Sonntag, 27 Februar 1955

Schweizerische Satire (B)

Die Erhaltung der Unabhängigkeit des Vaterlandes ist das höchste
Ziel und die höchste Pflicht der Behörden, sie zu verteidigen gegen
alle Gefahren, die von aussen ihr drohen:
Denn der Feind ist der Nachbar.

05 Früher war es noch einfach, als es Heere gab zum Bekämpfen,
die Österreicher, gepanzerte Ritter, zum Beispiel.
Heute aber ist es viel schwieriger, weil der
Feind durch tausend Ritzen eindringt in unser verwahrtes,
geschlossnes, wohl gereinigtes Haus:
10 Der Feind ist der Nachbar.

Er hat seine Waffen seit jenen heroischen Zeiten
geschärft und kunstvoll verfeinert.
Und als er vor Jahrzehnten mit Büchern und mit
seiner Zeitschriften Giftflut trug schlüpfriges, ja
15 undemokratisches Gedankengut in die
alpenunschuldige Seele unserer Jugend,
da bauten wir geschickt eine Schanze mit unsern 
eigenen währschaften Büchern, gletscherbachlautern Reimen.
So verloren die staatsgefährlichen Reden von der germanischen Rasse, 
20 gottlob, bald den Atem im laut geläuteten Lob des
runden Sennenschädels und in der keltisch-alemannischen
Idiome urhaftem Lallen. So wurde die Fahne, // 02
„wo Berge sich erheben“, auf der Zinne der Alpen gerettet,
Tells Hemd rein bewahrt von den Schmutzspritzern des Feindes: 
25 Denn der Feind ist der Nachbar!

Nicht ruhig lässt er uns schlafen nur eine Nacht. 
Wir haben an die Stelle seines Papiers – mit amerikanischer Hilfe –
das unsre gelegt; in die Kioske gelegt, wir haben
seinen Rundfunk übertönt mit dem unsren. Und seine
30 Waren, dank der Schweizerwoche, wurden von unsern Bürgern
– „stehn wir den Felsen gleich“  – nicht mehr gekauft. Und schon hat er
einen neuen Anschlag ersonnen:  er überstrahlt
mit seinen Fernsehsendern unsere wehrlosen Städte.
Mit seinem Kabarett, seinem Zirkus dringt er in unsere Häuser,
35 dringt er in die alpenglühroten Abende unserer Kinder.
Mit seinen fremden Visagen verfälscht er die Essenz des Jahrtausends:
das schweizerische Antlitz,
mit seiner herrschsüchtigen, künstlichen Sprache schon wieder, schon wieder
(haben wir sie nicht eben endgültig eingesargt in die Bücher?) den traulichen
Nestlaut des Ländchens.
Unser Nationaldrama zwar schrieb uns der Schwabe Schiller, und auch
40 Keller und Meyer, die Schweizer Dichter par excellence, bedienten sich
seiner Sprache:
es blieb ihnen nichts anderes übrig. Der Helvetismus aber war damals wie immer
schon im Gemüt und im Geblüt der Schweizer. Aber zur // 03
bewussten Weltanschauung, zur Ideologie, die dem helvetischen Menschen
allein und einzig entspricht,
vollendete er sich erst in unserer Epoche: So gründen wir denn heute
eine Behörde,
45 eine Kommission aus vaterlandsliebenden Männern, dass sie einen Plan
aufstellen, würdig der Männer von Sempach und Morgarten, mit unserem
Kabarett und unserem Zirkus die seichten Fernsehprogramme des Feinds
zu zermalmen,
wie mit Felsblöcken am Morgarten vor kurzem; seine Speere ihm
zu entreissen und, umgedreht, mit helvetischer Spitze,
50 ihm zurückzusenden, wie Winkelried es tat bei Sempach vor kurzem:
Denn der Feind ist der Nachbar.

Lasst uns eine Mauer bauen und davor legen Stacheldrahtrollen,
elektrisch geladne, haushoch um unser Land, mit einigen
Lücken freilich für den Fremdenverkehr. Lasst uns mit
55 Radarstrahlen fremden Rundfunk, Bildfunk (schweizerisch: Television),
alles Fremde überhaupt abwehren von der sauber getünchten
Fassade der Schweiz. Wir haben gekämpft am Morgarten, bei Sempach, bei
Dornach und Marignano, // 04
das ist genug. Wir haben genug von der Geschichte, wir wollen jetzt endlich
unsere Rente (schweizerisch: Pension) friedlich verzehren. Unsre Geschichte
60 war gross und anstrengend genug: man denke an Tell!
Lasst uns austreten aus der Geschichte, aus der Welt überhaupt:
wir schicken ihr Liebesgaben und in den Kriegen – die sind eben nicht
zu vermeiden – Rotkreuzkommissionen.
Das ist mehr als genug. Sonst aber „da wo der Alpenkreis dich nicht
zu schützen weiss, 
Wall dir von Gott,
stehn wir den Felsen gleich, nie vor Gefahren bleich,
Schmerz uns ein Spott.“

  • Besonderes:

    Fortsetzungen 28.2.1955 (V. 36ff:), 1.3.1955 (V. 50ff.); 4 Blätter, mit Bleistift beschrieben; verso: Typoskript Dissertation

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Verse
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Fassung: Letzte Fassung
  • Strophen: ja
  • Signatur: A-3-f
  • Seite / Blatt: 05, 06, 07, 08

Inhalt: Manuskripte aus verschiedenen Dossiers außerhalb der normalen archivalischen Zuordnung

Wiedergabe: Edierte Texte

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