es den unerbittlichen Löwen doch küssen.
Und doch hat es den Stein in der Ecke liegen sehn.
25 Der Löwe wird zwar nur für eine Sekunde zum Prinzen,
dann wird er zum Stein.
Und der Stein, den kann man einmal,
vielleicht, übersehen.

Sonntag, 11 Mai 1958       )

Die automatische Venus

An warmen Abenden übt man
bisweilen schon für das grosse Festgepränge im Juni:
Die beiden Löwen richten
sich auf und machen
05 langsam drei Schritte. Dann heben
sie die Tatze und reissen
sich die Brust auf und weisen
das bayrische Wappen auf ihrem Herzen.

Die Brunnen vorn am Ende des Prospekts springen
10 müssig; denn die Feldherrnhalle // 069
ist noch ganz in Gerüsten
und leer: Vor wem
paradieren die Löwen, vor wem
springen die Brunnen?

15 Man hat den Prospekt
genau erneuert, die Kopien
florentinischer Bauten
pietätvoll wieder errichtet.

Am Abend des Fests aber, so ergeht eine glaubhafte Meldung<,>  
geht das Gerücht,  
20 wird man in der Feldherrnhalle
eine automatische Venus enthüllen.
Dann wissen die Löwen, wofür
sie paradieren und bayrische Wappen enthüllen, // 070
dann wissen die Brunnen,
25 wofür, den Originalen in Rom zum Verwechseln ähnlich,
sie springen.

Die automatische Venus ersetzt die
Nike und den glorreichen Krieger,
beherrscht den genau renovierten
30 Prospekt. Nachher kommt höchstens noch der Abend,
auch darauf soll man schon üben,
wo hinter dem Triumphtor ein riesiger
Pilz aufsteigt
und mit einem übertaghellen
35 Schein den Prospekt und die Brunnen<,> // 071
die Feldherrnhalle erleuchtet.
Und nicht nur dies, – das ist das grosse Wunder der Technik –
mit ihnen zugleich erstrahlen im Scheine
des gleichen Pilzes die Originale:
40 die Paläste in Florenz, die Brunnen vor St. Peter in Rom.
Alles erstrahlt an jenem Abend zugleich
und verglüht und wird Asche.
In diesem Feuerwerk wird dann endlich
eines der ganze zerrissene Erdteil,
45 vergehn die verhassten Distanzen.

Dann brauchen wir nicht mehr Kopien. // 072
Bis dahin herrscht aus der Halle
über die Löwen,
über die Brunnen,
50 über den genau renovierten Prospekt
die automatische Venus.

Montag, 12 Mai 1958       )

Der Lieblose

Du machst täglich deine „einsame Übung“
und weisst nicht,
ob es mehr ist, als eine Schuletüde
wertlos an sich,
05 woran du dich ganz gibst.

Wirst du das Konzert selber
jemals spielen?
Wird nicht vielleicht bloss die Art,
mit der du die Finger spreizest
10 und weit auseinanderliegende Tasten
gleichzeitig anschlägst, // 074
Vorbild sein für den Lehrer dessen,
der das Konzert einmal aufführt und kann?

Das ist vielleicht, höchstens, dein Auftrag.
15 Doch du weisst nur sicher,
dass die Schneegebirge über den Palmen,
den grünen Brunnen nicht wirklicher
steigen in dein Gedicht,
Granada und die Boboligärten nicht wirklicher steigen
20 hernieder in dein Gedicht,
als deine Verdauungsbeschwerden, als deine
Schmerzen am After,
dein stockender Stuhlgang, // 075
das Brennen. Wer eine
25 Fornarina geküsst und begattet,
schickt sie am Morgen weg.
Denn die „einsame Übung“
erträgt keine Gesellschaft. Er wird
sie malen vielleicht als Madonna.
30 Aber es ist ihm
lieber, wenn sie ihn in der nächsten
Nacht bei einem andern vergisst.
Die „einsame Übung“ verbietet
die Liebe als Zustand. Fiametta
35 wird darum in der Kirche begraben,
und darum gehn die Huren
in der Prozession feierlich hinter dem Himmel: // 076
Sie wiederholen unendlich
das „retardierende Sterben, um zwei
40 Tote zu erzeugen“: Nur die Toten, die
Ausgeglühten, deren Herz
die Spritze Wollust stets neu wieder anästhesiert hat,
sind fähig zur „einsamen Übung“.

