Donnerstag, 06 Januar 1949

Unfähigkeit mich der Welt und ihren Forderungen anzupassen …*

Unfähigkeit mich der Welt und ihren Forderungen anzupassen. Steter Konflikt zwischen innerer und äusserer Realität. Einsicht in die Notwendigkeit des Kompromisses (um überhaupt leben zu können) Aber gänzliches Versagen vor der Aufgabe, den Kompromiss zu erreichen.

02 Die Fähigkeit zu wissenschaftlicher Tätigkeit // 076 verliert sich immer mehr, die Möglichkeit wissenschaftlich zu denken und zu folgern verringert sich mir, je mehr mein Wille zur dichterischen Arbeit wächst. 

03 Aber mit Dichtung allein lässt sich nun einmal nichts anfangen: schon der sachliche Erfolg dabei, die Anerkennung, die rein platonische Anerkennung durch die Umwelt ist dabei sehr fraglich, der materielle Erfolg für die nächsten Jahre auf jeden Fall ausgeschlossen und für später nicht wahrscheinlich. 

04 Und ich muss leben, rein physisch muss ich meine Existenz bestreiten können, ich muss ein Minimum an Ansehen in der Gesellschaft erstreben: ich bin viel zu empfindsam, mein Gleichgewicht viel zu labil – leider muss ich es sagen, aber vielfache Erfahrung zeigt es mir unwiderleglich – meine Substanz viel zu verletzbar, // 077 als dass ich mir die völlige Trennung, die scharfe Abspaltung vom Menschlichen leisten könnte ohne schwerste Gefahren zu laufen: meine Neigung zu Depressionen könnte sich wieder so verstärken, dass ich gänzlich arbeits- und fühlunfähig würde. Dann wäre aber nichts erreicht, aller „Heroismus“ vergeblich, der Einsatz hätte sich nicht gelohnt.

05 Es muss mir gelingen, zu schweben, mich zu halten im Raum der menschlichen Gesetze und meiner eigenen inneren. Mit oder ohne Studium, mit oder ohne Examen. Solche Dinge sind Mittel, die man einsetzt oder verwirft, je nach Zweckmässigkeit, sine ira et studio!


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01 Unfähigkeit mich der Welt und ih-

ren Forderungen anzupassen. Steter Kon-

flikt zwischen innerer und äusserer Reali-

tät. Einsicht in die Notwendigkeit des Kom-

promisses (um überhaupt leben zu können)

Aber gänzliches Versagen vor der Aufgabe,

den Kompromiss zu erreichen.

02 Die Fähigkeit zwi¿ zu wissenschaftlicher Tätig- //

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keit verliert sich immer mehr, die Mög-

lichkeit wissenschaftlich zu denken und zu

folgern verringert sich mir, je mehr mein

Wille zur dichterischen Arbeit wächst. 

03 Aber mit Dichtung allein

lässt sich nun einmal nichts anfangen:

schon der sachliche Erfolg dabei, die An-

erkennung, die rein platonische An-

erkennung durch die Umwelt ist dabei

sehr fraglich, der materielle Erfolg

für die nächsten Jahre auf jeden Fall

ausgeschlossen und für später nicht

wahrscheinlich.

04 Und ich muss leben, rein physisch

muss ich meine Existenz bestreiten kön-

nen, ich muss ein Minimum an An-

sehen unter den in der Gesellschaft

erstreben: ich bin viel zu empfind-

sam, mein Gleichgewicht viel zu

labil – leider muss ich es sagen, aber

vielfache Erfahrung zeigt es mir unwiderleg-

lich – meine Substanz viel zu verletzbar, //

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als dass ich mir die völlige Trennung, die scharfe

Abspaltung vom vom Menschlichen leisten

könnte ohne schwerste Gefährdung Gefahren

zu laufen: meine Neigung zu Depressio-

nen könnte sich wieder so verstärken, dass

ich gänzlich arbeits- und fühlunfähig

würde. Dann wäre aber nichts erreicht,

aller „Heroismus“ vergeblich, der Ein-

satz hätte sich nicht gelohnt.

05 Es muss mir gelingen, zu schwe-

ben, mich zu halten im Raum der mensch-

lichen Gesetze und meiner eigenen in-

neren. Mit oder ohne Studium, mit oder

ohne Examen. Solche Dinge sind Mittel,

die man einsetzt oder verwirft, je nach Zweck-

mässigkeit, sine ira et studio!

6.1.49

 

  • Besonderes:

    Vgl. Tagebuch, 6.1.1949 (Werke 6, S. 110-111)

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Prosanotat
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: C-2-b/01
  • Seite / Blatt: 075 (unten), 076, 077

Inhalt: Notizen, 71 Entwürfe zu 51 Gedichten (5 Endfassungen)
Datierung: 1948 – 1.3.1949 (Datierungen ab 10.11.1948; S. 1-51 undatiert)
Textträger: Braunes Notizbuch, beschriftet "Notes"; liniert, Bleistift
Umfang: 96 beschriebene Seiten
Publikation: Gesicht im Mittag (1); Verstreutes (2)
Signatur: C-2-b/01 (Schachtel 79)
Bilder: Ganzes Buch (pdf)

Spätere Stufen: Manuskripte 1948-51, Typoskripte 1945-50, 1948-50
Kommentar: 10 Texte rhythmische Prosa, 7 reine Prosanotate und Briefentwürfe
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen

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