Synopse

(8)
Donnerstag, 20 Juni 1957    (    )

Der Fisch

Die Fischhändlerin leert den Eimer auf die Strasse: Es fällt nicht ins Gewicht gegen den glühenden Asphalt
und ist schon, bevor es die Strasse begriff, nicht mehr da und verdunstet.

Seit ich einmal, herumfahrend in meinem
Wasser, durch meine Kiemen dies stille,
dies kühle, dies flüssige treibend und ziehend,
Betrachtung des namenlosen, darin ich 
05 still lebe, das mich dahinträgt.

Seit ich einmal hinauf stiess, gelockt
von einer Stelle höheren Glanzes und grösserer Wärme:

von dort, hiess es, war
irgendwoher einmal der Meteor,
10 der Fremdstein, die fremde Koralle // 031
herabgekommen und hatte von den unsern viele getötet.
Nun liegt sie da, in den Augen Seesterne,
auf der Brust Polypen:
Bild eines Hochfischs. Wie verzehrt uns
15 Begier, ihm ähnlich zu werden. …

Seit ich einmal hinaufstiess in die Richtung,
wo höherer Glanz und grössere Wärme
mir den Ort des Eintritts verhiessen:
fürchte ich mich:
20 denn ich stiess in die Leere. Was
uns alle umgibt,
die kühle, die flüssige namenlose Betrachung // 032
war nicht mehr da:
Nichts war da und eine unerbittliche Hitze.
25 Mir stockte die Bewegung der Kiemen.
Die Flossen fanden nicht mehr das Allgemeine,
dagegen zu fächeln.
Es war das Ende der Welt.

Kam der Hochfisch herab von dort?
30 Gehn wir dahin und verlieren 
Kiemen und Flossen?
Durch wieviele Tode?

Nun aber sinkt ein anderer Hochfisch herab,
weich und faulend, auf den weissen, harten: // 033
35 Sind wir nur noch letzte Söhne des Hochfischs,
eine Abart, die sich erhielt,
weil es dort, jenseits, im Leeren, 
zu leben unmöglich?

Der Hochfisch war, vielleicht, nur eine Übertreibung.
40 Hier muss man bleiben in der blauen, kühlen Betrachtung
und die durch Wärme und Glanz verdächtigen Stellen vermeiden.
Aber ich wohne ab morgen in dem einen noch leeren
Ohr des harten, in der Welt nun schon heimischen Hochfischs: // 034
Dort ist die Erinnerung an das, was zu erforschen ich aufgab,
45 eben erträglich und rund 
umfängt mich die Mahnung vor aller
Ausschweifung:
Und täglich sag ich mir zehnmal, am besten
nachmittags, vor:
50 Nichts gibt es, nichts gibt es ausser hier.
Dort draussen lebt niemand, dort ist nur die Leere.

In: Notizbuch 1957-58
Freitag, 23 August 1957    (    )

Der Fisch und der versunkene Poseidon (A)

Die Fischhändlerin leert
den Eimer aus auf die Strasse; das Wasser 
kommt nicht auf gegen den heissen Asphalt 
und ist schon, bevor er es nur 
05 begriff, nicht mehr da und verdunstet. – 

Der Fisch aber war heute früh, 
als man ihn fing, 
mit seinen Gedanken gerade so weit gekommen: 

„Seit ich einmal hinaufstiess, gelockt 
10 von höherem Glanz und grösserer Wärme 
(von dort, hiess es, war 
vor langem der Meteor, der Fremdstein, 
herabgekommen und hatte viele getötet. 
Seither liegt er, Seesterne // 01v
15 im Ohr, da, Polypen 
auf der Brust; das Bild eines Hochfischs. Wie sehr 
verzehrt uns Begier, ihm ähnlich zu werden …), 

seit ich einmal hinaufstiess, 
wo höherer Glanz und grössere Wärme 
20 mir den Ort seines Eintritts verhiessen, 
fürchte ich mich: Das Kühle 
das Flüssige, was sich von selber versteht, 
war nicht mehr da. Mir stockte 
die Bewegung der Kiemen. Die Flossen 
25 fanden nicht mehr den sanften 
Wiederstand des Allgemeinen, des Alls 
sich fächelnd voranzubewegen. … 

Kam der Hochfisch von dort? 
Gehn wir dahin und verlieren Kiemen und Flossen? 
30 Durch wieviele Tode? // 02r

Kürzlich sank ein zweiter, ein kleiner, ein dunkler, ein weicher 
Hochfisch herab auf den weissen und harten: 
Eine Abart, schon geschwächt und verringert, 
weil es dort, jenseits, im Leeren, 
35 zu leben unmöglich? 