Wozu, wer weiss schon wozu?
45 Du weisst nur: die Brunnen, die Gipfel[,]
Granadas, die Boboligärten treiben
dich nicht mehr als die Schmerzen im After, // 077
dein stockender Stuhlgang
täglich zur „einsamen Übung“.

Dienstag, 13 Mai 1958       )

Das Ohr des Dionysos

Dionysos presst im Saal sein Ohr an den
Mund der ehernen Sibylle. 
Im Verlies, da werfen die Gefangnen nur kleine
Kiesel an das Ei, 
das von [von] dem Gewölbe hängt.
Warum sprechen sie nicht und machen
05 nur mit den Kieseln immerfort „Klick, klick“?
Das Ei enthält zwar das Gift, das die Luft verdirbt
wenn es zerschellt, sind im Verlies
schnell alle verkrümmt und tot.
Aber dies Klick, klick, ist das vielleicht // 079
10 eine geheime Sprache, Dionysos
hört, wie sie sich verschwören gegen ihn, doch er
versteht nicht? Es ist vielleicht besser,
er lässt das Ei wegnehmen.
Was nützt ihm der Gefangnen Tod,
15 wenn er nicht weiss, was sie zuvor
mit der Kieselsprache über ihn beredet.

Dionysos presst vergeblich
im Saal sein Ohr an den Mund der ehernen Sibylle.

Mittwoch, 14 Mai 1958       )

Windmühlen II

Sie flohen auf vom Meer, das bebte,
die Najaden, mit dem Wind landeinwärts.

An der Strasse hielt sie auf das Rotlicht,
staute die Woge der Najaden;
05 denn die Wagen rasten vom Strand zur Stadt
zurück nach einem langen Wasserwochenende.

Und es gab noch kein Schild „Nymphenwechsel“.

Der Nymphen Woge staute sich und stockte:
die Frage: Warum nicht weiter, // 081
10 warum hält man uns hier auf?
drehte sich allein im Winde immer weiter:
Windmühlen stehn sie da, ein Feld
von Riesenlöwenzahn und grüssen 
die Giganten, die vom Felshang jenseits
15 liefen herab, die Bräute
einzuholen; an der Strasse
hielt sie auf das Rotlicht;
denn die Wagen rasten vom Strand zur Stadt
zurück nach einem langen Wasserwochenende. 

20 Und es gab kein Schild „Gigantenwechsel“. 
So stockte der Sturz der Giganten. // 082
Sie blieben stumm, von ihrem schweren Zorn berauscht,
als Felsenblöcke liegen. Die Wagen
rasen heute noch vom Strand zur Stadt:
25 Furchtlos, sie meinen, die Nymphen
bleiben, die Häupter einzig regend, Löwenzahn,
die Giganten, zornesdumpfe Felsen,
bleiben, weil Rotlicht ist,
aufgestaut einander gegenüber
30 am Rand der Strasse ewig, ewig liegen.

Dienstag, 20 Mai 1958       )

Das Tor

Nicht diese blauen
Winde des Mittags sind es, die
du fliehst, nicht diese gelbe
Willenlosigkeit des Ginsters:
05 Unter dem
Torbogen reicht dir ein Fremder
zwar einen Zweig.
Aber er ist nicht eindringlich genug,
nicht so eindringlich
10 gereicht, dass er dich erschreckte.
Dennoch, du fliehst, du fliehst // 084
in das Tor, wo die alte
Büste aus ihrer Nische mit ihrem
Steinblick dich anzischt, wie eine Katze.
15 Die Katze aber am Sockel miaut,
die du nicht siehst, die du trittst.
Denn hier ist es finster.
Kein Ginster bringt Licht.

Mittwoch, 21 Mai 1958       )

Bäume

Der Tagbaum in Blüten
verbrennt, leckt anstelle
von Waldharz den Torgang;
vergiss nicht, Daphne,
05 Dort liegt die kleine Lache Urin,
Lethe des Knaben.
Er liess sie und gewann
zurück sein Motorrad,
die Stärke und die Hoffnung auf Daphne.
10 Daphne entrann Apollon; // 086
der Nachtbaum beschattet im Torgang
den Sarkophag auch am Mittag,
Wasser quillt,
Illusion eines lebendigen Brunnens:
15 Nachtbaum und Baum des Ruhmes.
Doch Todes Baum bleibt er,
beschattet den Sarkophag.
Er ist nicht irgend ein Brunnen,
Wasser von Lethe quillt,
20 Daphne, gerettet, im Schatten
hat sie Apollon vergessen.

