Der Fisch und der versunkene Poseidon

Synopse

  • Der Fisch

    Notizbuch 1957-58 — Entstanden: 20. Juni 1957

    Die Fischhändlerin leert den Eimer auf die Strasse: Es fällt nicht ins Gewicht gegen den glühenden Asphalt
    und ist schon, bevor es die Strasse begriff, nicht mehr da und verdunstet.

    Seit ich einmal, herumfahrend in meinem
    Wasser, durch meine Kiemen dies stille,
    dies kühle, dies flüssige treibend und ziehend,
    Betrachtung des namenlosen, darin ich 
    05still lebe, das mich dahinträgt.

    Seit ich einmal hinauf stiess, gelockt
    von einer Stelle höheren Glanzes und grösserer Wärme:

    von dort, hiess es, war
    irgendwoher einmal der Meteor,
    10der Fremdstein, die fremde Koralle // 031
    herabgekommen und hatte von den unsern viele getötet.
    Nun liegt sie da, in den Augen Seesterne,
    auf der Brust Polypen:
    Bild eines Hochfischs. Wie verzehrt uns
    15Begier, ihm ähnlich zu werden. …

    Seit ich einmal hinaufstiess in die Richtung,
    wo höherer Glanz und grössere Wärme
    mir den Ort des Eintritts verhiessen:
    fürchte ich mich:
    20denn ich stiess in die Leere. Was
    uns alle umgibt,
    die kühle, die flüssige namenlose Betrachung // 032
    war nicht mehr da:
    Nichts war da und eine unerbittliche Hitze.
    25Mir stockte die Bewegung der Kiemen.
    Die Flossen fanden nicht mehr das Allgemeine,
    dagegen zu fächeln.
    Es war das Ende der Welt.

    Kam der Hochfisch herab von dort?
    30Gehn wir dahin und verlieren 
    Kiemen und Flossen?
    Durch wieviele Tode?

    Nun aber sinkt ein anderer Hochfisch herab,
    weich und faulend, auf den weissen, harten: // 033
    35Sind wir nur noch letzte Söhne des Hochfischs,
    eine Abart, die sich erhielt,
    weil es dort, jenseits, im Leeren, 
    zu leben unmöglich?

    Der Hochfisch war, vielleicht, nur eine Übertreibung.
    40Hier muss man bleiben in der blauen, kühlen Betrachtung
    und die durch Wärme und Glanz verdächtigen Stellen vermeiden.
    Aber ich wohne ab morgen in dem einen noch leeren
    Ohr des harten, in der Welt nun schon heimischen Hochfischs: // 034
    Dort ist die Erinnerung an das, was zu erforschen ich aufgab,
    45eben erträglich und rund 
    umfängt mich die Mahnung vor aller
    Ausschweifung:
    Und täglich sag ich mir zehnmal, am besten
    nachmittags, vor:
    50Nichts gibt es, nichts gibt es ausser hier.
    Dort draussen lebt niemand, dort ist nur die Leere.

  • Der Fisch und der versunkene Poseidon (A)

    Manuskripte 1957 — Entstanden: 23. August 1957

    Die Fischhändlerin leert
    den Eimer aus auf die Strasse; das Wasser 
    kommt nicht auf gegen den heissen Asphalt 
    und ist schon, bevor er es nur 
    05begriff, nicht mehr da und verdunstet. – 

    Der Fisch aber war heute früh, 
    als man ihn fing, 
    mit seinen Gedanken gerade so weit gekommen: 

    „Seit ich einmal hinaufstiess, gelockt 
    10von höherem Glanz und grösserer Wärme 
    (von dort, hiess es, war 
    vor langem der Meteor, der Fremdstein, 
    herabgekommen und hatte viele getötet. 
    Seither liegt er, Seesterne // 01v
    15im Ohr, da, Polypen 
    auf der Brust; das Bild eines Hochfischs. Wie sehr 
    verzehrt uns Begier, ihm ähnlich zu werden …), 

    seit ich einmal hinaufstiess, 
    wo höherer Glanz und grössere Wärme 
    20mir den Ort seines Eintritts verhiessen, 
    fürchte ich mich: Das Kühle 
    das Flüssige, was sich von selber versteht, 
    war nicht mehr da. Mir stockte 
    die Bewegung der Kiemen. Die Flossen 
    25fanden nicht mehr den sanften 
    Wiederstand des Allgemeinen, des Alls 
    sich fächelnd voranzubewegen. … 

    Kam der Hochfisch von dort? 
    Gehn wir dahin und verlieren Kiemen und Flossen? 
    30Durch wieviele Tode? // 02r

    Kürzlich sank ein zweiter, ein kleiner, ein dunkler, ein weicher 
    Hochfisch herab auf den weissen und harten: 
    Eine Abart, schon geschwächt und verringert, 
    weil es dort, jenseits, im Leeren, 
    35zu leben unmöglich? 