Der Hochfisch war wohl nur eine Übertreibung. 
Hier muss man bleiben und die durch Wärme und Glanz 
verdächtigen Höhen vermeiden. 
Aber wohnen will ich ab morgen 
40 in dem einen noch leeren Ohr des grossen, 
des schönen Hochfischs. Dort ist die 
Erinnrung an das, was zu erforschen ich aufgab, noch eben 
ein Ansporn, besser zu werden und zugleich 
eine Warnung vor aller Ausschweifung. …“

45 Hier war der Fisch heute früh, gerade bevor man ihn fing. 
Doch das Wasser, das die Händlerin ausgiesst, 
kommt gegen den heissen 
Asphalt der Strasse nicht auf // 02v
und ist schon, bevor er es nur 
50 begriff, nicht mehr da und verdunstet.

In: Manuskripte 1957
Dienstag, 26 November 1957    (    )

Der Fisch und der versunkene Poseidon (B)

Die Fischhändlerin leert
den Eimer aus auf die Strasse; das Wasser 
kommt gegen den heissen 
Asphalt der Strasse nicht auf 
05 und ist schon, bevor er es nur 
begriff, verdunstet und nicht mehr da. 

Der Fisch aber war heute früh, 
als man ihn fing, 
(mit seinen Gedanken) gerade so weit gekommen: 

10 „Seit ich einmal hinaufstiess, gelockt 
von dem helleren Licht und der grösseren Wärme 
(von dort, heisst es, war 
vor langem der Riese, der Meteor 
herabgekommen und hatte viele getötet. // 03v
15 Seither liegt er, Seesterne 
im Ohr, da, Polypen 
auf der Brust; das Bild eines Hochfischs. Wie sehr 
quält mich, dass ich ihm nicht ähnlicher bin … .), 

seit ich einmal hinaufstiess, 
20 wo helleres Licht und grössere Wärme 
den Ort seines Eintritts bezeichnen, 
fürchte ich mich: Das Kühle, 
das Flüssige, was sich von selber versteht, 
war nicht mehr da. Mir erstarrten 
25 die Kiemen. Die Flossen 
fanden nicht wieder den sanften 
Widerstand des Allgemeinen, des Alls 
um sich fächelnd voranzubewegen … . 

Kam der Hochfisch von dort? 
30 Gehn wir dorthin und verlieren Kiemen und Flossen? 
Durch wieviele Tode? // 04r

Vor kurzem sank ein kleiner, ein dunkler, ein weicher 
Hochfisch herab auf den grossen weissen und harten: 
vielleicht eine Abart, 
35 schon geschwächt und verringert, 
weil es dort, jenseits, im Leeren, 
auf die Dauer zu leben unmöglich? 

Der Hochfisch war eine Übertreibung. 
Unten muss man bleiben und die durch Wärme und Licht 
40 verdächtigen Höhen vermeiden. 
Wohnen will ich von morgen 
ab in dem einen noch leeren 
Ohr des grossen Hochfischs. Dort ist 
die Erinnerung an das, was zu erforschen 
45 ich aufgab, noch eben ein Ansporn, 
besser zu werden, und zugleich eine Warnung // 04v
vor allem Zuviel. …“

Hier war der Fisch heute früh, 
gerade als man ihn fing. 
50 Doch das Wasser, das die Händlerin ausgiesst, 
kommt gegen den heissen 
Asphalt der Strasse nicht auf 
und ist schon, bevor er es nur 
begriff, verdunstet und nicht mehr da.

