Mittwoch, 15 Februar 1956

Petersilie

Der Braten, der braun und gross auf der Schüsselkutsche
hereinfährt 
lässt hochschlagen dein Magenherz, Schlemmer,
die voraustrabenden schweren und scharfen Duftrosse
rufen dir den jubelnden Saft auf
dem Platz der Zunge zusammen. 
05 Aber du achtest nicht auf die kleine
Seitenläuferin Petersilie, 
die mitkommt, unbedeutend und im
Protokoll der Zeremonie 
nicht einmal der Erwähnung wert wird befunden.
Obwohl sie mir am liebsten ist,
alle flinke Würze trägt sie, eigenwillig in ihr zartes und
10 unaufdringlich durchdringendes Gestältchen gesammelt
und bietet diskret sich nicht dem Ersten Besten, nein, // 072
nur dem Feinschmecker an, der zärtlich zu tasten
versteht und auch das Nette an den Rändern mit
fühlenden Nüstern sieht und beachtet.

15 Empfange du nur das grosse Gespann,
spanne aus die Rosse und
nimm auf den mächtigen schweren Herrn,
mit schmatzenden Komplimenten.
Ich will indessen mit der kleinen Begleiterin schäkern,
20 sie kitzelt mich bald fein und inständig
durchdringt sie die Sinne,
erfreut mich scherzend, entzückt mich.
Was du nicht weisst und was dich,
Schlemmer wundern würde,
25 weil, wer, zu sehr mit den grossen Kutschenherrn beschäftigt, // 073
die Diener nicht sieht und vergisst,
obwohl sie hingebend sind und zäh in der Liebe,
manchmal, und ihre Würze durchdringt die Eingeweide
und länger anhält.


Seite 071 (A-5-c_10_071.jpg)

Petersilie

Der Duft desBratens, der
Der Duft des  braun und gross auf der Schüsselkutsche

hereinfährt

lässt hochschlagen dein Magenherz, Schlemmer,

die voraustrabenden schweren und scharfen Duftrosse

rufen dir den Saft auf der Zunge jubelnden Saft auf

dem Platz der Zunge zusammen.

05 Aber du achtest nicht auf die kleine Läuferin zur Seite

Seitenläuferin Petersilie,

die mitgeht mitkommt, unbedeutend und im

Protokoll der Zeremonie

nicht einmal der Erwähnung wird wert wird befunden.

Obwohl sie mir am liebsten ist, wie alle Würze trägt

alle flinke Würze trägt sie, grün trippelnd grünbe-

eigenwillig in ihr zartes und

10 unaufdringlich, durchdringendes Gestältchen gesammelt

und bietet diskret sich nicht dem Ersten Besten, nein, //

Seite 072 (A-5-c_10_072.jpg)

nur dem Feinschmecker an, der zärtlich zu tasten

versteht und auch das Nette an den Rändern mit

fühlenden Nüstern sieht und beachtet.15


Empfange
Begrüsse  du nur das grosse Gespann,

spanne aus die Rosse und empfange

nimm auf
  den mächtigen schweren Herrn,

mit schmatzenden Komplimenten.

Ich will indessen schäker mit der kleinen Begleiterin

schäkern,

20 sie kitzelt mich bald fein und intensiv inständig

durchdringt sie die Sinne,

erfreut mich scherzend, entzückt mich.

Was du nicht weisst und was dich,

Schlemmer wundern würde,

weil, wer? zu sehr, mit dern grossen Kutschenherrn
25 weil, der¿, zu sehr, mit dern grossen Kutsche beschäftigt, //

Seite 073 (A-5-c_10_073.jpg)

die Diener nicht|sieht und vergisst,

obwohl sie hingebend sind und zäh in der Liebe,

manchmal, und ihre Würze durchdringt die Eingeweide

und länger anhält.

15.2.56

 

  • Details:

    V. 01 Emendation: Der des Bratens → Der Braten

  • Besonderes:

    Notiz (S. 125):
    Petersilie: Dekoration zum Braten, winzig, grün, duftend, unerheblich, überflüssig, aber intensiver (schwere Karosse mit kleinem Läufer zur Seite)

    Vgl. Tagebuch, 10.2.1956:
    Kann man von mir erwarten, dass ich Verse schreibe, die ich nicht im Zusammenhang der heutigen Dichtung für notwendig, für unentbehrlich halte? Dass ich mich damit begnüge, den Rand der Bratenplatte zu dekorieren? Ich liefere den Braten selber, die Petersilie dazuzugeben, überlasse ich anderen.

    Dieser letzte Satz ein Beispiel, wie man logisch-rhetorisch übers Ziel hinausschiessen kann: im Grund halte ich ja von der Petersilie mehr als vom Braten. Ich hätte also genau so gut, wenn nicht besser das Gegenteil sagen können. Die Petersilie, das ist doch die Würze, das Scharfe, Duftende, von den Essern kaum Bemerkte und doch nicht Wegzudenkende, das wunderbar Überflüssige, Nutzlose. Genau wie das Gedicht. Nein, das Gedicht ist nicht der Braten, das Gedicht ist die Petersilie.

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Verse
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Fassung: Erste Fassung
  • Strophen: ja
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: A-5-c/10
  • Seite / Blatt: 071, 072, 073

Inhalt: Notizen, 42 Entwürfe zu 37 Gedichten (1 Endfassung)
Datierung: 6.10.1955 – 7.4.1957
Textträger: schwarzes Notizbuch (Krokodil, Plastik), Bleistift
Umfang: 130 beschriebene Seiten
PublikationDie verwandelten Schiffe (10 Gedichte), GEDICHTE (5 Gedichte), Verstreutes (3 Gedichte)
Signatur: A-5-c/10 (Schachtel 29)

Bilder: Ganzes Buch (pdf)
Spätere Stufen: Manuskripte 1955, 1956, 1957, Typoskripte 1955, 1956, 1957
Kommentar: Die Prosanotate, von hinten her bis S. 117 eingetragen, entstammen der Legenda aurea des Jacobus de Voragine und den religionswissenschaftlichen Studien von Mircea Eliade
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Diplomatische Umschriften (auch von den Prosanotaten)

Weitere Fassungen

Notizbuch 1955-57 (alph.)
(Total: 45 )
Notizbuch 1955-57 (Folge)
(Total: 45 )
Suchen: Notizbuch 1955-57