Synopse

(6)
Sonntag, 01 April 1956    (    )

Orpheus im Hafen

Hier ist zwar nichts, 
was zu zeigen nötig wäre,
was man unbedingt sehen müsste.
Nicht wegen Denkmälern gefällt es mir hier,
05 sondern wegen jener Augenblicke,
wo sich ein Ort und eine Stunde so decken,
dass du am Weltrand tiefer bist in Venedig
als selbst am Rialto: 
Auf den Stufen des Herberghügels
das Ohr dem Klang der Sterne geschärft,
10 die über dem Hafen tönen:
aber zu fern doch noch, sodass die Lötlampen
lauter aufsprühen // 087
in den Schiffen, und geschliffen ihr Ton 
im Wasser flackert und wächst. 
Nur klammerst du dich an meinem Arm fest,
aber du sollst dich nicht fürchten,
15 wenn du das weisse Gesicht gross liegen siehst
zwischen den Schiffen, 
mit halboffenem Mund, fast stumm und fast 
schlafend. 
Du sollst dich nicht fürchten,
wenn es eine Woge sogar her schwemmte
in diesen entlegenen Hafen. 
Du magst Städte und Häfen suchen,
wo immer du willst. 
20 Ich glaube, immer fändest dus wieder.
Drum sieh drüber weg // 088
und steige ganz auf den (Herberg)Hügel,
da siehst du alle (bunten) Lichter
im schwarzen Sternwasser schwimmen,
25 und jenes Gesicht, wenn du nur willst,
das ist einfach der Mond, der sich
bescheiden spiegelt im Becken
zwischen leeren ruhenden Schiffen.

In: Notizbuch 1955-57
Dienstag, 19 Februar 1957    (    )

Orpheus im Hafen (A)

Nichts ist hier, was man unbedingt sehen müsste,
nicht wegen Denkmälern gefällt es mir hier,
sondern weil es Stunden gibt,
wo du hier tiefer bist in Venedig als selbst am Rialto:

05 Auf den Stufen des Herberghügels,
das Ohr dem Klang der Sterne geschärft,
die über dem Hafen tönen;
wenn auch zu fern noch, als dass nicht
die Lötlampen in den Schwimmdocks
10 lauter aufsprühten und ihr Ton nicht im Wasser
schnell hinschliffe und wüchse.

Klammre dich nicht an meinem Arm fest.
du sollst dich nicht fürchten,
wenn du das weisse Gesicht gross liegen siehst zwischen den Schiffen
15 mit wehoffenem Mund,
verstummt und fast schlafend. // 01v
Du sollst dich nicht fürchten,
wenn eine geheime
Strömung es sogar in diesen entlegenen Hafen herschwemmte.
20 Städte und Häfen magst immer du suchen,
ich glaube, immer fändest dus wieder.

Drum sieh drüber weg und steige ganz auf den Hügel:
da siehst du alle Lichter im schwarzen
Ölwasser scherzen. Und jenes
25 Gesicht, wenn dus nur willst,
ist einfach der Mond, der sich bescheiden
zwischen leeren, ruhenden Schiffen
spiegelt im Becken. Du sollst dich nicht fürchten.

In: Manuskripte 1957
Freitag, 29 März 1957    (    )

Orpheus im Hafen (B)

Nichts ist hier, was man unbedingt sehen müsste;
nicht wegen Denkmälern gefällt es mir hier,
sondern weil es Stunden gibt,
wo du hier tiefer bist in Venedig als selbst am Rialto:

05 Auf den Stufen des Herberghügels,
das Ohr dem Klang der Sterne geschärft,
die über dem Hafen tönen;
wenn auch zu fern noch, als dass nicht
die Lötlampen in den Schwimmdocks
10 greller aufsprühten, ihr Schrei 
übers Wasser kälter hinschliffe und wüchse.

Klammere dich nicht an meinem Arm fest,
du sollst dich nicht fürchten,
wenn du das grosse Gesicht weiss liegen siehst zwischen den Schiffen, // 03
15 mit offenem Mund,
verstummt und wie schlafend.
Du sollst dich nicht fürchten, weil eine geheime
Strömung es sogar in diesen entlegenen Hafen herschwemmte:
Städte und Häfen magst immer du fliehen,
20 ich glaube, immer fändest dus wieder.