Die Lache Urin hat der Knabe gelassen
und floh // 087
Der Tagbaum in Blüten verbrennt
25 und leckt sie verzweifelt.
Im Torgang gibt es kein Harz.
Zwar ist er dunkel, doch der
Brunnen bleibt immer ein Sarg, 
hüte dich, Daphne, (vergiss nicht, Daphne) 
30 sein Wasser ist Lethe.

Mittwoch, 21 Mai 1958       )

Der Torbogen II (III)

Eine Hand reicht unterm Tor den Ginster.
Eindringlich jedoch nicht genug
reicht sie den Ginster:
die kleine Lache
05 Urin bleibt Lethe, im Einverständnis
mit dem Torgang: Finster bleibt er
Und auch der Brunnen bleibt
ein Sarkophag, sein Wasser
quillt wie lebendig. Aber es,
10 auch es ist Lethe. Zu vergessen
strebt Daphne, flieht
unterm Tagbaum, der anstelle // 089
den Harz des Walds den Torgang
leckt, Urin und Wasser: Lethe, Lethe.
15 Daphne flieht und kränzt als Nachtbaum
den Sarkophag. 
Der Büste Steinaug leuchtet wie Katzenauge.
Katzen schleichen, quietschen
Der Knabe tritt sie und gewinnt sein Motorrad[,]
20 zurück, seine Kraft und Hoffnung
auf Daphne. Die Katzen quietschen
und benetzen in der Finsternis
die Pfoten mit Lethe, der Ginster // 090
von einer fremden Hand gereicht, genügt
25 nicht zu erhellen Lethe:
Vergiss nicht<,> Daphne, hier ists finster, finster.

Freitag, 30 Mai 1958       )

Neapel

Der Blitz blieb in den Wolken stecken,
sie rollen flackernd über dem Arkadenhof.
Die Glühlampengloriole der
Madonna in der Ecke versucht auch nicht,
05 ihn zu erhellen.
Die zwei Soutanen verbieten es:
sie wehen aus dem Haustor
und erfüllen flatternd den Arkadenhof.
Die Wolken rollen leer:
10 der Blitz verirrte sich in die beiden
Soutanen, von seinem // 092
Flackern flatternd, befehlen sie dem Hof:
Bleib finster, befehlen sie der Gloriole:
Bleib geduckt! – Geruch
15 von Kot und nassen Windeln kommt
ihr und dem versteckten Blitz zuhilfe.
Die Würze fehlt dem Brei nicht,
aber der bleibt vorerst ruhn,
und seine Masse lastet.
20 Die Wolken rollen leer, und zwei Soutanen flackern,
vom eingeschlossnen Blitz gejagt,
durch den Arkadenhof.

Montag, 02 Juni 1958       )

Der Keller

Die Nase kann schliesslich den Kot der Ratten und
den Kot der Vögel,
die vor dem Gewitter hier Unterschlupf suchen,
ertragen:
05 Der Fuss gewöhnt sich an die kleinen Aase,
schiebt sie beiseite. Das Ohr
gewöhnt sich an das Knirschen der
kleinen zerbrechenden Knochen.
Aber das Auge gewöhnt sich nie an die kränkliche Finsternis:
10 immer noch leckt eine Lichtzunge // 094
aus einer verborgenen Luke ein Stück von der Nacht weg.
Das bleibt ärgerlich.
Zuletzt stösst man mit der tastenden Hand eine Fledermaus weg:
hier ist die Luke. Hier ist das Meer, der riesige Strand.
15 Hier tönen von ganz weit her wie Zirpen von Insekten
die Rufe der Kentauren. Sie laufen winzig 
in Rudeln und zielen mit ihren Pfeilen
auf das altmodische Kriegsschiff: // 095
ein plumpes Spielzeug, das langsam vorbeifährt.
20 – Die Türe des Kellers wurde damals, bei
der Zerstörung des Hauses verschüttet.

