Dienstag, 16 November 1948

Sehr g. H. Prof. …*

Wenn ich heute mein Dissertationsthema in Ihre Hände zurücklege, so tue ich das nicht unüberlegt. Der Entschluss dazu ist das Ergebnis eines langen inneren Kampfes: 

02 ich nahm im Herbst 1946 das Geschichtsstudium wieder auf im Zustand einer völligen innern Ratlosigkeit und Apathie, aus der Vorstellung, es liesse sich der tote Punkt bei andauernder und irgendwie doch zielgerichteter geistiger Tätigkeit am besten überwinden. Darin täuschte ich mich nicht. Im Sommer 1947 bat ich Sie um ein Dissertationsthema, weil ich sah, dass die Voraussetzungen für mein Universitätsstudium (auch die finanziellen) // 055 bald nicht mehr gegeben sein könnten, und ich so, den Wünschen meiner Familie gemäss, möglichst schnell abschliessen wollte. 

03 Es kam dieser Entschluss offenbar schon zu spät: seit dem Sommer 47 änderte sich in mir alles so schnell (dass es sich ändern würde, wusste ich stets, aber ich rechnete nicht mit so plötzlicher Entwicklung) dass ich seit dem Frühjahr, eingeklemmt zwischen der wissenschaftlichen Arbeit und den mich innerlich täglich vollständiger beanspruchenden poetischen Versuchen, den Gedanken an Aufgabe des Studiums zu erwägen begann. 

04 Nun, alle meine Freunde rieten mir und raten mir noch heftig // 056 ab. Ich selber sehe das Bedenkliche eines solchen Schrittes sehr genau. Dennoch will ich ihn jetzt tun: die innere Spaltung wird täglich fataler. Und mein Begriff von der Wissenschaft ist einerseits zu hoch, als dass ich glauben könnte, mit halbem Herzen etwas leisten zu können. Anderseits reicht ganz einfach meine innere Kraft nicht aus zur Bewältigung zweier so verschiedener, für mich jedenfalls ganz verschiedener, Aufgaben. 

05 Abgesehen davon, dass meine Familie nicht mehr in der Lage ist, mich weiterhin finanziell zu unterstützen. 

06 Ich weiss sehr genau, dass ich mit diesem Entschluss mich für die Zukunft kaum auf Rosen betten werde. Und dieser Gedanke // 057 trug das Seine dazu bei, dass ich so lange zögerte. 

07 Sehr verehrter Herr Prof., ich wäre Ihnen herzlich dankbar, wenn Sie mir diesen brüsken und vielleicht für Ihr Empfinden unvernünftigen Austritt aus Ihrer Wissenschaft nicht allzu sehr verübeln würden: ich verdanke Ihnen zu viel – es ist dies ein aufrichtiges Bekenntnis – und verehre Sie zu hoch, als dass ich Ihren Groll ganz gelassen hinnehmen könnte. 

Ihr sehr ergebener


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Sehr g H. Prof.


01 Wenn ich heute mein Dis-

sertationsthema in Ihre Hände zu-

rücklege, so tue ich das nicht unüber-

legt. Der Entschluss dazu ist das

Ergebnis eines langen inneren Kamp-

fes:

02 ich nahm im Herbst 1946 das Ge-

schichtsstudium wieder auf im Zu-

stand einer völligen innern Ratlo-

sigkeit und Apathie,aus
sigkeit und Apathie, in der Vor-

stellung, es liesse sich der tote Punkt

bei andauernder und irgendwie

doch zielgerichteter geistiger Tätig-

keit am besten überwinden.

Darin täuschte ich mich nicht. Im

Sommer 1947 bat ich Sie um ein

Dissertationsthema, weil ich sah, dass

sich alles immer schneller verän-

derte die Voraussetzungen für mein

Universitätsstudium (auch die finan- //

Seite 055 (C-2-b_01_055.jpg)

ziellen) bald nicht mehr gegeben

sein könnten, und ich so, den

Wünschen meiner Familie gemäss,

möglichst schnell abschliessen

wollte. 

03 Es war kam dieser Entschluss of-

fenbar schon zu spät: seit dem

Sommer 47 vänderte sichin
Sommer 47 wendete¿ sich  mir alles

so schnell (dass es sich wenden

würde ändern würde, wusste ich

stets, aber ich rechnete niemals mit

nicht mit so plötzlicher Entwicklung)

dass ich mir heute seit dem
dass ich mir heute seit dem

Frühjahr, eingeklemmt zwischen

der wissenschaftlichen Arbeit und

den mich innerlich täglich vollstän-

diger beanspruchenden poetischen

Versuchen, den Gedanken an Auf-

gabe des Studiums zu erwägen be-

gann. 

04 Nun, alle meine Freunde rieten

mir und raten mir noch heftig //

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ab. Ich selber sehe das Bedenkliche

eines solchen Schrittes sehr genau.

Dennoch wird¿ will ich ihn jetzt tun:

die innere Spaltung wird täglich

fataler. Und meine Kenntnis×
fataler. Und meine Begriff von

der Wissenschaft ist einerseits zu

hoch, als das ich glauben könnte,

mit halbem Herzen etwas lei-

sten zu können. Anderseits reicht

ein ganz einfach meine innere Kraft

Kraft nichaus
Kraft nicht  zur Bewältigung zwei-

er so verschiedener, für mich jeden-

falls ganz verschiedener, Auf-

gaben. 

05 Abgesehen davon, dass meine Fa-

milie nicht mehr in der Lage ist,

mich weiterhin finanziell zu unter-

stützen. 

06 Ich weiss sehr genau, dass ich mit

diesem Entschluss mich für die

Zukunft mich kaum auf Rosen

betten werde. Und dieser Gedan-

× Begriff //

Seite 057 (C-2-b_01_057.jpg)

ke trug das Seine dazu bei,dass
ke trug das Seine dazu bei, als

ich ihn so lange erwog. zögerte. 

07 Sehr verehrter Herr Prof.,

ich wäre Ihnen herzlich dankbar,

wenn Sie mir meinen Plan nicht

allzu übel nähmen. diesen brüsken

und vielleicht für Ihr Empfin-

den unvernünftigen Austritt aus

Ihrem Ihrer Wissenschaft nicht

allzu sehr verübeln würden: ich ver-

danke Ihnen zu viel – es ist dies

ein aufrichtiges Bekenntnis – und

verehre Sie zu hoch, als dass ich

Ihren Groll ganz gelassen hin-

nehmen könnte. 

Ihr sehr ergebener

16.11.48

 

  • Details:

    Abs. 04 Emendationen: meine Begriff → mein Begriff; als das → als dass

  • Besonderes:

    Adressat: Prof. Werner Kaegi

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Brief
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: C-2-b/01
  • Seite / Blatt: 054, 055, 056, 057 (oben)

Inhalt: Notizen, 71 Entwürfe zu 51 Gedichten (5 Endfassungen)
Datierung: 1948 – 1.3.1949 (Datierungen ab 10.11.1948; S. 1-51 undatiert)
Textträger: Braunes Notizbuch, beschriftet "Notes"; liniert, Bleistift
Umfang: 96 beschriebene Seiten
Publikation: Gesicht im Mittag (1); Verstreutes (2)
Signatur: C-2-b/01 (Schachtel 79)
Bilder: Ganzes Buch (pdf)

Spätere Stufen: Manuskripte 1948-51, Typoskripte 1945-50, 1948-50
Kommentar: 10 Texte rhythmische Prosa, 7 reine Prosanotate und Briefentwürfe
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen

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