In: Manuskripte 1957
Sonntag, 01 Dezember 1957    (    )

Der Fisch und der versunkene Poseidon (C)

Die Fischhändlerin leert
den Eimer aus auf die Strasse: das Wasser 
kommt nicht auf gegen den heissen 
Asphalt und ist, kaum 
05 er es nur begriff, schon verdunstet. 

Der Fisch aber war, 
als man ihn fing heute früh, 
gerade so weit gekommen: 
„Seit ich einmal, von Licht und Wärme 
10 gelockt, dorthin hinaufstiess, 
von wo vor langem der Riese // 05v
viele der unsern erschlagend, 
herabgestürzt war: 
der Meteor, der seither, Seesterne 
15 im Ohr, auf der Brust 
Polypen, daliegt, das Bild eines Hochfischs … 

Seit ich einmal hinaufstiess, 
fürchte ich mich: Das Kühle 
war nicht mehr da, mir erstarrten 
20 die Kiemen. Die Flossen 
fanden keinen Widerstand mehr, 
sich fächelnd voran zu bewegen … . 

Kam der Hochfisch von dort, gehn wir 
alle dorthin und verlieren Kiemen und Flossen? 
25 Durch wieviele Tode? // 06r

Vor kurzem sank ein kleiner und weicher 
Hochfisch auf den grossen und harten: 
eine Abart, schon geschwächt, 
weil es jenseits im Leeren 
30 auf die Dauer zu leben unmöglich? 

Der Hochfisch war Übertreibung. 
Unten muss man bleiben und die 
durch Wärme und Licht 
verdächtigen Höhen vermeiden. 
35 Wohnen will ich von morgen 
an in dem noch freien 
Ohr des grossen Hochfischs. Dort ist 
die Erinnerung Ansporn und Warnung zugleich. …“ // 06v

Hier war der Fisch heute früh, 
40 gerade als man ihn fing. 
Doch das Wasser, das die Händlerin ausgiesst, 
kommt gegen den heissen 
Asphalt der Strasse nicht auf 
und ist, kaum er es nur 
45 begriff, schon verdunstet.

In: Manuskripte 1957
Montag, 23 Dezember 1957    (    )

Der Fisch und der versunkene Poseidon (D)

Die Fischhändlerin leert
den Eimer aus auf die Strasse: das Wasser 
kommt nicht auf gegen den heissen 
Asphalt und ist, kaum 
05 er es nur begriff, schon verdunstet. 

Der Fisch aber war 
gerade so weit 
als man ihn fing heute früh: 
„Seit ich einmal ins Licht
10 und in die Wärme hinaufstiess, 
von wo vor langem der Hochfisch, der seither, 
Seesterne im Ohr, auf der Brust 
Polypen, im Grund liegt, 
herabgestürzt war: 

15 Seit ich einmal hinaufstiess, 
fürchte ich mich: Das Kühle 
war nicht mehr da. Mir erstarrten 
die Kiemen. Die Flossen 
fanden nicht Widerstand mehr, 
20 sich voran zu bewegen… 

Gehn wir alle dorthin und verlieren 
wie der Hochfisch Kiemen und Flossen?: 
Nach wievielen Toden? // 07v

Der Hochfisch war Uebertreibung. 
25 Unten muss man bleiben und die 
verdächtigen Höhen vermeiden. 
Wohnen will ich von morgen 
an in seinem noch freien 
Ohr, wo die Erinnerung ist
30 Ansporn und Warnung zugleich …“

Gerade so weit war der Fisch, 
als man ihn fing, heute früh. 
Doch das Wasser, das die Händlerin ausgiesst, 
kommt gegen den heissen 
35 Asphalt der Strasse nicht auf 
und ist, kaum er es nur 
begriff, schon verdunstet.

In: Manuskripte 1957
Datiert: 1957    (    )

Der Fisch und der versunkene Poseidon

Die Fischhändlerin leert
den Eimer aus auf die Strasse: das Wasser
kommt nicht auf gegen den heissen
Asphalt und ist, kaum
05 er es nur begriff, schon verdunstet.