Dienstag, 03 Juni 1958       )

Der Katafalk

Die Wachsrosen sind parfümiert
und duften vielmals stärker als die echten Rosen:
die echten Rosen hatte man zu Pfingsten,
die Altäre überschäumten davon.
05 Jetzt im August
hat man den Katafalk mitten
in der Kirche aufgestellt und ihn umkränzt,
geschmückt, ganz überhäuft
mit den Wachsrosen, die parfümiert sind
10 und vielmals stärker duften // 097
als alle echten Rosen. Denn der
Leichnam der Jungfrau auf dem Katafalk
liegt unter einem weissen Schleier,
unter einem blausamtnen Baldachin.
15 Er erträgt nicht echte Rosen,
er erträgt nicht Duft und allmähliches
Verblühen echter Rosen.
Das wäre Bewegung.
Der Leichnam der Jungfrau duldet aber,
20 dass der Gassenjunge ihr den Finger
in die Wange stösst:
die Vertiefung bleibt, darum
ist die Kathedrale so leer.
Die Fensterrose steht still und wagt es nicht // 098
25 sich zu drehen und zu bewegen
die geronnene Luft.
Der Gassenjunge taumelt, 
betäubt vom Duft der Wachsrosen,
die man parfümiert hat: 
30 sie duften vielmals stärker als echte Rosen
– Er gewinnt gerade noch die Landungsbrücke,
Eben legt ein Schiff mit Fremden an: er ruft:
Geht nicht in die Kathedrale,
bitte, geht nicht.

Mittwoch, 04 Juni 1958       )

Organisch und magnetisch.

Voltaire
vergleicht wie Schmetterlinge die Sitten,
wie Käfer das Gehaben, die Meinungen, die
Regierungsformen der Menschen,
Er hält von allem Distanz und lächelt skeptisch.

05 Aber Greco wirft fiebernd die Figuren,
ähnlich auch Van Gogh hin, und sie kreisen
immer schneller, sie treibt, die Ohnmächtigen, // 100
die Drehung und Schwerkraft eines Gestirns,
das allmächtig herrscht und keinem
auch nur ein winziges 
10 Biegen des Fingers aus eigener Laune erlaubt:

Im Park sitzen die Schläfer in der Dämmerung
auf den Bänken und schnarchen.
Wenn du zwischen ihnen hindurchläufst,
wer trieb dich aus dem Haus,
15 wer zieht dich zum Fluss, den man
nur auf dem Geländer überqueren kann,
es hat nur eine Eisenbahnbrücke,  // 101
oder nur auf dem Geleise?
Aber vielleicht kommt eben ein Zug.
20 Oder die Wachen schiessen den Kletterer
ab vom Geländer. // 102
Voltaire ist tot. Und es malen
Greco und Van Gogh noch immer
ihre Jüngsten Gerichte und ihre
provenzalischen Sonnen.
Dafür sitzen noch einen Sommer
25 auf dem Huflattich die Käfer, fliegen,
sicher vor skeptischem Lächeln
die Schmetterlinge über die Wiesen:
noch diesen Sommer.

Donnerstag, 05 Juni 1958       )

Strandgut

Eine Muschel ist die Galeria Umberto,
wer hat sie an einem
roten Faden aus der verstecktesten Bucht
hiehergezogen, hieher
05 den Wagen den Menschen quer in den Weg?

Sie ist ihre eigene Bucht und rauscht
von ihrem eigenen Meer:
„Ich komme eben aus dem Gefängnis
Ein halbes Jahr: ich hatte
10 drei Millionen gestohlen. Und wenn man 
zehn Geschwister hat, kommt man // 104
auf den Geschmack. –
Herr Ober, einen Kaffee mit Anis …“

Sie ist nun selbst eine Bucht,
15 die Muschel Galeria Umberto.
Wer hat sie aus der verstecktesten Bucht,
wer hat sie hieher
an einem roten Faden gezogen?

Und quer über sie läuft ein schwarzer
20 Kamm: ganz schwarz
glänzt er im Regen,
den Wagen, den Menschen quer übern Weg. // 105

Am schwarzen Kamm ist der rote Faden befestigt.
Eine Muschel ist die Galleria Umberto.