Drum sieh drüber weg und steige ganz auf den Hügel:
von da ist das weisse Gesicht
einfach der Mond, der sich mit Sternen bescheiden
zwischen ruhenden Schiffen spiegelt im Becken: wenn dus nur willst. –
25 Du sollst dich nicht fürchten.

In: Manuskripte 1957
Mittwoch, 17 April 1957    (    )

Orpheus im Hafen (C)

Nichts ist hier,
was man unbedingt gesehen haben müsste;
nicht wegen Denkmälern gefällt es mir hier,
sondern weil es Stunden gibt,
05 wo du hier tiefer in Venedig bist als selbst am Rialto:

Am  Herberghügel,
das Ohr dem Klang der Sterne geschärft,
die über dem Hafen tönen;
wenn auch zu fern, als dass nicht die Schreie
10 der Lötlampen kälter aus den Docks übers Wasser
hinschliffen und wüchsen. // 04v

Klammere dich nicht an meinen Arm,
du sollst dich nicht fürchten,
wenn du das grosse Gesicht weiss liegen siehst zwischen den Schiffen,
15 mit offenem Mund,
verstummt und wie schlafend.
Du sollst dich nicht fürchten, weil eine geheime
Strömung es sogar in diesen entlegenen Hafen herschwemmte 
Städte und Häfen magst immer du fliehen,
20 ich glaube, immer fände dichs wieder.

Drum sieh drüber weg und steige ganz auf den Hügel;
von da ists einfach der Mond,
der bescheiden mit Sternen, wenn dus nur willst,
liegt zwischen den Schiffen im Becken:
25 Du sollst dich nicht fürchten.

In: Manuskripte 1957
Datiert: 1957    (    )

Orpheus im Hafen (D)

Hier ist nichts,
was man unbedingt gesehen haben müsste;
nicht wegen Denkmälern gefällt es mir hier,
sondern weil es Stunden gibt,
05 wo du hier tiefer in Venedig bist als selbst am Rialto:

Am  Herbergshügel,
das Ohr dem Klang der Sterne geschärft,
die über den Hafen tönen –
wenn auch zu fern, als dass nicht die Schreie
10 der Lötlampen kälter aus den Docks übers Wasser
hinschliffen und wüchsen.

Klammere dich nicht an meinen Arm; 
du sollst dich nicht fürchten,
wenn du das grosse Gesicht weiss liegen siehst zwischen den Schiffen,
15 mit offenem Mund,
verstummt und wie schlafend.
Du sollst dich nicht fürchten, weil eine geheime
Strömung es sogar in diesen entlegenen Hafen herschwemmte:
Städte und Häfen magst immer du fliehen,
20 ich glaube, immer fände dichs wieder.

Drum sieh drüber weg, und steige ganz auf den Hügel;
von da ists einfach der Mond,
der bescheiden mit Sternen, wenn dus nur willst, // 05v
liegt zwischen den Schiffen im Becken:
25 Du sollst dich nicht fürchten.

In: Manuskripte 1957
Datiert: 1960    (    )

ORPHEUS IM HAFEN

Hier ist nichts,
was man unbedingt gesehen haben müßte;
nicht Denkmäler wegen gefällt es mir hier;
sondern weil es Stunden gibt,
05 wo du hier tiefer in Venedig bist als selbst am Rialto:

Am Herbergshügel,
das Ohr dem Klang der Sterne geschärft,
die über den Hafen tönen –
wenn auch zu fern, als daß nicht die Schreie
10 der Lötlampen kälter aus den Docks übers Wasser
hinschliffen und wüchsen.

Klammere dich nicht an meinen Arm;
du sollst dich nicht fürchten,
wenn du das große Gesicht weiß liegen siehst zwischen den Schiffen,

15 mit offenem Mund,
verstummt und wie schlafend.
Du sollst dich nicht fürchten, weil eine geheime
Strömung es sogar in diesen entlegenen Hafen herschwemmte:

Städte und Häfen magst immer du fliehen,
20 ich glaube, immer fände dich's wieder.
Drum sieh drüber weg, und steige ganz auf den Hügel;

von da ist's einfach der Mond,
der bescheiden mit Sternen, wenn du's nur willst,
liegt zwischen den Schiffen im Becken:
25 Du sollst dich nicht fürchten.

In: GEDICHTE 1960
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