    Der Hochfisch war wohl nur eine Übertreibung. 
    Hier muss man bleiben und die durch Wärme und Glanz 
    verdächtigen Höhen vermeiden. 
    Aber wohnen will ich ab morgen 
    40in dem einen noch leeren Ohr des grossen, 
    des schönen Hochfischs. Dort ist die 
    Erinnrung an das, was zu erforschen ich aufgab, noch eben 
    ein Ansporn, besser zu werden und zugleich 
    eine Warnung vor aller Ausschweifung. …“

    45Hier war der Fisch heute früh, gerade bevor man ihn fing. 
    Doch das Wasser, das die Händlerin ausgiesst, 
    kommt gegen den heissen 
    Asphalt der Strasse nicht auf // 02v
    und ist schon, bevor er es nur 
    50begriff, nicht mehr da und verdunstet.

  • Der Fisch und der versunkene Poseidon (B)

    Manuskripte 1957 — Entstanden: 26. November 1957

    Die Fischhändlerin leert
    den Eimer aus auf die Strasse; das Wasser 
    kommt gegen den heissen 
    Asphalt der Strasse nicht auf 
    05und ist schon, bevor er es nur 
    begriff, verdunstet und nicht mehr da. 

    Der Fisch aber war heute früh, 
    als man ihn fing, 
    (mit seinen Gedanken) gerade so weit gekommen: 

    10 „Seit ich einmal hinaufstiess, gelockt 
    von dem helleren Licht und der grösseren Wärme 
    (von dort, heisst es, war 
    vor langem der Riese, der Meteor 
    herabgekommen und hatte viele getötet. // 03v
    15Seither liegt er, Seesterne 
    im Ohr, da, Polypen 
    auf der Brust; das Bild eines Hochfischs. Wie sehr 
    quält mich, dass ich ihm nicht ähnlicher bin … .), 

    seit ich einmal hinaufstiess, 
    20wo helleres Licht und grössere Wärme 
    den Ort seines Eintritts bezeichnen, 
    fürchte ich mich: Das Kühle, 
    das Flüssige, was sich von selber versteht, 
    war nicht mehr da. Mir erstarrten 
    25die Kiemen. Die Flossen 
    fanden nicht wieder den sanften 
    Widerstand des Allgemeinen, des Alls 
    um sich fächelnd voranzubewegen … . 

    Kam der Hochfisch von dort? 
    30Gehn wir dorthin und verlieren Kiemen und Flossen? 
    Durch wieviele Tode? // 04r

    Vor kurzem sank ein kleiner, ein dunkler, ein weicher 
    Hochfisch herab auf den grossen weissen und harten: 
    vielleicht eine Abart, 
    35schon geschwächt und verringert, 
    weil es dort, jenseits, im Leeren, 
    auf die Dauer zu leben unmöglich? 

    Der Hochfisch war eine Übertreibung. 
    Unten muss man bleiben und die durch Wärme und Licht 
    40verdächtigen Höhen vermeiden. 
    Wohnen will ich von morgen 
    ab in dem einen noch leeren 
    Ohr des grossen Hochfischs. Dort ist 
    die Erinnerung an das, was zu erforschen 
    45ich aufgab, noch eben ein Ansporn, 
    besser zu werden, und zugleich eine Warnung // 04v
    vor allem Zuviel. …“

    Hier war der Fisch heute früh, 
    gerade als man ihn fing. 
    50Doch das Wasser, das die Händlerin ausgiesst, 
    kommt gegen den heissen 
    Asphalt der Strasse nicht auf 
    und ist schon, bevor er es nur 
    begriff, verdunstet und nicht mehr da.

