Donnerstag, 07 April 1955

Für meine Mutter (A)

Du sassest unter den Schwestern im vom 
Tüll gedämpften Plüschdunkel
und schautest hinein auf den Blutstrom 
der mit den vielen schwarzsegligen Schiffen 
05 und den wenigen weisssegligen trieb 
an den Ufern entlang, deren du keins 
zu betreten vermochtest. 

Wenn dir winkte ein düsterer 
Mann und du neugierig hinaus tratst 
10 auf den Steg und er dich nahm an der Hand 
da schriest du, immer ein Kind, „Nein“
und rissest zurück dich aufs Schiff 
und rissest mit dir die Kinder, 
die fahren mit Abstand dir nach 
15 und hören nur noch verhallen die 
Orgeln, die Hymnen, die man bei deiner 
Vorbeifahrt gespielt und gesungen 
an geöffneten Toren. 

Fahren dir nach, 
20 und du liegst im Dunkel, wo man 
schon an deine Kammer 
pocht, nahe dem Ufer des tiefen 
Sees, vor dessen 
Schlamm und blumenlosem // 01v
25 Ufer du dich als kleines Mädchen gefürchtet 
und dich verstecktest hinter 
den Tüll und den grossen 
Flitterbaum an Weihnachten. 
Gefürchtet wieder, als du 
30 den Bruder, wie er hineinging ins seichte 
trübe Wasser, überraschtest, und er dich 
ansah, ertappt auf verbotenem Weg. 

Dein schwarzsegliges Schiff, 
das uns geleitet, fuhr nun 
35 ein in das Haff, uns treibt 
der Strom vorbei, und ist’s so, ists richtig, 
dass man da hinter der Nehrung 
dir nun aufzieht ein neues 
Segel, ein weisses?


Blatt 01r (A-5-c_11_042.jpg)

A Für meine Mutter

Du sassest unter den Schwestern im vom

Tüll gedämpften Plüschdunkel der

und schautest durch hinein auf den Blutstrom

der mit den vielen schwarzsegligen Schiffen

05 und den wenigen weisssegligen flo¿ trieb

an den Ufern entlang, deren du keins

zu betreten vermochtest. 

Du sahst¿ dich selbst flehen¿

Wenn dir winkte ein düsterer

Mann × und dich zog mit der Hand auf den Steg,

da schriest du, immer ein Kind, „Nein“

und rissest zurück dich aufs Schiff

und rissest mit dir die Kinder,

die fahren dir nach mit Abstand dir nach

15 und , wenn hören nur noch verhallen die

Orgeln, die Hymnen, die man bei deinemr

Vorbeifahrt gespielt und gesungen

an geöffneten Toren. 

Fahren dir nach.,

und
20 Aber du liegst im Dunkel, wo man

schon pocht an deine Kammer

pocht, nahe dem Ufer des tiefen

Sees, vor dessen

Schlamm und blumenlosem //

Blatt 01v (A-5-c_11_043.jpg)

25 Ufer du dich schon als kleines Mädchen gefürchtet

und dich verstecktest hinter

den Tüll und den grossen

Flitterbaum an Weihnachten.

Gefürchtet wieder, als du

30 den Bruder, wie er hineinging ins seichte

trübe Wasser, überraschtest, und er dich

ansah, ertappt auf verbotnemenem Weg. 

Dein schwarzsegliges Schiff,

das uns geleitet, fuhr nun

ein in dieas  Haff
35 ein in dieas Lagune, uns treibt

der Strom vorbei, und nun ist’s so, ists richtig,

dass man da|hintenr demr Nehrung

dir nun aufzieht ein neues Segel,

Segel, ein weisses?


× und du ihm neugierig folgtest bis auf mit ihm

hinaus tratst

10 auf den Steg und er dich nahm an der Hand

7.4.55

 

  • Besonderes:

    Blatt beidseitig beschrieben; verso zuerst Typoskript-Titel Die Wirtschaftsseite II / Der Vogelbaum oder die Zehntausend Märtyrer
    Raebers Mutter, Josepha Räber, war am 15.3.1955 gestorben.

  • Letzter Druck: Die verwandelten Schiffe 1957
  • Textart: Verse
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Strophen: ja
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: A-5-c/11_007
  • Seite / Blatt: 01r/v

Inhalt: 135 Manuskripte und 21 Typoskripte zu 24 Gedichten (keine Endfassung)
Datierung: 14.11.1954 – 21.11.1955
Textträger: 200 Einzelblätter (A4-Format); v.a. durchscheinende Makulatur von Dissertation und Gedichttyposkripten
Umfang: 25 Dossiers, 213 beschriebene Seiten
Publikation: Die verwandelten Schiffe (12 Gedichte), GEDICHTE (1 Gedicht), Verstreutes (2)
Signatur: A-5-c/11 (Schachtel 36)
Herkunft: Nr. 1-15: braune Mappe EG 55 I; Nr. 16-25: rote Mappe EG 55 II

Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften

Weitere Fassungen

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