Sonntag, 08 Juni 1958       )

Die Zikade (Grille)

Die Zikade entzündet
in der Höhle ihr Lied,
ihr Lied erhellt
doch nicht die Grotte.
05 Nur gespiegelt durch eine geheime Tür,
durch eine Öffnung wogen die Wellen
eines Sees, eines Meeres
über die Wölbung der Grotte.

Tief in der Höhle singt die kleine Zikade,
10 zu tief, ihr Lied
trifft nirgends die Welle, die wandelt, // 107
gespiegelt über die Wölbung.
Finster bleibt ihr die Höhle:
ihr Lied glimmt zu klein, und die Welle,
15 gespiegelt an der Wölbung der Höhle
(wer weiss, durch welche Tür, durch welchen geheimen
Eingang?) trifft nicht ihr Lied.
Zu tief sitzt die kleine Zikade,
zu tief in der Höhle, die kleine,
20 singt ängstlich, singt vergeblich ihr Lied.

Montag, 09 Juni 1958       )

Der Wurm im Ohr

Die Wirbel der überschwemmten
Strasse tragen –
aber der Wurm sitzt mir im Ohr –
die offene Schachtel heran:
05 darin ist noch eine Zigarette, ich strecke
die Hand aus: soll ich sie
– aber der Wurm sitzt mir im Ohr –
aus den Wirbeln der überschwemmten
Strasse fischen? Die Zigarette
10 hat sich ganz voll gesogen mit Wasser.
Es lohnt sich nicht,
sie aus den Wirbeln der überschwemmten // 109
Strasse zu fischen. Die Schachtel –
aber der Wurm sitzt mir im Ohr –
15 fährt weiter, schwerer, versinkt. Ich
ziehe zurück meine Hand. Die Wirbel
des Wurms drehn und dröhnen in meinem Ohr.
Die Schachtel versinkt in den Wirbeln.
Macht nichts: die Zigarette ist nass, man kann sie nicht rauchen.
20 – Der Wurm hat mir geöffnet das Ohr, aus den Wirbeln
der überschwemmten Strasse steht noch ein Baum voller Vögel:
Der Wurm // 110
sitzt mir im Ohr, die Schachtel
ist weg, versank in den Wirbeln,
25 ich höre, ich höre die Stimmen der Vögel:
„Fische die Schachtel nicht aus den Wirbeln
der überschwemmten Strasse,
die Zigarette ist nass.
Der Wurm sitzt dir im Ohr. Du hörst
30 die Stimme, verstehst 
die Rede der Vögel.“

Dienstag, 10 Juni 1958       )

De Gaulle 1958

Schon wieder ruft man einen General:
zum wievielten Mal schon?
Schon wieder will die Nation sich erneuern,
zum wievielten Mal schon?
05 Schon wieder ruft die Armee nach Ruhm,
nach Wiederherstellung ihrer Ehre,
zum wievielten Mal schon?
Schon wieder schreien die Strassen
nach Macht und nach Grösse,
zum wievielten Mal schon? –

10 Als ob es nicht schon schwer genug wäre,
ein Segelschiffchen richtig // 112
auf den Teich zu setzen.
Als ob es nicht schon schwer genug wäre,
das Segelschiffchen richtig
15 über den Teich zu schicken, dafür zu sorgen,
dass es an kein anderes stösst und umkippt,
dass es auch nicht zu nahe
an den Wasserstrahl in der Mitte
gerät und dann umkippt. 
20 Dafür zu sorgen, dass es nicht zu nahe
am Steinrand bleibt
und anstösst und umkippt.

Es gibt so viele Gefahren,
da vorzusorgen ist wahrhaftig genug: // 113
25 Wie soll man sich da noch bekümmern um die
Erneuerung der Nation (zum wievielten Mal schon?),
um ihren Ruhm, um die Wiederherstellung ihrer Ehre,
um Macht und um Grösse (zum wievielten Mal schon?):
Das Segelschiff richtig zu setzen,
30 ist schwierig genug schon:
Schaut man nur schnell einmal weg,
schon kippt es.
Noch nie gelang es, das Segelschiffchen richtig zu setzen.