  • Der Fisch und der versunkene Poseidon (C)

    Manuskripte 1957 — Entstanden: 01. Dezember 1957

    Die Fischhändlerin leert
    den Eimer aus auf die Strasse: das Wasser 
    kommt nicht auf gegen den heissen 
    Asphalt und ist, kaum 
    05er es nur begriff, schon verdunstet. 

    Der Fisch aber war, 
    als man ihn fing heute früh, 
    gerade so weit gekommen: 
    „Seit ich einmal, von Licht und Wärme 
    10gelockt, dorthin hinaufstiess, 
    von wo vor langem der Riese // 05v
    viele der unsern erschlagend, 
    herabgestürzt war: 
    der Meteor, der seither, Seesterne 
    15im Ohr, auf der Brust 
    Polypen, daliegt, das Bild eines Hochfischs … 

    Seit ich einmal hinaufstiess, 
    fürchte ich mich: Das Kühle 
    war nicht mehr da, mir erstarrten 
    20die Kiemen. Die Flossen 
    fanden keinen Widerstand mehr, 
    sich fächelnd voran zu bewegen … . 

    Kam der Hochfisch von dort, gehn wir 
    alle dorthin und verlieren Kiemen und Flossen? 
    25Durch wieviele Tode? // 06r

    Vor kurzem sank ein kleiner und weicher 
    Hochfisch auf den grossen und harten: 
    eine Abart, schon geschwächt, 
    weil es jenseits im Leeren 
    30auf die Dauer zu leben unmöglich? 

    Der Hochfisch war Übertreibung. 
    Unten muss man bleiben und die 
    durch Wärme und Licht 
    verdächtigen Höhen vermeiden. 
    35Wohnen will ich von morgen 
    an in dem noch freien 
    Ohr des grossen Hochfischs. Dort ist 
    die Erinnerung Ansporn und Warnung zugleich. …“ // 06v

    Hier war der Fisch heute früh, 
    40gerade als man ihn fing. 
    Doch das Wasser, das die Händlerin ausgiesst, 
    kommt gegen den heissen 
    Asphalt der Strasse nicht auf 
    und ist, kaum er es nur 
    45begriff, schon verdunstet.

  • Der Fisch und der versunkene Poseidon (D)

    Manuskripte 1957 — Entstanden: 23. Dezember 1957

    Die Fischhändlerin leert
    den Eimer aus auf die Strasse: das Wasser 
    kommt nicht auf gegen den heissen 
    Asphalt und ist, kaum 
    05er es nur begriff, schon verdunstet. 

    Der Fisch aber war 
    gerade so weit 
    als man ihn fing heute früh: 
    „Seit ich einmal ins Licht
    10und in die Wärme hinaufstiess, 
    von wo vor langem der Hochfisch, der seither, 
    Seesterne im Ohr, auf der Brust 
    Polypen, im Grund liegt, 
    herabgestürzt war: 

    15Seit ich einmal hinaufstiess, 
    fürchte ich mich: Das Kühle 
    war nicht mehr da. Mir erstarrten 
    die Kiemen. Die Flossen 
    fanden nicht Widerstand mehr, 
    20sich voran zu bewegen… 

    Gehn wir alle dorthin und verlieren 
    wie der Hochfisch Kiemen und Flossen?: 
    Nach wievielen Toden? // 07v

    Der Hochfisch war Uebertreibung. 
    25Unten muss man bleiben und die 
    verdächtigen Höhen vermeiden. 
    Wohnen will ich von morgen 
    an in seinem noch freien 
    Ohr, wo die Erinnerung ist
    30Ansporn und Warnung zugleich …“

    Gerade so weit war der Fisch, 
    als man ihn fing, heute früh. 
    Doch das Wasser, das die Händlerin ausgiesst, 
    kommt gegen den heissen 
    35Asphalt der Strasse nicht auf 
    und ist, kaum er es nur 
    begriff, schon verdunstet.

  • Der Fisch und der versunkene Poseidon

    Typoskripte 1957 — Entstanden: 1957

    Die Fischhändlerin leert
    den Eimer aus auf die Strasse: das Wasser
    kommt nicht auf gegen den heissen
    Asphalt und ist, kaum
    05er es nur begriff, schon verdunstet.

