Donnerstag, 30 August 1951

Mein Verhältnis zum Christentum …*

Mein Verhältnis zum Christentum ist offenbar das des Gnostikers: für mich ist der Glaube eine Welt anschaubarer und zu verehrender Bilder, die gleichsam unsere sichtbare Welt von einem jenseitigen Sitz her durchdringt. Es ginge mir nun darum, diese Welt immer reiner zu erkennen, ihr Geist und Seele immer mehr entgegenöffnend. 

02 Die Krise des Glaubens besteht für mich darin, dass sich mir in einem bestimmten Augenblick der Glaube von einer andern Seite, ein anderer Aspekt des Glaubens aufdrängte, der mir fremd und // 109 unvollziehbar war: der Glaube als eine gleichsam inhaltlose Haltung, als ein Ausharren im Leeren, Erwartung der Begnadung, Erhellung durch ein Unbestimmtes, Unbeschreibliches, von jeder Weltbeziehung Abgetrenntes. Auf den die Bilder gar nicht mehr zutreffen, der an sie nicht mehr gebunden ist. Es handelt sich um einen Glauben ohne Gestalt, der mir plötzlich als „der Glaube” erschien<,> aber zugleich als unvollziehbar, ja absurd. Während zugleich der Glaube als Gnosis, als Ruhen in der Anschauung des Göttlichen sich von mir entfernte, aufhörte, mein ganzes Wesen zu tragen und zu beleben, ohne freilich aufzuhören, Gegenstand geistiger Betrachtung, // 110 geistigen Spieles zu sein. Aber er ist nun gleichsam weggerückt, fern sichtbar, ich kann ihn in Augenblicken an mich heranholen, aber er ist nicht mehr einfach da, wie er früher da war, ich bin nicht mehr einfach darin, wie der Fisch im Wasser, wie ich früher darin war.


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  • Besonderes:

    Gleicher Text im Tagebuch (30.8.1951)

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Prosanotat
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: C-2-b/04
  • Seite / Blatt: 108 (unten), 109, 110 (oben)

Inhalt: Prosanotate, Briefe, 88 Entwürfe zu 75 Gedichten (15 Endfassungen)
Datierung: 12.11.1950 – 14.12.1951
Textträger: Rotes Notizbuch, liniert, Bleistift
Umfang: 144 beschriebene Seiten
Publikation: Verstreutes (3 Gedichte)
Signatur: C-2-b/04 (Schachtel 79)

Bilder: Ganzes Buch (pdf)
Spätere Stufen: Manuskripte 1948-51, Typoskripte 1948-50, Kutter
Kommentar: 29 Texte rhythmische Prosa, 20 gereimte Gedichte, 14 reine Prosanotate und Briefentwürfe
Deckblatt oben: Kuno Räber, Mitte: Begonnen am 12.11.50
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften

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