Mittwoch, 11 Juni 1958       )

Die Pappeln

Auf dem Hügel stehen die Pappeln.
„Jeder fest Überzeugte ist dumm“.
Auf dem Hügel stehen,
biegen die Pappeln die Wipfel.
05 Die Fornarina hat man in einer Kirche begraben:
Cesare Borgia hat sie geliebt, und er wusste:

„Jeder fest Überzeugte ist dumm“.
Die Pappeln stehen und biegen
fast bis zur Erde die Wipfel. Der Wind
10 weht stark auf dem Hügel.
Mit Gepräng hat man die Fornarina // 115
in der Kirche begraben.

Und auch Raffael hat
zuletzt noch erfahren:
15 „Jeder fest Überzeugte ist dumm“.
Mag sein, ihm sagte es die Fiammetta.
Sie ist in keiner Kirche begraben.
Auf dem Hügel stehen die Pappeln.
Raffael starb und nahm seine neue
20 Erfahrung ins Grab. Dachte er an Cesare Borgia?

Auf dem Hügel biegen die Pappeln,
biegen die Pappeln die Wipfel im Winde:
„Jeder fest Überzeugte ist dumm“, // 116
biegen bis zur Erde die Wipfel.
25 Stark wehn die Winde, stark
wehen sie auf dem Hügel.

Donnerstag, 12 Juni 1958       )

Herrenchiemsee

„Die willentliche Anstrengung erzeugt Schönheit“,
man kann Versailles auf der Insel
eines Alpensees wiederholen:
Diese Umarmung war, wie jede,
05 ein retardierendes Sterben,
um zwei Tote zu erzeugen.
Ein wacher und mächtiger König
baut sich seinen [Palast] // 118
Palast in das Tiefland.
10 Ein Schläfer wiederholt im Hochland
was er sah. Ins Traumhochland
ruft er den König, schreibt golden sein L. 
in die Gitter. 
Die Anstrengung erzeugt Schönheit, und die
Umarmung ist ein retardierendes Sterben.
15 Alles stimmt. Aber der Grosse
Kanal ist ein Alpensee.
Und nur ein Schlafwandler
geht durch den grossen
Spiegelsaal, wo man // 119
20 Friedensschlüsse diktiert
und Kaiserreiche begründet.

Die willentliche Anstrengung erzeugt Schönheit;
die Alpen sind unbewusst da und geworden.
Aber nur die Umarmung ist dies retardierende Sterben,
25 das zwei Tote erzeugt:
nur die Toten sind schön,
die ihren Hass nun endlich befriedigt.
Der See ist nicht schön, bevor
man das Schloss von Versailles // 120
30 auf ihm wiederholt hat! 
Anstrengung, Gewaltsamkeit, Mord,
ein Träumer, der durch den Saal
des Krieges, den er nicht führte, des Friedens,
den er nicht schloss, geht,
35 und alles von Kerzen erleuchtet.
Der Wahnsinn kommt nachher;
doch erzeugte die Anstrengung Schönheit.
Mit dem Liebesspiel beginnt ein langsames Sterben.
Wer es weiss, der wiederholt unbekümmert,
40 Versailles in den Alpen.

Samstag, 14 Juni 1958       )

Jahreszeiten

Persephone pflückt am Morgen Narzissen.
Und in der Nacht
flackert Demeters Fackel.
Die sucht, die durchs Gehölz
05 rast und Persephone ruft:
Persephone pflückt am Morgen Narzissen.

Die Fackel verbrennt das Gehölz
und die Stadt ruht unter der Asche,
der Schrei des Alten, der nicht mehr
10 schlief, weil er sein Wasser nicht lassen kann,
schweigt unter der Asche.
Persephone pflückt am Morgen Narzissen. // 122

Die Fackel erlischt, und Wälder
stehn auf dem Hang des Vulkans,
15 und der Vogel singt im Wipfel,
unbeirrt, hell in der Frühe:
Persephone pflückt am Morgen Narzissen.

