Die Sibylle

Synopse

  • Die Sibylle

    Notizbuch 1957-58 — Entstanden: 20. Juli 1957

    Nur in den ersten Nächten des Frühlings
    singt die Sibylle: die braunen Gebirge
    sind dann für eine Weile
    grün und ihre Stimme erregt
    05die Büsche des Steilhangs zum Blühen.
    Meine Seite bleibt leer,
    das sind nicht Nächte zum Schreiben.
    Aber das ist ein Zwang,
    der meinen Zimmernachbarn
    10hinab in die Hotelbar treibt
    zu den Schnäpsen, den langwimprigen
    Blicken, den schlecht geröteten Lippen.
    Mich treibt die Stimme der Sibylle zum Schreiben. // 045
    Die rauhe uralte. Aber es ist nicht genug,
    15es reicht nicht. Ich laufe zum Tempel,
    sie flieht in die Cella.
    Noch gerade das geblumte
    Kleid erkenn ich. Sie hat sich verborgen.
    Der Mond aber strahlt jetzt erst
    20voll, die Hänge duften verderblich:
    wie verschieden sind doch die Rhythmen:
    die Droge Sibylle wirkt auf sie erst jetzt am stärksten.
    Mich erschrecken schon wieder Ruinen,
    Blüten erinnern an Gräber.
    25Ich laufe hinab zu den Fällen
    des Anio; sie übertönen // 046
    die nun zerkratzte Stimme der Sibylle im Hirn
    und jene Strofe Hölderlins,
    der von weitem nur die Süsse
    30dieser Landschaft erfuhr.
    Für ihn gab es noch dies „vonweitem“,
    Uns bedrängen die alten
    Landschaften der Sehnsucht.
    Sie sind zu leicht erreichbar.
    35Wir sehnen uns nach Osten,
    wo es nicht Tempel, nicht Sibyllen gäbe,
    wo man uns ganz allein mit uns liesse.

  • Die Sibylle (A)

    Manuskripte 1957 — Entstanden: 26. August 1957

    Nur in den ersten Nächten des Frühlings
    singt die Sibylle: erregt 
    die dürren Gebirge zum Grünen. 
    Treibt meinen Nachbarn 
    05in die Hotelbar zu den Schnäpsen, 
    zwischen langwimprigen Blicken [,]
    und schlecht geröteten Lippen. 

    Mich regt sie auf, die rauhe, uralte, 
    sie selber zu suchen: Ich laufe 
    10zum Tempel, sie hat sich in die Cella verborgen. 
    Der Mond aber strahlt jetzt erst 
    voll, die Hänge duften verderblich: 
    die Droge wirkt jetzt erst am stärksten. // 01v
    Mich erschrecken 
    15Ruinen schon wieder, und Blüten so üppig 
    findet man sonst nur auf Gräbern: Ich laufe 
    zu den Fällen des Anio: sie 
    überrauschen nicht die laute 
    Stimme, die aus der Cella 
    20jene sanfteste Strophe 
    Hölderlins unerbittlich 
    heiser und hart in die Nacht schreit.

  • Die Sibylle (B)

    Manuskripte 1957 — Entstanden: 27. August 1957

    Nur in den ersten Nächten des Frühlings
    erregt der Gesang der Sibylle:
    „Wie unter Tiburs Bäumen, 
    wenn da der Dichter sass 
    05und unter Götterträumen 
    der Jahre Flucht vergass …“
    die dürren Gebirge zum Grünen. 
    Treibt den Nachbarn in die Hotelbar 
    zwischen langwimprige Blicke 
    10und schlecht gerötete Lippen zu den Likören. 

    Mich regt sie auf, die rauhe, uralte, 
    sie selber zu suchen: Ich laufe 
    zum Tempel, sie hat sich in die Cella verborgen. 
    Der Mond aber strahlt jetzt erst 
    15voll, die Hänge duften verderblich. 
    Die Droge wirkt jetzt erst am stärksten. 

    Mich erschrecken 
    Ruinen schon wieder, und Blüten // 02v
    findet so üppig man sonst nur auf Gräbern:
    20ich laufe zu den Kaskaden, 
    sie überrauschen nicht die 
    Stimme, die aus der Cella die Strophe: 
    „Wo ihn die Ulme kühlte 
    und wo sie sanft und froh 
    25um Silberblüten spielte 
    die Flut des Anio“
    unerbittlich heiser und schrill in die Nacht schreit.

  • Die Sibylle (C)

    Manuskripte 1957 — Entstanden: 24. November 1957

    Nur in den ersten
    Nächten des Frühlings erregt
    der Gesang der Sibylle: 
    „Wie unter Tiburs Bäumen, 
    05wenn da der Dichter sass 
    und unter Götterträumen 
    der Jahre Flucht vergass …“
    die dürren Gebirge zum Grünen. 

    Treibt den einen in die Hotelbar, die 
    10von langen Wimpern 
    und schlecht geröteten Lippen 
    erhitzten Schnäpse zu trinken. 

    Den andern erregt sie, 
    die rauhe Uralte, 
    15sie selber zu suchen: Er läuft 
    zum Tempel. Sie hat sich // 03v
    in der Cella verborgen. 
    Voll strahlt jetzt erst 
    der Mond, die Hänge 
    20duften, die Droge 
    wäre vielleicht jetzt am stärksten. 

