Montag, 03 Januar 1955

Schweizerische Satire (A)

Die Erhaltung der Unabhängigkeit des Vaterlandes ist das höchste
Ziel und die höchste Pflicht der Behörden, sie zu verteidigen gegen
alle Gefahren, die von aussen ihr drohen: Denn der Feind ist das 
Ausland.
Früher war es noch einfach, als es Heere gab zum Bekämpfen,
05 die Österreicher zum Beispiel, gepanzerte Ritter.
Heute aber ist die Gefahr viel grösser, weil der Feind
durch tausend Ritzen eindringt in unser verwahrtes, geschlossnes,
wohl gereinigtes Haus: Der Feind ist das Ausland! 
Er hat seine Waffen seit jenen heroischen Zeiten
10 geschärft und kunstvoll verfeinert.
Und als er vor Jahrzehnten mit seinen Büchern
und mit der giftigen Flut seiner Zeitschriften
schlüpfriges und undemokratisches Gedankengut trug in die alpen-
unschuldige Seele unserer Jugend, bauten wir geschickt eine
Schanze
mit unsern eignen währschaften Büchern, mit unsern gletscherbachhellen
Reimen:
15 So verloren die staatsgefährlichen Reden von der germanischen
Rasse, gottlob, bald den Atem // 02
im laut geläuteten Lob des runden Sennenschädels,
im urhaften Lallen der keltisch-alemannischen Idiome.
So wurde die Fahne auf der Zinne der Alpen gerettet,
das Hirtenhemd rein bewahrt von den Schmutzspritzern des Feindes.
20 Denn der Feind ist das Ausland!
Nicht ruhig lässt er uns schlafen nur eine Nacht:
Wir haben an die Stelle seines Papiers das unsre gesetzt
in den Kiosken, wir haben seine Rundfunkprogramme
übertönt mit unseren eignen. Und seine Waren
25wurden, dank der Schweizerwoche, von unseren aufrechten Bürgern
nicht mehr gekauft. Und schon heckt er eine neue Gewalttat aus:
er überstrahlt mit seinen Fernsehsendern unsere wehrlosen Städte.
Mit seinen Reimen, seinen Songs, seinen Sketschs dringt er ein
in unsere Häuser,
schlimmer noch: in die lauteren Schweizerherzen der Kinder.

30 Mit seinen fremden Visagen will er verdrängen die reine Essenz
des Jahrtausends: das schweizerische Antlitz, 
mit seiner herrschsüchtigen, künstlichen Sprache schon wieder,
schon wieder
(haben wir sie nicht eben endgültig vertrieben?) den traulichen
Urlaut der Alpen.
Unser Nationaldrama zwar schrieb uns der Schwabe Schiller, und auch
Keller und Meyer, die Schweizer Dichter par excellence, bedienten sich
seiner Sprache:
35 man wusste es damals nicht besser:
Der Helvetismus war damals,
wie immer, 
zwar schon im Gemüt und im Geblüt der Schweizer. Aber zur
bewussten Weltanschauung, zur Ideologie, die dem helvetischen
Menschen allein und einzig entspricht, // 03
vollendete er sich erst in dieser Epoche: So gründen wir denn heute
eine Kommission von vater<lands>liebenden Männern,
dass sie einen Plan aufstellen, würdig der Helden von Morgarten und Sempach, 
40 mit unsern Songs und Sketschs und Reimen die seichten Fernsehprogramme
des Feinds zu zermalmen
(Denn der Feind ist das Ausland.), wie mit Felsblöcken am Morgarten
vor kurzem;
seine Speere ihm zu entreissen und, umgedreht, alpin gereinigt und in
helvetische Lautung gewendet 
ihm zurückzusenden, wie Winkelried es tat bei Sempach vor kurzem.
Lasst uns eine Mauer bauen, nein, Stacheldrahtrollen,
elektrisch geladne, haushoch legen um unser Land, 
45 mit einigen Lücken freilich für den Fremdenverkehr. Lasst uns mit
Radarstrahlen fremden Rundfunk, Bildfunk (schweizerisch: Television),
fremde Gedanken überhaupt abwehren (vor allem aus der nächsten
Umgebung,) von der Ewigen¿ Schweiz.
Wir haben gekämpft bei Morgarten, Sempach, bei Dornach und Marignano, 
das ist genug. Wir haben genug von der Geschichte, wir wollen jetzt endlich
50 unsere Rente (schweizerisch: Pension) friedlich verzehren. Unsere Geschichte
war gross und anstrengend genug: man denke an Tell!
Lasst uns austreten aus der Geschichte, aus der Welt überhaupt:
wir schicken ihr Liebesgaben und in den Kriegen – die sind eben
unvermeidlich – Rotkreuzkommissionen. // 04
Das ist genug, übergenug. Sonst aber „da wo der Alpenkreis dich nicht
zu schützen weiss, Wall dir von Gott,
35 stehn wir den Felsen gleich, nie vor Gefahren bleich; Heil dir Helvetia,

hast noch der Söhne ja, wie sie St. Jakob sah,
Schmerz uns ein Spott.“

  • Besonderes:

    Fortsetzung (V. 19ff.) 6.1.1955; 4 Blätter, mit Bleistift beschrieben; verso: Typoskript Dissertation

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Verse
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Signatur: A-3-f
  • Seite / Blatt: 01, 02, 03, 04

Inhalt: Manuskripte aus verschiedenen Dossiers außerhalb der normalen archivalischen Zuordnung

Wiedergabe: Edierte Texte

Weitere Fassungen

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