Mittwoch, 29 Januar 1958       )

[Notizen]

Gracian, Handorakel: „Jeder fest Überzeugte ist dumm.“  [S. 114 Die Pappeln, 11.6.1958]

(Hocke I. S. 210)  17.IV.58 // 124


23 Valéry: Kunst ist „einsame Übung“. Ausdruck seiner selbst wichtiger als Mitteilung. „Die willentliche Anstrengung erzeugt Schönheit.“ – Ähnliches bei Leonardo. (Hocke I, S. 199) 17.IV.58  [S. 073 Der Lieblose, 12.5.1958]


22 Rafael liebt eine Cortegiana, die Fornarina: die Cortegiane sind oft fromm, werden in Kirchen beigesetzt. So Cesare Borgias Fiammetta. – Einsperren der 6000 C. Roms in ein Ghetto durch Paul IV, 1569.  [S. 114 Die Pappeln, 11.6.1958]

(Hocke I, S. 185-86) 17.IV.58


21 Marino: Das Liebesspiel ein retardierendes Sterben, um zwei Tote zu erzeugen. Brustwarzen: Feuerstrahlen im Schnee. Phallus: verliebtes Panier, süsser Pfeil der Liebe. (Hocke I, S. 180) 17.IV.58  [S. 114 Herrenchiemsee, 12.6.1958]


20 Hirtenstück von Troterel d’Aves (1610): Ein Monstrum verwandelt sich in einen Jüngling, der in einen Felsen. – Hardy (1624) schreibt „Alphée“: Menschen werden Felsen, diese Fontänen, diese Bäume, diese wieder Menschen.

(Hocke I, S. 173) 17.IV.58 // 125


19 „Anlässlich des Karnevals von 1627 lässt der Herzog von Savoyen ein Ballett aufführen, in welchem zwölf Felsen zu Lebewesen werden und zu tanzen beginnen. ... In Neapel sieht man auf der Bühne, wie Berge zu tanzenden Giganten werden. ... Türme verwandeln sich in Nymphen, aus Windmühlen werden Najaden.“ (Hocke I. S. 157) 13.IV. 58

[S. 080 Windmühlen II, 14.5.1958]


18 Rudolf II. liebt Hadrian, alle Merkwürdigkeiten <Zwerge, Riesen, Skorpione, siamesische Zwillinge, Zaubersteine, magische Geräte, Labyrinthe, Musikautomaten, Uhren, Versteinerungen, Spiegel> (Wunderkabinett), lässt sich buddhistische Miniaturen und Merkwürdigkeiten aus Indien bringen. Mit Tycho Brahe Sternbeobachtung.

(Hocke I. S. 158-59) 13.IV.58  [S. 061 Flug über den Athos, 5.5.1958]


17 Kaiser Rudolf II. von Arcimboldi als Vertumnus dargestellt: Gott des Wechsels, entspricht Circe, Proteus, Pfau. Hadrian liess Antinoos als Vertumnus darstellen. ...

(Hocke I. S. 146-47) 13.IV.58 // 126


16 „Das Ei, bezw. die Eiform, aus Gold, Edelsteinen hergestellte künstliche Eier, dienen in der mythischen Symbolik vieler Völker als eine ‹Signatur› der Schöpfung und des Lebens, im Christentum auch der Auferstehung.“

(Hocke I. S. 140) 13.IV.58


15 Für Greco „war ‚Kunst‘, im Sinne Zuccaris, die Mutter der Kunst, d.h. die Kunst entwickelt sich für ihn aus der Auseinandersetzung mit Kunst, nicht mit der Natur.“

(Hocke I. S. 138) 13.IV.58


14 „Keplers zweites Gesetz sagt, dass die Planeten in Sonnennähe rascher kreisen. Auf Bildern Grecos beobachtet man, dass Bewegungen in der Nähe der Sonne rascher werden. // 127

Die Werke Tintorettos sind in ihrer dynamischen Erscheinungsform mehr Ausdruck von magnetischen als von organischen Bewegungen.“  [S. 099 Organisch und magnetisch, 4.6.1958]

(Hocke I. S. 136) 8.IV.58


13 Spionage-Ohren: Statuen fangen die Worte u. Gespräche im Saal auf. Oben, im Zimmer des Tyrannen kommen sie aus dem Mund einer anderen Statue verstärkt heraus.

