Donnerstag, 16 Dezember 1954

16.12.54

Der Busch, grau, ausgedörrt und doch zugleich in einem unheimlichen Leben wuchernd, der von der dunklen Berglehne zum Meeresufer herabhängt, in seinen Zweigen die fahle Maske, tot-lebendig wie der Busch selber. Am Strand aber schaut Lorcas Engel entsetzt auf seinen von der Spitzenhose eingefassten Schenkel, wo eine schwarze Spinne sich langsam vorwärts bewegt. Und irgendwie die Flügel des Engels furchtbar in den Busch verwirrt. – Das ist so ein Bild, wie es einem einfallen kann, wie sie mir häufig einfallen; und daraus mache ich dann ein Gedicht, und daraus wird ein Gedicht im Augenblick, wo die Sprache von der andern Seite kommt und das Bild in ihren Rhythmus aufnimmt, es ganz einschmilzt und mit ihm zu einer neuen Gestalt gerinnt. Was mir bisher noch nicht gelungen ist: das Gedicht von seinem Kern her so auszufalten, die ruhende Gestalt so in Handlung und Bewegung zu verwandeln, die einzelnen Figuren des Gemäldes so mit // und gegeneinander zu bewegen, dass ein Drama daraus wird. Und es ist mir nicht ganz klar, warum: ob einfach wegen meiner Trägheit, die mich in der notwendigen Konzentration nicht lang genug verharren lässt? Aber lässt sich ein Drama nicht ebenso gut in einzelnen Viertel- und Halbstunden intensivster Sammlung konstruieren wie ein monologisches Gedicht? Oder liegt es einfach an meiner wesentlich undramatischen Natur? An meiner wesentlich undramatischen Art, die Welt zu erfahren, zu sehen, zu verstehen? Aber das hiesse lediglich für die Art Dramen, die ich schreiben müsste und könnte, etwas. Es gibt genug Dramen, die in ihrem Kern nicht „dramatisch” sind, d. h. nicht vom Gegensatz ausgehen, sondern die Übereinstimmung sichtbar machen, oder vom scheinbaren Gegensatz ausgehend, die Übereinstimmung überzeugend sichtbar machen. Und diese Dramen sind nicht die schlechtesten: Goethe, Hofmannsthal, Calderon, vielleicht sogar Shakespeare.

  • Besonderes:

    Vgl. Der Engel im Glashaus (Manuskripte 1954)

  • Textart: Prosanotat
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Tinte
  • Signatur: C-2-a/08
  • Werke / Chronos: Bd.6, 204

Inhalt: Tagebuchauszüge zur Poetik und zu einzelnen Gedichten
Datierung: 1948 – 1991
Umfang: Ausgewählte Textstellen aus ca. 20 Tagebuch-Heften
Signatur: C-2-a/01 …, C-2-c/01 … (Schachtel 77-79)

Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

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