Der Fisch aber war
gerade so weit,
als man ihn fing heute früh:
"Seit ich einmal ins Licht
10 und in die Wärme hinaufstiess,
von wo vor langem der Hochfisch, der seither,
Seesterne im Ohr, auf der Brust
Polypen, im Grund liegt,
herabgestürzt war:

15 Seit ich einmal hinaufstiess,
fürchte ich mich: Das Kühle
war nicht mehr da. Mir erstarrten
die Kiemen. Die Flossen
fanden nicht Widerstand mehr,
20 sich voran zu bewegen …

Gehn wir alle dorthin und verlieren
wie der Hochfisch Kiemen und Flossen?:
Nach wievielen Toden? // 01v
Der Hochfisch war Uebertreibung. Unten
25 muss man bleiben und die
verdächtigen Höhen vermeiden.
Wohnen will ich von morgen
an in seinem noch freien
Ohr, wo die Erinnerung
30 Ansporn und Warnung zugleich ist … "

Gerade so weit war der Fisch,
als man ihn fing heute früh.
Doch das Wasser, das die Händlerin ausgiesst,
kommt gegen den heissen
35 Asphalt der Strasse nicht auf
und ist, kaum er es nur
begriff, schon verdunstet.

In: Typoskripte 1957
Datiert: 1958    (    )

Der Fisch und der versunkene Poseidon

Die Fischhändlerin leert
den Eimer aus auf die Straße: das Wasser
kommt nicht auf gegen den heißen
Asphalt und ist, kaum
05 er es nur begriff, schon verdunstet.

Der Fisch aber war
gerade so weit,
als man ihn fing heute früh:
»Seit ich einmal ins Licht
10 und in die Wärme hinaufstieß,
von wo vor langem der Hochfisch, der seither,
Seesterne im Ohr, auf der Brust
Polypen, im Grund liegt,
herabgestürzt war:

15 Seit ich einmal hinaufstieß,
fürchte ich mich: Das Kühle
war nicht mehr da. Mir erstarrten
die Kiemen. Die Flossen
fanden nicht Widerstand mehr,
20 sich voran zu bewegen …

Gehn wir alle dorthin und verlieren
wie der Hochfisch Kiemen und Flossen?:
Nach wievielen Toden?
Der Hochfisch war Übertreibung. Unten
25 muß man bleiben und die
verdächtigen Höhen vermeiden.
Wohnen will ich von morgen
an in seinem noch freien
Ohr, wo die Erinnerung
30 Ansporn und Warnung zugleich ist … «

Gerade so weit war der Fisch,
als man ihn fing heute früh.
Doch das Wasser, das die Händlerin ausgießt,
kommt gegen den heißen
35 Asphalt der Straße nicht auf
und ist, kaum er es nur
begriff, schon verdunstet.

In: Verstreutes
Datiert: 1960    (    )

DER FISCH UND DER VERSUNKENE POSEIDON

Die Fischhändlerin leert
den Eimer aus auf die Straße: das Wasser
kommt nicht auf gegen den heißen
Asphalt und ist, kaum
05 er es nur begriff, schon verdunstet.

Der Fisch aber war
gerade so weit,
als man ihn fing heute früh:
»Seit ich einmal ins Licht
10 und in die Wärme hinaufstieß,
von wo vor langem der Hochfisch, der seither,
Seesterne im Ohr, auf der Brust
Polypen, im Grund liegt,
herabgestürzt war:

15 Seit ich einmal hinaufstieß,
fürchte ich mich: Das Kühle
war nicht mehr da. Mir erstarrten
die Kiemen. Die Flossen
fanden nicht Widerstand mehr,
20 sich voran zu bewegen …

Gehn wir alle dorthin und verlieren
wie der Hochfisch Kiemen und Flossen?
Der Hochfisch war Übertreibung. Unten
muß man bleiben und die
25 verdächtigen Höhen vermeiden.
Wohnen will ich von morgen
an in seinem noch freien
Ohr, wo die Erinnerung
Ansporn und Warnung zugleich ist … « // 013

30 Gerade so weit war der Fisch,
als man ihn fing heute früh.
Doch das Wasser, das die Händlerin ausgießt,
kommt gegen den heißen
Asphalt der Straße nicht auf
35 und ist, kaum er es nur
begriff, schon verdunstet.

In: GEDICHTE 1960
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