(Hocke I. S. 122) 8.IV.58  [S. 078 Das Ohr des Dionysos, 13.5.1958]


12 Androiden: Eine Statue aus der Zeit Ramses XII. kann gehen und mit dem Kopf nicken. Im Tempel zu Delphi gab es Mädchengestalten, Heliaden, künstliche goldene Statuen, die sich singend bewegen konnten. Aristoteles beschreibt eine ‚automatische Venus‘. Leonardo baute zu Ehren Ludwigs XII. einen Löwen, der dem König 1509 bei seinem Einzug in Mailand entgegenschritt u. vor ihm stehen blieb. Er öffnet wild mit der Tatze die Brust, zeigt auf ein Lilienwappen  [S. 068 Die automatische Venus, 11.5.1958]

(Hocke I, S. 119) 8.IV.58


11 „Die Neugier ist einer der mächtigsten Antriebe aller Manieristen“. Neugier = Curiosità = Kuriosität

Hocke I, S. 119  8.IV.58 // 128


10 Henri Michaux, in ‚Enigmes‘: man wird im Labyrinth den geraden Weg finden.

(Hocke I, S. 104) 7.IV.58


09 Herodot über ein ägypt. Labyrinth: es hatte 3000 Räume, in der fast unauffindbaren Hauskammer lagen die Könige und heiligen Krokodile begraben.

(Hocke I, S. 101) 7. IV.58


08 Gianfilippo Usellini: Das trojanische Pferd: „Ein Pegasus entflieht entsetzt dieser Welt der in Bibliotheken konservierten Mythen.“

(Hocke I, S. 96) 7.IV.58


07 Der Wald von Bomarzo gilt den Bauern jahrhundertelang als eine Teufelsstätte sexueller Orgien.

(Hocke S. 88, 7.IV.58)


06 Der Architekt Dinokrates wollte dem Berg Athos das Aussehen eines Giganten geben, Stasikrates wollte ihn in eine Riesenstatue Alexanders des Grossen verwandeln.
[S. 061 Flug über den Athos, 5.5.1958]

(Hocke I S. 86) 7.IV.58 // 129


05 „Das katarrhalische¿ Gekratze raubt mir den Schlaf. Die Liebe, die Musen, die blühenden Grotten, alles ist in Unrat erstickt. ...“

(Michelangelo, Hocke S. 59) 7.IV.58


04 Einhorn: Indirekter Phalluskult. Symbol für Christus: „In uterum virginis singulare deposuit omnipotentiae cornu“. Auch Symbol des Teufels, des Hochmuts. Franz. Bildteppich von 1500: Dame mit sich spiegelndem Einhorn (Im Musée Cluny)

29.I.58, Hocke I. 195-98

03 Einhorn: Weiss, Horn hat purpurne Spitze, gewunden. Neutralisiert Gifte. Ist unwiderstehlich (siehe: Hercule). Kann nur gefangen werden, indem man eine nacke Jungfrau in seinen Jagdgründen aussetzt. Es springt in ihren Schoss, man kann es leicht fangen, töten.  [S. 053 Das Einhorn, 1.5.1958]

Hocke I. S. 192  29.I.58 // 130


02 Acapulco in Mexico: Zwölf junge Mexikaner wechseln sich ab in der Nachtbar Teddy Stauffers aus vierzig Meter Höhe in einen Fjord hinabzuspringen: Jede volle Stunde gehen alle Lichter aus. Im Schein eines Scheinwerfers tritt der Springer vor das Bild der Madonna. Dann erlischt auch der Scheinwerfer. Mit einer Fackel in jeder Hand springt er hinab. Bekommt nachher 8 Dollar. Erst einer zerschellte, unter Alkohol. Hatte mit Gästen gewettet, er könne trotzdem springen.

F.A.Z. 16.XI.57


01 „Es war eine Jungfrau, Constantia mit Namen, des Kaisers Constantini Tochter, die war gar siech am Aussatz; da hörte sie von der Erscheinung, die an Sanct Agnes Grabe war geschehen. Und ging zu dem Grabe und entschlief daselbst im Gebet. Da sah sie im Traum Sanct Agnes, die sprach zu ihr: ‚Sei standhaft, Constantia, und glaube an Christum, so wirst du alsbald gesund.‘ Von dieser Stimme erwachte sie und empfand sich gänzlich gesund. Da liess sie sich taufen und baute über Sanct Agnes Grab eine schöne Kirche und lebte daselbst in Reinheit, und sammelte mit ihrem Beispiel viel andere Jungfrauen um sich.“

Leg. aur. S. 136

 

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