Datiert: 1957

Die Engelsburg: Kaiser Hadrian spricht (E)

Als ich die Augen auftat in der Kammer, 
bekam ich Angst und begann 
mich durch das Grabmal langsam aufwärts zu tasten. 

Oben richtete ich mir Gemächer, 
05 wo ich in schwerem Brokat ging und, 
voll Lust zur Uebertreibung, eine dreifache Krone trug: 
Die Reste von Bescheidenheit, die
ich im Leben von den Alten noch hatte, 
liess ich jetzt ganz weg, 
10 da mir die Biegung der Seele so wichtig geworden war seither. 

Und nur gelegentlich, zur Entspannung, 
befleissigte ich mich der Sprache und Gestik 
verzückter Fische, 
die einfach, ohne Reflexion, 
15 still schimmernd schwimmen. 

Bis ich mich schliesslich, 
nach all den vielen Versuchen, 
mein Imperium so darzustellen, 
dass keiner, den es ergriff, 
20 sich ihm jemals wieder entziehen könnte: 
entschied für eines der Bilder, 
die lange wirken, auch wenn sie 
den Verdacht der blossen Maskerade auf sich ziehn, 
und trat auf die Zinne: // 09v

25 Die Flügel noch gebreitet vom Herabflug, 
das Schwert der Seuche in die Scheide steckend, 
kurz, in der schönen Pose 
des nach langem Groll versöhnten, 
durch Bitten, Bussasche, Kerzen und Prozessionen endlich
beschwichtigten 
30 und so auf dieser hohen Stelle fromm erinnert festgehaltnen
die Stadt beruhigenden Engels.


Blatt 09r (A-5-d_02_055.jpg)

E Die Engelsburg: Kaiser Hadrian spricht

Als ich die Augen auftat in der finsteren Kammer, 

bekam ich Angst und begann 

mich durch das Grabmal langsam aufwärts zu tasten. 


Oben richtete ich mir Gemächer, 

05 wo ich in schwerem Brokat ging und, 

voll Lust zur Uebertreibung, eine dreifache Krone trug: 

Die Reste von Bescheidenheit, die

ich im Leben von den Alten noch hatte, 

liess ich jetzt ganz weg, 

10 da mir die Biegung der Seele so wichtig geworden war seither.

Und nur gelegentlich, zur Entspannung, 

befleissigte ich mich der Sprache und Gestik 

verzückter Fische, 

die einfach, ohne Reflexion, 

15 still schimmernd schwimmen. 

Bis ich mich schliesslich, 

nach all den vielen Versuchen, 

mein Imperium so verbindlich darzustellen, 

dass keiner, den es je ergriff, 

20 es vergessen und sich ihm jemals wieder entziehen könnte: 

entschied für eines der am längsten wirksamsten Bilder, /

\ die wirken lange wirken,

auch wenn sie /
das am wenigsten den Verdacht der blossen Maskerade

\ auf sich ziehtn

und trat , auf die Zinne: //

Blatt 09v (A-5-d_02_056.jpg)

[ nicht ohne Bedenken wegen des solchem Auftritt

unvermeidlich verbleibenden Anflugs von Pathos

– aber das schien mir das kleinere Uebel –

auf die Zinne: ]

 

25 Die Flügel noch ↔ vom Herabflug ↑gebreitet↑, 

das Schwert der Seuche in die Scheide steckend, 

kurz, in der schönen Pose, der gemeinverständlichen,

des nach langem Groll versöhnten, 

durch Bitten, Bussasche, Kerzen und Prozessionen

\ endlich beschwich/tigten

30 und so auf dieser hohen Stelle fromm erinnert festgehaltnen

die Stadt und alle Welt beruhigenden Engels.

1957

 

  • Besonderes:

    Typoskript mit Bleistiftkorrekturen; Blatt doppelseitig beschrieben

  • Letzter Druck: GEDICHTE 1960
  • Textart: Verse
  • Datierung: Jahresangabe
  • Strophen: ja
  • Schreibzeug: Schreibmaschine
  • Signatur: A-5-d/02
  • Seite / Blatt: 09r/v

Inhalt: 89 Manuskripte und 11 Typoskripte zu 24 Gedichten und 2 szenischen Texten (2 Endfassungen)
Datierung: 27.11.1956 – 31.12.1957
Textträger:114 Einzelblätter (A4-Format); v.a. durchscheinende Makulatur von Gedichttyposkripten und bräunliche Blätter
Umfang: 27 Dossiers, 192 beschriebene Seiten
Publikation: GEDICHTE (10), Verstreutes (2)
Signatur: A-5-d/02 (Schachtel 37)
Herkunft: Mappe EG 57

Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften

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