Entstanden: 05. Mai 1955

Unten tief im Brunnen sitzend,
habe ich dich gleich erkannt: 
als du mir, der ängstlich schwitzte, 
ob er nackt und hungrig sitzen 
05 bleiben müsse? warfst herab das Festgewand. 

Unten tief im Brunnen sitzend, 
hab ich dich doch gleich erkannt, 
als du mir mit Seidenlitzen 
und mit Steinen, die im Dunkel plötzlich blitzen, 
10 warfst herab ein Festgewand. 

Soll ich aus dem Schlamm und Sand 
mit dem Festgewand dir steigen? 
Lass mich nur mein Herr und Herrscher 
hier im Brunnen unten bleiben: 
15 Wenn ich aus dem Brunnen stiege, 
dann wie bliebe, das du mir herabgesandt, 
heil und ganz dein Festgewand? 

Wirf mir lieber Brot und Schinken 
in den Grund, wo still ich sitze 
20 und mich freu am seltnen Blinken 
deiner Steine, deiner Seide, 
doch seit Stunden hungrig sitze. // 03v

Unten tief im Brunnen sitzend, 
habe ich dich gleich erkannt: 
25 als du mir, der nackt vor Ängsten schwitzte, 
warfst herab das Festgewand, 
warfst herab dann auch die Speise 
und zuletzt zur Kletterreise 
warfst herab die leichte Leiter; 
30 aber diesen Aufwärtsleiter 
will ich nicht. Nach eigner Weise 
will ich Brunnenherrscher sein. 

Bleib allein im trocknen Land. 
Unten tief im Brunnen sitzend 
35 wink ich dir und lache dir: 
schon am eitlen Festgewand, 
das du mir herabgesandt, 
habe ich dich gleich erkannt.

Infos
  • Details: V. 28 Emendation: (Aufwärts)reise → ganzes Wort getilgt
  • Besonderes: Blatt beidseitig beschrieben; verso: Typoskript-Anfang ("Und wer in den Schlaf sich stürzen will ..."), durchgestrichen
  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Verse
  • Datierung: vollständig
  • Fassung: Zwischenfassung
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: A-5-c/11_008
  • Seite / Blatt: 03r/v