Synopse

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30.12.1945 * (nicht datiert)    (    )

Genfer Ode. / 1

Als ich des wachen, lauteren Tages Sehnsucht erfahren,
innen glühende, über die Hänge, über die kaum mit
Reben bepflanzten Gärten der Liebe, hob ich mich auf, zu
suchen die heilige Stadt, das für Ostern gereinigte Volk und
05 opfernde Priester im Tempel. Doch öde fand ich die Strassen,
wild überwachsen des Heiligtums Höfe. Da dacht' ich des Wortes,
dass einst komme die Zeit, wo nicht mehr wir beten zum Vater
hier im Tempel und dort auf samaritanischem Berge,
sondern dann wird erscheinen, unversehens und lieblich,
10 still auf Höhen des Geistes, dem selig staunenden Wandrer
duftend entgegen aus Dornen, blaue berauschende Blüte.
Viele vergessen ihn zwar und gehn an ihm achtlos vorüber,
da sie Gewalt nur ergreift. Doch immer bleiben die andern,
lauschend der leiseren Landschaft und nicht der Stürme bedürfend,
15 harrt doch am Wege der Gott, vor dem ins Mark sie erschauern.
Lust ist schon der duftende Tag und wehes Entzücken
nie genügendem Herzen, wenn purpurn und lila die Blumen // 02
flammen und grün und schattig ruhen die sinnenden Bäume.
Sehnsucht, rot geronnen im Mohn, überströmende, süsse,
20 dunkle Erinnrung der Linden: heller leuchten der Ahnen
Schätze, unter die Armen verteilt. Und weiss auf dem Gipfel
steigen die Wolken wie Weihrauch empor; denn auch dort ist nun Tempel.
Freudiger Segel gelassnes Ballett auf schimmernder Bühne:
vor der Szene des Weinbergs wandeln und wehen sie schweigend,
25 längst schon im Tanze geübt, am Fest, im Lächeln des Gottes.
Drüben warten die Trauben auf Glanz und geistige Fülle,
alles wird Wein noch für uns, wird Rausch und innere Leuchte.

In: Typoskripte Hochstrasser
30.12.1945 * (nicht datiert)    (    )

Genfer Ode. / 1

Als ich des wachen, lauteren Tages Sehnsucht erfahren,
innen glühende, über die Hänge, über die kaum mit
Reben bepflanzten Gärten der Liebe, hob ich mich auf, zu
suchen die heilige Stadt, das für Ostern gereinigte Volk und
05 opfernde Priester im Tempel. Doch öde fand ich die Strassen,
wild überwachsen des Heiligtums Höfe. Da dacht' ich des Wortes,
dass einst komme die Zeit, wo nicht mehr wir beten zum Vater
hier im Tempel und dort auf samaritanischem Berge,
sondern dann wird erscheinen, unversehens und lieblich,
10 still auf Höhen des Geistes, dem selig staunenden Wandrer
duftend entgegen aus Dornen, blaue berauschende Blüte.
Viele vergessen ihn zwar und gehn an ihm achtlos vorüber,
da sie Gewalt nur ergreift. Doch immer bleiben die andern,
lauschend der leiseren Landschaft und nicht der Stürme bedürfend,
15 harrt doch am Wege der Gott, vor dem ins Mark sie erschauern.
Lust ist schon der duftende Tag und wehes Entzücken
nie genügendem Herzen, wenn purpurn und lila die Blumen 
flammen und grün und schattig ruhen die sinnenden Bäume.
Sehnsucht, rot geronnen im Mohn, überströmende, süsse,
20 dunkle Erinnrung der Linden: heller leuchten der Ahnen
Schätze, unter die Armen verteilt. Und weiss auf dem Gipfel // 02
steigen die Wolken wie Weihrauch empor; denn auch dort ist nun Tempel.
Freudiger Segel gelassnes Ballett auf schimmernder Bühne:
vor der Szene des Weinbergs wandeln und wehen sie schweigend,
25 längst schon im Tanze geübt, am Fest, im Lächeln des Gottes.
Drüben warten die Trauben auf Glanz und geistige Fülle,
alles wird Wein noch für uns, wird Rausch und innere Leuchte.

In: Typoskripte 1943-46
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