Donnerstag, 13 Oktober 1955

Die Wespen (C)

Zu lang setzte sich die Wespe auf dem Rand der Kaffeetasse der
Versuchung aus,
als dass sie nicht schliesslich hätte darin umkommen müssen: 
hinabstürzen und wollüstig verzweifelt mit Beinen und Flügeln die 
süsse Nachtagonie umrühren

Die andere Wespe schaut vom Mund der Coca-Colaflasche hinab, 
die ich eben bestellte, 
05 weil ich den Kaffee, worin die sterbende schwimmt, nicht einmal 
ansehen kann, ohne dass Zweifel mich quälen: soll ich sie retten? 
Die andere schaut hinab und wägt im Schicksal der Schwester 
Lockung und Warnung: 

Wie das Flugzeug, das hinten gelb aufhockt dem Motorschiff, 
das unbewegt und blasiert allein im gläsernen Sturm lustfährt, 
noch nicht weiss, ob es in die Sonnenmilch stürzen soll: 
10 sie tropft in die Meerenge herab und füllt sie mit Schaum, 
sodass das Wasser die Klippen heraufflieht und dann schnell mit 
zerschundenen Knien zurücksinkt, Odysseus, 
während die einsame Dame ausharrt und dem Schiff, obwohl es 
sie nicht zu brauchen vorgibt, den Weg durch die Riffe zeigt. // 06

Doch Platon schaut wie immer durch den Kampf im Kaffee und 
durch den andern am Mund der Flasche 
– denn ich sitze direkt am Sklavenmarkt, wo man ihn immer noch 
feilhält – 
15 schaut durch das überhebliche Schiff des attischen Reeders, 
das seine gelbe Wespe über die Sturmmilch davonträgt, 
die reine Idee an und denkt mitten im Feilschen, wenn ihn ein 
Bauer auf seine Muskeln befühlt 
– das Leibhaus ist ihm egal – und ihn dann, misstrauisch wegen 
des Herrenblicks, dem enttäuschten Händler zurücklässt, 
an die Tafelgespräche in Syrakus und an die Nachtspaziergänge 
mit Dion. 

20 Und wenn Amnikeris kommt und ihn einlöst, steigt er willenlos in 
den neuen Rollsroyce 
und sagt nur „wunderbar“, weil ihn der andere mit allen Mienen 
darum bittet. – 
Auch die Wespe im Kaffee bewegt sich nicht mehr, 
ihre Schwester entschied sich fürs lange Leben und flog weg. 
Ich rufe den Kellner zum Zahlen.


Blatt 05 (A-5-c_11_138.jpg)

C Die Wespen

1 Zu lang setzte sich die Wespe der Versuchung auf dem Rand

\ der Kaffeetasse | der Versuchung aus,

als dass sie nicht schliesslich hätte darin umkommen müssen:

und hinabstürzen und wollüstig verzweifelt mit Beinen und Flügeln

die süsse Nachtagonie umrühren
–––––––––

2 Die andere Wespe schaut vom Mund der Coca-Colaflasche hinab, die ich

eben bestellte,

05 weil ich den Kaffee, worin die sterbende schwimmt, nicht trinken und

nicht einmal ansehen kann, ohne dass Zweifel mich

quälen: soll ich sie retten?

Die andere schaut hinab und wägt im Schicksal der Schwester Lockung und

Warnung: 

3 Wie das Flugzeug, das hinten auf dem Motorschiff gelb hockt
Wie das Flugzeug, dashinten gelb hockt auf dem Motorschiff
Wie das Flugzeug, das hinten gelb aufhockt dem Motorschiff,

das unbewegt und blasiert allein den¿ im gläsernen Sturm lustfährt,

noch nicht weiss, ob es in die Sonnenmilch stürzen soll:

10 sie tropft in die Meerenge herab und füllt sie mit Schaum,

sodass das Wasser die Klippen heraufflieht und dann schnell

mit zerschundenen Knien zurücksinkt, Odysseus,

Odysseus, während die einsame Dame ausharrt und dem Schiff,

\ obwohl es sie

nicht zu brauchen vorgibt, den Weg durch die Riffe zeigt. //

Blatt 06 (A-5-c_11_139.jpg)

C Die Wespen 2

Doch Platon hatschaut wie immer durch den
Doch Platon hatschaut auch durch vorbei am Kampf im Kaffee durch den
4 Doch Platon hat kein Auge für den ↔ Kampf im Kaffee und am¿ andern

am Mund der Flasche

– denn ich sitze direkt am Sklavenmarkt, wo man ihn immer noch feilhält –

schaut durch das
15 schaut vorbei am überheblichene Schiff des attischen Reeders,

das seine gelbe Wespe über die Sturmmilch davonträgt,

die reine Idee an und denkt mitten im Feilschen, wenn ihn ein Bauer

auf seine Muskeln befühlt

– das Leibhaus ist ihm egal – und ihn dann, misstrauisch wegen des

Herrenblicks, dem enttäuschten Händler zurücklässt,

an die Tafelgespräche in Syrakus und an die Nachtspaziergänge mit Dion.

 

20 V Und wenn Amnikeris kommt und ihn einlöst, steigt er willenlos in

den neuen Rollsroyce

und sagt nur gezwungen „wunderbar“, weil ihn der andere mit allen

Mienen darum bittet. –

Auch die Wespe im Kaffee bewegt sich nicht mehr,

ihre Schwester entschied sich fürs lange Leben und flog weg.

Ich rufe den Kellner zum Zahlen.

13.10.55

 

  • Besonderes:

    alR Strophennumerierung 1-5
    Verso: Typoskripte (Sebastian Franck, S. 132)

  • Letzter Druck: Die verwandelten Schiffe 1957
  • Textart: Verse
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Strophen: ja
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: A-5-c/11_017
  • Seite / Blatt: 05, 06

Inhalt: 135 Manuskripte und 21 Typoskripte zu 24 Gedichten (keine Endfassung)
Datierung: 14.11.1954 – 21.11.1955
Textträger: 200 Einzelblätter (A4-Format); v.a. durchscheinende Makulatur von Dissertation und Gedichttyposkripten
Umfang: 25 Dossiers, 213 beschriebene Seiten
Publikation: Die verwandelten Schiffe (12 Gedichte), GEDICHTE (1 Gedicht), Verstreutes (2)
Signatur: A-5-c/11 (Schachtel 36)
Herkunft: Nr. 1-15: braune Mappe EG 55 I; Nr. 16-25: rote Mappe EG 55 II

Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften

Weitere Fassungen

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