    Der Fisch aber war
    gerade so weit,
    als man ihn fing heute früh:
    "Seit ich einmal ins Licht
    10und in die Wärme hinaufstiess,
    von wo vor langem der Hochfisch, der seither,
    Seesterne im Ohr, auf der Brust
    Polypen, im Grund liegt,
    herabgestürzt war:

    15Seit ich einmal hinaufstiess,
    fürchte ich mich: Das Kühle
    war nicht mehr da. Mir erstarrten
    die Kiemen. Die Flossen
    fanden nicht Widerstand mehr,
    20sich voran zu bewegen …

    Gehn wir alle dorthin und verlieren
    wie der Hochfisch Kiemen und Flossen?:
    Nach wievielen Toden? // 01v
    Der Hochfisch war Uebertreibung. Unten
    25muss man bleiben und die
    verdächtigen Höhen vermeiden.
    Wohnen will ich von morgen
    an in seinem noch freien
    Ohr, wo die Erinnerung
    30Ansporn und Warnung zugleich ist … "

    Gerade so weit war der Fisch,
    als man ihn fing heute früh.
    Doch das Wasser, das die Händlerin ausgiesst,
    kommt gegen den heissen
    35Asphalt der Strasse nicht auf
    und ist, kaum er es nur
    begriff, schon verdunstet.

  • Der Fisch und der versunkene Poseidon

    Verstreutes — Publiziert: 1958

    Die Fischhändlerin leert
    den Eimer aus auf die Straße: das Wasser
    kommt nicht auf gegen den heißen
    Asphalt und ist, kaum
    05er es nur begriff, schon verdunstet.

    Der Fisch aber war
    gerade so weit,
    als man ihn fing heute früh:
    »Seit ich einmal ins Licht
    10und in die Wärme hinaufstieß,
    von wo vor langem der Hochfisch, der seither,
    Seesterne im Ohr, auf der Brust
    Polypen, im Grund liegt,
    herabgestürzt war:

    15Seit ich einmal hinaufstieß,
    fürchte ich mich: Das Kühle
    war nicht mehr da. Mir erstarrten
    die Kiemen. Die Flossen
    fanden nicht Widerstand mehr,
    20sich voran zu bewegen …

    Gehn wir alle dorthin und verlieren
    wie der Hochfisch Kiemen und Flossen?:
    Nach wievielen Toden?
    Der Hochfisch war Übertreibung. Unten
    25muß man bleiben und die
    verdächtigen Höhen vermeiden.
    Wohnen will ich von morgen
    an in seinem noch freien
    Ohr, wo die Erinnerung
    30Ansporn und Warnung zugleich ist … «

    Gerade so weit war der Fisch,
    als man ihn fing heute früh.
    Doch das Wasser, das die Händlerin ausgießt,
    kommt gegen den heißen
    35Asphalt der Straße nicht auf
    und ist, kaum er es nur
    begriff, schon verdunstet.

  • DER FISCH UND DER VERSUNKENE POSEIDON

    GEDICHTE 1960 — Publiziert: 1960

    Die Fischhändlerin leert
    den Eimer aus auf die Straße: das Wasser
    kommt nicht auf gegen den heißen
    Asphalt und ist, kaum
    05er es nur begriff, schon verdunstet.

    Der Fisch aber war
    gerade so weit,
    als man ihn fing heute früh:
    »Seit ich einmal ins Licht
    10und in die Wärme hinaufstieß,
    von wo vor langem der Hochfisch, der seither,
    Seesterne im Ohr, auf der Brust
    Polypen, im Grund liegt,
    herabgestürzt war:

    15Seit ich einmal hinaufstieß,
    fürchte ich mich: Das Kühle
    war nicht mehr da. Mir erstarrten
    die Kiemen. Die Flossen
    fanden nicht Widerstand mehr,
    20sich voran zu bewegen …

    Gehn wir alle dorthin und verlieren
    wie der Hochfisch Kiemen und Flossen?
    Der Hochfisch war Übertreibung. Unten
    muß man bleiben und die
    25verdächtigen Höhen vermeiden.
    Wohnen will ich von morgen
    an in seinem noch freien
    Ohr, wo die Erinnerung
    Ansporn und Warnung zugleich ist … « // 013

    30Gerade so weit war der Fisch,
    als man ihn fing heute früh.
    Doch das Wasser, das die Händlerin ausgießt,
    kommt gegen den heißen
    Asphalt der Straße nicht auf
    35und ist, kaum er es nur
    begriff, schon verdunstet.