    Doch ihn erschrecken 
    Ruinen schon wieder, und Blüten 
    fand er so üppig sonst nur auf Gräbern. 
    25Und selbst die Kaskaden; sie fallen 
    stumm vor der Stimme, 
    die aus dem Tempel die Strophe: 
    „Wo ihn die Ulme kühlte 
    und wo sie stolz und froh 
    30um Silberblüten spielte,
    die Flut des Anio“
    mechanisch heiser herabschreit.

  • Die Sibylle (D)

    Manuskripte 1957 — Entstanden: 05. Dezember 1957

    Nur in den ersten
    Nächten des Frühlings erregt
    der Gesang der Sibylle: 
    „Wie unter Tiburs Bäumen, 
    05wenn da der Dichter sass 
    und unter Götterträumen 
    der Jahre Flucht vergass …“
    die dürren Gebirge zum Grünen. 

    Treibt den einen in die Hotelbar, die 
    10von Lippenrot heissen 
    Schnäpse zu trinken. 

    Den andern erregt sie, 
    die rauhe Uralte 
    selber im Tempel zu suchen: Sie hat sich 
    15in der Cella verborgen. // 04v
    Und voll 
    strahlt jetzt erst der Mond. Die Hänge 
    dampfen; die Droge 
    wäre jetzt wohl am stärksten. 

    20Doch ihn erschrecken 
    Ruinen schon wieder, und Blüten 
    fand er so üppig sonst nur auf Gräbern. 
    Sogar die Kaskaden, sie fallen 
    stumm vor der Stimme, 
    25die aus der Cella 
    „wo ihn die Ulme kühlte 
    und wo sie stolz und froh 
    um Silberblüten spielte,
    die Flut des Anio“
    30im Wachtraum heiser herabschreit.

  • Die Sibylle

    Typoskripte 1957 — Entstanden: 1957

    Nur in den ersten
    Nächten des Frühlings erregt
    der Gesang der Sibylle:
    "Wie unter Tiburs Bäumen,
    05wenn da der Dichter sass
    und unter Götterträumen
    der Jahre Flucht vergass …"
    die Gebirge zum Grünen.

    Treibt den einen in die Hotelbar, die
    10von Lippenrot heissen
    Schnäpse zu trinken.

    Den andern erregt er,
    die rauhe Uralte
    selber im Tempel zu suchen: Sie hat sich
    15in der Cella verborgen.
    Und voll
    strahlt jetzt erst der Mond. Die Hänge
    dampfen; die Droge
    wäre jetzt wohl am stärksten.

    20Doch ihn erschrecken
    Ruinen schon wieder, und Blüten
    fand er so üppig sonst nur auf Gräbern.
    Sogar die Kaskaden, sie fallen
    stumm vor der Stimme, // 01v
    25die aus der Cella
    "Wo ihn die Ulme kühlte
    und wo sie stolz und froh
    um Silberblüten spielte,
    die Flut des Anio"
    30im Wachtraum heiser herabschreit.

  • Die Sibylle

    Verstreutes — Publiziert: 1958

    Nur in den ersten
    Nächten des Frühlings erregt
    der Gesang der Sibylle:
    »Wie unter Tiburs Bäumen,
    05wenn da der Dichter saß
    und unter Götterträumen
    der Jahre Flucht vergaß …«
    die Gebirge zum Grünen.

    Treibt den einen in die Hotelbar, die
    10von Lippenrot heißen
    Schnäpse zu trinken.

    Den andern erregt er,
    die rauhe Uralte
    selber im Tempel zu suchen: Sie hat sich
    15in der Cella verborgen.
    Und voll
    strahlt jetzt erst der Mond. Die Hänge
    dampfen; die Droge
    wäre jetzt wohl am stärksten.

    20Doch ihn erschrecken
    Ruinen schon wieder, und Blüten
    fand er so üppig sonst nur auf Gräbern.
    Sogar die Kaskaden, sie fallen
    stumm vor der Stimme,
    25die aus der Cella
    »Wo ihn die Ulme kühlte
    und wo sie stolz und froh
    um Silberblüten spielte,
    die Flut des Anio«
    30im Wachtraum heiser herabschreit.

  • DIE SIBYLLE

    GEDICHTE 1960 — Publiziert: 1960

    Nur in den ersten
    Nächten des Frühlings erregt
    der Gesang der Sibylle:
    »Wie unter Tiburs Bäumen,
    05wenn da der Dichter saß
    und unter Götterträumen
    der Jahre Flucht vergaß …«
    die Gebirge zum Grünen.

    Treibt den einen in die Hotelbar, die
    10von Lippenrot heißen
    Schnäpse zu trinken.

    Den andern erregt er,
    die rauhe Uralte
    selber im Tempel zu suchen: Sie hat sich
    15in der Cella verborgen.
    Und voll
    strahlt jetzt erst der Mond. Die Hänge
    dampfen; die Droge
    wäre jetzt wohl am stärksten.

    20Doch ihn erschrecken
    Ruinen schon wieder, und Blüten
    fand er so üppig sonst nur auf Gräbern.
    Sogar die Kaskaden, sie fallen
    stumm vor der Stimme,
    25die aus der Cella
    »Wenn ihn die Ulme kühlte
    und wenn sie stolz und froh
    um Silberblüten spielte,
    die Flut des Anio«
    30im Wachtraum heiser herabschreit.